Beitrag vom 21. Dezember 2007
© 2007 fhi
ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag / Citation:

http://www.forhistiur.de/zitat/0712cordes-lieberwirth.htm

 

Albrecht Cordes

Interview mit Prof. Dr. Rolf Lieberwirth am 12. September 2007 in Halle

 

 

Im hohen Esszimmer der großzügigen Altbauwohnung seines Schülers Heiner Lück trifft Rolf Lieberwirth den Interviewpartner. Der große Holztisch, der bei Bedarf auch Platz für Seminarsitzungen bietet, ist heute die Bühne für eine deutsch-deutsche Begegnung der besonderen Art. Karl Kroeschell, der Lehrer des Fragenstellers, sprach von Rolf Lieberwirth und seinen rechtshistorischen Schülern stets – und nur halb im Scherz – als der letzten Bastion bürgerlicher Rechtsgeschichte. Rolf Lieberwirth weist diese Bezeichnung im Gespräch als übertrieben zurück, wirkt aber trotzdem ein wenig geschmeichelt.

Dass er mit einem Herren im gesegneten Alter von 86 Jahren spricht, vergisst der Gesprächspartner rasch. Rolf Lieberwirth, der die Fragen vorher nicht kannte, aber über die Themen, über die wir diskutierten, offensichtlich schon oft gesprochen hat, ist in bemerkenswerter Weise präsent und gleichzeitig voll Liebenswürdigkeit und Humor. Nach einer Weile ist er so ins Gespräch vertieft, dass er sich im Redefluss auch nicht mehr vom alle dreißig Minuten nötigen Bandwechsel unterbrechen lässt, ebenso wenig wie vom Gastgeber, der hin und wieder aus seinem nebenan gelegenen Arbeitszimmer kommt, um sich neuen Kaffee einzuschütten. Das Gespräch dauerte genau sechs Bandlängen, also drei Stunden.

Es wurde in Frankfurt von Betina Gaedke-Burchard von den Diktierbändern abgeschrieben, von Albrecht Cordes und Andreas Karg behutsam und unter möglichster Bewahrung des Gesprächscharakters bearbeitet und geringfügig um kleine Redundanzen gekürzt. Die überarbeiteten Abschriften wurden dann vor der Veröffentlichung noch einmal von Herrn Lieberwirth gegengelesen und punktuell, vor allem gegen Ende des Gesprächs, ergänzt und präzisiert, wo Herr Lieberwirth den Eindruck hatte, die Fragen noch nicht hinreichend beantwortet zu haben1.


 

Lieber Herr Lieberwirth, vielen Dank, dass Sie heute für das Interview Zeit haben und dass Sie uns hier zur Verfügung stehen. Ich zitiere einleitend aus den Vorgaben der Begründer dieser Reihe, Thomas Duve und Hans-Peter Haferkamp: "Zeitzeugen aus der Generation der Juristen, die den Einschnitt nach 1945 noch selbst miterlebt haben, können wir noch befragen. Wir wollen sie zu Wort kommen lassen, wir möchten versuchen, anhand der Biographie des Einzelnen Schlaglichter auf das zeitgeschichtliche Umfeld zu werfen, Einflüsse auf das Denken und Handeln der Akteure zu erschließen und vielleicht auch einen Teil des Wissens zu sichern, das üblicherweise nicht in den Büchern festgehalten wird". Herr Lieberwirth, Sie haben im Sommer 1945 das Jurastudium hier in Halle begonnen. 1
Ja, die Stadt war damals amerikanisch besetzt. Die Besatzer ließen es zu, dass sich schon sehr früh, im Frühsommer, die Universität wieder aufbauen durfte und auch schon Studienzulassungen aussprechen konnte an Hörer der verschiedensten Fächer. Wobei ein Problem war, dass zu Beginn sehr viele mögliche Hörer noch gar nicht zurück waren. Abgesehen von den vielen, die wir verloren hatten, waren viele noch in Gefangenschaft. Mein persönliches Glück war, dass ich im Lazarett in Halle gewesen war und eine sehr schwere Operation glücklich überstanden hatte. Eine Halsschlagader war operiert worden. Ein aus Breslau geflüchteter Spezialist, Professor Killian, später Chefarzt in Baden-Baden, hatte die OP durchgeführt. Er wurde später nicht mehr von den Kommunisten geduldet, weil er nominelles Parteimitglied gewesen sein soll. Das war unser Anfang. Ich wusste nicht, was ich studieren wollte. Ich bin 1939 im April zum Reichsarbeitsdienst einberufen worden, und während dieser Zeit ging der Krieg los. Im August wurden wir plötzlich Wehrmachtsangehörige mit einer Armbinde, und seitdem hatte ich mir nicht mehr Gedanken darüber machen können: "Was machst du danach?", sondern nur, wie jeder Soldat, darüber: "Kommst du durch?" 2
Und dann sind Sie 1945 ein wenig aus Unsicherheit ins Jurastudium hineingekommen, oder haben Sie vorher etwas anderes studiert? 3
Nein, ich habe praktisch ein Ausschlussverfahren im Inneren vorgenommen. "Was kannst du nicht machen?". Die sechs Jahre, die mir verloren gegangen waren, sind auch ein Verlust an Wissen gewesen. Nun Mediziner werden zu wollen, lag mir, obwohl ich aus einer Umgebung von Medizinern komme, nicht mehr am Herzen. Alle naturwissenschaftlichen Fächer mussten ausfallen, da die Kenntnisse schon zu weit verloren gegangen waren. Daher schaute ich in die geisteswissenschaftlichen Fächer, und da war mir eines klar: Ich wollte kein normaler Lehrer werden. Dass ich dann später doch einer wurde, ist eine andere Frage. Jedenfalls schied die Philologie, im Hinblick auf "Lehrer", völlig aus. Auch an andere Fächer aus diesem Bereich, wie etwa die alte Geschichte oder die alten Sprachen, wagte ich mich wegen des großen Verlustes an Kenntnissen nicht mehr heran. Die Volkswirtschaft war eine Möglichkeit und die Rechtswissenschaft die andere – Theologie wollte ich auch nicht. Da die Juristen und die Ökonomen in einer Fakultät waren, konnte man sich auch von der anderen Seite ein Bild verschaffen, und das hat dann dazu geführt, dass ich letztlich Rechtswissenschaft studiert habe. 4
Und wann ist das Interesse für die Rechtsgeschichte hinzugekommen? 5
Das Interesse war immer schon da. In der Geschichte fühlte ich mich ein bisschen zu Hause. Ich habe mich stets privat weiterinformiert, wenn man so will: weitergebildet, anhand von großen Geschichtswerken. Ich konnte ja als Verwundeter in der Bibliothek Geschichtsbücher ausleihen. Eine gewisse Beziehung zur Geschichte war also da. Das wurde verstärkt, als Frau Schubart-Fikentscher nach Halle kam und bald auch Leitungsfunktionen übernahm. Sie wurde Dekanin, und ich war inzwischen schon zum Fakultätsassistenten ernannt worden. In Parenthese: Ich hatte mich um ein Referendariat bemüht, bekam aber überhaupt keine Antwort. Ich nehme an, weil ich während der sechs Jahre in der Wehrmacht zum Offizier aufgestiegen war. Frau Schubart-Fikentscher übernahm ein schweres Amt, denn die guten Leute unter den Lehrkräften hatten inzwischen ein Alter erreicht, in dem sie nicht mehr weitermachen konnten. Sie wurden emeritiert oder riefen die Emeritierung wieder auf, sofern sie schon vorher emeritiert gewesen waren. Frau Schubart-Fikentscher war plötzlich relativ allein. Da ich schon ein Jahr länger als Assistent an der Fakultät war, bat sie mich dringend zu bleiben, damit ein über die Dinge, die zum "Verwaltungskrieg" gehörten, Informierter da war: "Bitte verlassen Sie mich nicht auch noch!". 6
Das war im Anschluss an das Studium 1950, 1951? 7
Ja. Sonst hätte ich ganz normal als Richter angefangen. Das war meine Vorstellung: "Du wirst Strafrichter oder so". Ich hatte zwar noch keine Auswahl getroffen, aber ich wollte eigentlich in die juristische Praxis. Das war mein Ziel, als das Examen 1949 abgelegt worden war – nicht mit großem Glanz, aber bei den damaligen Verhältnissen, kalte Zimmer, unbeheizte Bibliothek im Winter, schlechte Verpflegungslage, dazu noch die Überwindung der sechsjährigen Pause infolge des Kriegseinsatzes, war man froh, das Examen überhaupt geschafft zu haben. 8
Haben Sie dann im Studium das normale rechtshistorische Pensum bei Frau Schubart-Fikentscher abgeleistet? 9
Das habe ich bei ihr gar nicht aufnehmen können, denn sie kam erst 1948. Da stand ich schon kurz vor dem Staatsexamen. Aber ich habe eine Gastvorlesung von Goerlitz gehört, der sollte an der Fakultät außerordentlicher Professor für Rechtsgeschichte werden. Er hatte noch ein zweites Fach, an das ich mich im Moment aber nicht erinnere. Die Ernennung war schon erfolgt, da bekam er einen Schlaganfall, war halbseitig gelähmt, konnte das Amt nicht antreten und verstarb kurze Zeit später, so dass ein Rechtshistoriker fehlte. Aber er hat einmal eine Vorlesung über den Sachsenspiegel gehalten, und da war ich unter den wenigen Hörern. Es war sehr interessant, aber für uns noch zu fremd. Dass in der Vergangenheit schon eine schriftlich fixierte Regelung auf dem Gebiet des Rechts vorhanden war, war imponierend. Natürlich habe ich auch eine Vorlesung über römische Rechtsgeschichte bei dem 80jährigen Professor Joerges, der mich überhaupt eingestellt hatte, gehört. Auch das war für mich sehr interessant, und ich war immer mit dabei, obwohl wir sehr wenige Interessierte waren. Das lag aber auch an der Zeit. Wir wollten einen Beruf. Rechtsgeschichte war zunächst ein Fach, aber kein Beruf. Dann war ein sehr bekannter Vertreter der mittelalterlichen Geschichte an der philosophischen Fakultät, Martin Lintzel. Der lehrte Rechtsgeschichte, aber auch Geschichte. Unter den vielen Hörern, die Geschichtswissenschaften studierten, wollten viele Lehrer werden. Was war eigentlich mit Geschichte oder Rechtsgeschichte anzufangen? Lintzel war ein hervorragender Lehrer, der leider ein trauriges Schicksal erlitt. Ein paar Jahre später [1955] hat er sich selbst entleibt. 10
Wie hat sich im Studium die kommunistische Machtübernahme bemerkbar gemacht? Ist der Studienplan geändert worden, oder waren das mehr Veränderungen im atmosphärischen Bereich? 11
Nein, wir müssen zunächst 1946 anfangen. Da waren wir eigentlich völlig gemischt. Einige Studenten waren Angehörige der kommunistischen Partei, aus welchen Motiven auch immer. Ob die Eltern in dieser Partei waren oder ob sie glaubten, das ist die richtige Richtung, die für uns später mal wichtig sein könnte? Jedenfalls waren wir einige von der CDU, und ich war in der LDP. Es hieß immer, wer studieren will, muss seine demokratische Einstellung beweisen. Denn wir seien eine durch den Nationalsozialismus verdorbene Generation. So wurden wir ja bezeichnet, eine Generation, die auf alle Zeit verdorben war. Es war also ohnehin fraglich, ob man, wenn man zugelassen worden war, in einen Beruf kam, weil man eben zu dieser Generation gehörte. Und dabei hat diese Generation nach 45 energisch am Aufbau teilgenommen und ist dafür gelobt worden! Die Entwicklung ist also ein wenig schief gewesen. Jedenfalls wusste man nach einiger Zeit: "Das ist ein SPD-Mann, der andere ist Kommunist" usw. Das hat uns nicht gestört. Wenn eine Diskussion stattfand, die ins Politische ging, dann haben wir auch unsere Meinung gesagt – die oft sehr primitiv war. Wir hatten ja überhaupt keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Der Vater eines Kommilitonen war Kurator der Universität und in die kommunistische Partei gegangen. Vor 1933 war er in der SPD gewesen. Es war nicht selten, dass Leute mit solchem Hintergrund, wenn sie noch am Leben waren, dann in führenden Funktionen kamen. Und es störte zunächst gar nicht. Aber wir merkten im Laufe der Zeit bis 1949, dass hier eine Entwicklung im Gange war, die wir in ganz anderer Form schon mal gehabt hatten: Dass eine Partei das Sagen hatte und nun die ganze Entwicklung bestimmte. Das zeichnete sich ab, aber nicht so krass, dass wir alle dann unser Ränzel geschnürt hätten und in den Westen gegangen wären. Dieser Trend, an einer Universität der westlichen Bundesländer zu studieren, der war trotzdem sehr stark. Es war ja noch möglich, über die Grenze zu kommen. Aber das Schicksal der Einzelnen verlief unterschiedlich. Manche kamen als Flüchtlinge aus Schlesien nach Halle. Für sie war es einfacher, erneut zu flüchten, als für diejenigen, die in Mitteldeutschland groß geworden waren. Mir ging es so. Nicht weit vom Lazarett war die Wohnung meiner Eltern. Das war in der damaligen Zeit ein großer Vorteil, denn das Wohnproblem war groß. Ein Student, der aus Bernburg [50 km nördlich von Halle] kam, konnte fahren, aber wenn er weiter entfernt lebte oder seine Familie hatte, hatte er Schwierigkeiten, in Halle ein Zimmer zu bekommen. Mit dem Wenigen, was man durch die Verpflegungskarte – wir waren alle "Karten-Leute" geworden – bekam, war es als Einzelner schwierig durchzukommen. In einer Familie hat sich das verteilt, aber als Einzelner war es sehr schwierig, sich zu verpflegen. Man war zunächst in die schlechteste Gruppe, Gruppe 5, eingestuft. Die Studenten hatten also Schwierigkeiten, für das Leibliche einigermaßen zu sorgen. 12
Und das hätte einen Wechsel schwierig gemacht? 13
Das hätte alles sehr erschwert. Ich hatte das Glück, zweimal zu einem Rechtshistorikertag2 zu kommen, zuerst 1954 nach Hamburg, wo ich Kroeschell kennenlernte. Er war Assistent bei Thieme. Da war ich schon nicht mehr Fakultätsassistent, sondern Assistent am Institut der Staats- und Rechtsgeschichte. So kam ich dorthin, wo ich eigentlich hinwollte, nachdem mir der Weg in das Referendariat versperrt worden war. 14
War das der einzige Rechtshistorikertag? 15
Der nächste war 1956 in Freiburg. Dann war Saarbrücken dran, aber zwischenzeitlich war, glaube ich, auch ein Rechtshistorikertag in Wien. Zu diesen Tagungen durften wir noch fahren. Frau Schubart-Fikentscher hat beim ersten Rechtshistorikertag in Hamburg Verwandte aufsuchen dürfen, dort übernachtet und ist auch in die Verpflegung mit aufgenommen worden. Sie war in der Lage, das so zu organisieren. Sie sagte dann zu mir "Da kommen Sie mit! Und da Sie ja in einem Hotel übernachten müssen, weil Sie keine Verwandten haben, gebe ich Ihnen mein Geld". Auf diese Weise konnte ich mitkommen und habe die Atmosphäre und auch die Größen dort erlebt. Ich wurde an einen Tisch gebeten, an dem bekannte Professoren saßen – Weizsäcker, und auf den anderen komme ich momentan nicht –, und wurde praktisch verhört. Man nahm nämlich an, ich wäre der Aufpasser von Frau Schubart-Fikentscher. 16
Da hat man Ihnen auf den Zahn gefühlt. 17
Aber richtig! Es war so deutlich. Nachtigall ich höre Dich trapsen! (Lachen). Das war ganz deutlich. Als ich dann die Situation schilderte, da war der Fall erledigt. Ich hatte dann nie Probleme, nur insofern, dass ich mit den anderen nicht bekannt war. Ich musste mich erstmal zu den Einzelnen begeben und mich vorstellen. So war das damals üblich; heute sicherlich auch, dass der Assistent sich dem Ordinarius vorstellt als Schüler von dem oder dem. Es hat mich auch nicht weiter gestört. Für Frau Schubart-Fikentscher aber war es schwierig. 18
Warum? 19
Sie war plötzlich Ordinarius. Sie hatte sich als Frau in der Nazi-Zeit nicht habilitieren können. Heymann in Berlin hat sie dazu verführt, bei den Monumenta zu arbeiten, wo sie sehr gut mitgearbeitet hat. Mit kleinen Beiträgen im Deutschen Archiv usw. wurde sie etwas bekannt, aber persönlich kannte man sie nicht. Da lief also eine Frau mittleren Alters von Kollege zu Kollege und man hörte sie "Hach!" sagen. Man hatte schon korrespondiert, aber sie noch nicht kennengelernt. Langsam aber sicher kam das in Gang, und davon profitierte sie. Als ich meinen ersten Vortrag veröffentlicht hatte, den ich zum 225. Todestag von Thomasius gehalten hatte, und einen schönen Stoß [von Sonderdrucken] vor mir liegen hatte, sagte Frau Schubart-Fikentscher: "Jetzt machen Sie das, was alle machen müssen, die anfangen. Sie schicken Sonderdrucke an die Professoren und stellen sich als mein Assistent vor". Das habe ich dann auch getan. Ich war erfahren genug, um so ein Schreiben aufzusetzen. An der Front war ich als Bataillonsadjutant tätig gewesen und hatte immer den ganzen Schriftverkehr gemacht. Ich beherrschte also die Ausdrucksweise, wusste, wie man sich einem Hochgestellten gegenüber zu verhalten hatte. (Lachen). 20
Die Offiziersausbildung als Propädeutikum? 21
Ja, ja. 22
Frau Schubart-Fikentscher war die erste die Ordinaria auf einem deutschen juristischen Lehrstuhl. Können Sie vielleicht ein paar Worte zu ihrer Charakterisierung sagen? 23
Frau Schubart-Fikentscher war eine außerordentlich gründliche Frau. In der wissenschaftlichen Arbeit durfte nichts übersehen, alles musste bewiesen werden. Sie hat eines getan, was ich Gott sei Dank auch fortsetzen durfte: Sie hat uns auf die Quellen hingewiesen und hat gesagt: "Das ist das Wichtigste". Es haben viele darüber geschrieben, aber das sind Meinungen der Späteren, ob sie noch haltbar sind oder neue Gesichtspunkte, das muss überprüft werden. Was für uns heute selbstverständlich ist, wurde uns damals beigebracht, denn es war ein Zug der 50er Jahre. Man zitierte möglichst Marx und Engels, da habe ich mich gut ausgekannt. Ich habe, wenn mir was vorgeworfen wurde, sagen können, das stand schon bei Marx, und dann waren sie verblüfft. Ich habe mich da abgesichert. Er war ja Jurist und hat bei Savigny studiert. Das sind Dinge gewesen, die man beachten musste. Die Funktionäre, die die jungen Leute herangezogen haben, weil sie selber gerade von der Parteischule kamen, haben das oft nicht gewusst, und da konnte ich so manchen einen Blick auf Ihren Marx werfen lassen. 24
D.h. Ihre frühen Schriften sind also streng darauf durchgesehen worden, ob sie den ideologischen Anforderungen entsprachen? 25
Meine Dissertation ist ständig kritisiert worden, weil sie unmarxistisch war. Vor allem von den jungen Dozenten, die in Babelsberg ausgebildet worden waren, selber noch nicht promoviert, geschweige denn habilitiert waren; vom Intellekt aber durchaus in der Lage, wissenschaftlich tätig zu werden und sich zu entwickeln. Die meisten sind auch Professoren geworden, natürlich auch, weil sie in der richtigen Parteilinie standen. Die waren in ihrem Übereifer bemüht, alles, was nicht mit Marx oder Engels bearbeitet wurde, nicht anzuerkennen. Mir hat einer von ihnen gesagt – ich nenne bewusst keinen Namen, er ist mir gegenüber anständig gewesen, wir haben zusammen Fußball gespielt: "Herr Lieberwirth, ich habe ihre Arbeit nicht gelesen, aber so geht es nicht" (Lachen). Da konnte man nur mit dem Knüppel dazwischenhauen. Entschuldigen Sie, wenn ich da ein wenig hemdsärmelig werde, aber das war eine Entwicklung, die für Frau Schubart-Fikentscher als Dekanin sehr, sehr kompliziert war. Denn die fünf neuen Kollegen, die gekommen waren, gehörten zum Lehrkörper und hatten dann die Mehrheit in der engeren Fakultät (so hieß das damals), in dem entscheidenden Organ, und haben sie überstimmt. Sie beschwerte sich beim Rektor, aber der war inzwischen ein Ökonom, der als Marxist auch von den Nazis eingesperrt worden war und jetzt die Stellung nach oben erreichen konnte. Der hat natürlich die jungen Leute, die alle seine Parteigenossen waren, geschützt – nein: Genossen! "Parteigenossen" hieß es ja in der Nazi-Zeit. (Lachen). Das war der große Unterschied. 26
Hat diese Prognose, dass Sie wussten, Dinge würden unter diesem Aspekt hin durchgesehen werden, Sie beim Schreiben beeinflusst? Mussten Sie beim Schreiben auch schon gewisse Erwartungen berücksichtigen? 27
Ich habe mich dann so verhalten: Was beanstandet wurde, habe ich erstmal nachgelesen. Dann habe ich nach Argumenten gesucht, diese Form oder eine abgewandelte Ausführung doch durchzusetzen. Das ist auch das Problem für die jungen Leute gewesen, die ja keine Ahnung von der Rechtsgeschichte hatten. Die wussten nicht, ist das richtig oder falsch, aber es war eben nicht Marx. Ich habe dann also bei diesen beiden Großen [Marx und Engels] überprüft, ob sie irgendwo mal mit ihren Argumenten in diese Richtung gegangen waren und ob ich diese dann auch mitbenutzen konnte. Herr Kroeschell spricht immer von Bastionen [der bürgerlichen Rechtsgeschichte in Halle]. Das ist alles überzogen. Es sind die Zeitverhältnisse gewesen; man musste sich wehren. Unter uns gesagt, hatte ich zu Anfang der 50er Jahre mit meiner Frau und unserer Tochter überlegt "Bleiben wir oder gehen wir?" Es ist eine ganz eigenartige Situation eingetreten. Plötzlich waren keine Schritte mehr über uns in der Wohnung. Da waren die Nachbarn am Abend vorher nach Berlin gefahren und in den Westen gegangen. Und unter uns war plötzlich auch niemand mehr da. "Wir werden ja einsam hier". "Sollen wir bleiben oder nicht bleiben?". "Haben wir überhaupt Chancen?". Beim Rechtshistorikertag in Freiburg habe ich Karl Siegfried Bader als Schweizer angesprochen und ihm gesagt, dass ich vor der schwierigen Situation stehe: Bleiben oder gehen? Und da hat er – das hat mich sehr enttäuscht – eine Formulierung aufgegriffen, die in der DDR üblich war: Dass wir abgeworben würden. "Wir wollen sie doch nicht abwerben!" sagte Bader zu mir. "Ich wüsste auch gar nicht, wie wir das machen könnten und was Sie hier [im Westen] machen sollen!" Ich war nicht habilitiert. Das war das Problem. Eine Habilitation hätte eine Fülle von Marxismus von mir verlangt, und das wollte ich nicht. Später hatte ich das Glück, dass ein übereifriger Doktor des Internationalen Rechts (so will ich mich mal ausdrücken), der an sich Finanzrechtler war, ins Internationale Recht kam. Er wurde vom Außenministerium in fremde Länder geschickt, um Verbindungen aufzunehmen, besonders, nachdem die DDR anerkannt worden war. Aber das ist schon viel zu weit vorgegriffen. Der drängelte immer, dass er endlich Dozent wurde, war aber noch nicht habilitiert. Da sagte der damalige Dekan, auch einer von den jungen Leuten, der Strafrechtler John Lekschas, inzwischen [1999] schon verstorben "Lieberwirth ist dienstälter und kommt zuerst". Er mochte die nassforsche Art des anderen Kollegen nicht und hat das vielleicht auch aus leichter Sympathie mir gegenüber heraus getan. Wir konnten uns gut leiden. Es war nicht dieses, was viele annehmen, Aufeinanderprallen. Wir waren alle Menschen. Wir mussten uns irgendwie verständigen. Wir mussten zusammen Entscheidungen über die Arbeit eines Studenten fällen. Und immer nur im Gegensatz zu sein, wäre für die weitere Entwicklung aller Teile nicht gut gewesen. Die Parteileitung war jedenfalls verwundert, dass ihr Genosse so reagierte. Sie hat sich dann eingeschaltet und gesagt: "Der Lieberwirth hat doch ein Buch geschrieben, dann kann der sich doch damit habilitieren". Das war "Thomasius: Über die Folter" [1960] mit einer langen Einleitung von über 100 Seiten, in der eine Art Geschichte der Folter enthalten war. Es wurde ein Gutachter gesucht. Frau Schubart-Fikentscher zog Professor Joerges hinzu, ausnahmsweise, denn er war emeritiert, und in der DDR durften diese, wenn sie bürgerlich waren, keine Gutachten anfertigen. Nun fehlte ein dritter Gutachter. Die Überraschung war groß: Der Dritte stellte sich selber. Das war der inzwischen neu ernannte und gewählte Rektor Professor Stern, ein Historiker und sehr intelligenter Mann. Aus Wien stammend, war er 1938 in die Sowjetunion gegangen und hatte dort auf dem Gebiet der Staats- und Rechtstheorie habilitiert. Nach dem Krieg war er nach Wien zurückgekehrt und dann einem Ruf nach Halle gefolgt, wo er weit aufstieg. Wie gesagt, er wurde Rektor und war ein sehr angesehener Mann. Er war bemüht die Bürgerlichen in die Wissenschaft mit einzubeziehen im Interesse der Wissenschaft und der Universität. 28
Das war 1967? 29
Die Habilitation war 1961. Es war 2 Tage bevor Gagarin oben die Runde drehte; 2 Tage vor dem ersten Weltraumflug. 30
Ich möchte gerne noch nach zwei Zitaten fragen; einmal die Äußerung von Karl Siegfried Bader. Er hat also gesagt: "Wir wollen Sie nicht abwerben!" und hat damit auch zu verstehen gegeben, dass es gar nicht so leicht wäre, für Sie im Westen eine Stelle zu bekommen? 31
Weil ich nicht habilitiert war. Das war das Hauptargument. 32
Das war dann für Sie auch ein wichtiger Grund nicht in den Westen zu gehen? 33
Es war einer der Gründe. Um diese Zeit war mein Schwiegervater außerordentlich schwer erkrankt. Er lag anderthalb Jahre im Bett und siechte dahin. Das war ein anderer Grund: "Den können wir nicht im Stich lassen". Meine Schwiegermutter wäre allein gewesen. Die hätten wir auch mitnehmen können, aber da war noch ein weiteres Problem: Meine Frau hatte einen jüngeren Bruder, der noch zur Schule ging. Die jetzt im Stich zu lassen, das brachten wir nicht fertig. 34
Und meine Frau und ich waren Hallenser. Meine Eltern waren inzwischen gegangen, weil mein nächster Bruder, der mittlere von uns dreien, schon als Ingenieur rübergegangen war. Nach 1945 hatte er angefangen beim Wiederaufbau der SIEBEl-Flugzeugwerke, die im Norden von Halle ihr Gelände hatten. In einer Nacht wurden fast alle Ingenieure kassiert, um in die Sowjetunion zu kommen und dort ein Flugzeugwerk aufzubauen oder ihre Kenntnisse anzubringen. Das war eine Art Entschädigung für das, was wir in Russland zerstört hatten. Das will ich nicht bewerten. Die Russen haben zweifellos unter der Kriegsführung gelitten. Diese Ingenieure sind 5 Jahre geblieben. Mein Bruder bekam das gerade noch so mit und ist nicht in das Werk reingegangen, sondern gleich auf den Bahnhof und weg! Daraufhin hatten wir ein wenig Probleme mit der Frage, wo denn nun mein Bruder wäre. Aber wir wussten es einfach nicht. Mein Bruder hat dann drüben vorbereitet, dass ein Teil der Familie nachziehen konnte. Mein Vater war schon Rentner und meine Mutter war kurz vor den sechzig. Mein 9 Jahre jüngerer Bruder zog mit. Er hatte in Halle angefangen Jura zu studieren und sich sehr ungeschickt angestellt. Er stimmte mit den politischen Meinungen nicht überein und hat sich das anmerken lassen. Da musste ich fast selber Angst haben, darunter zu leiden, d.h. entlassen zu werden. Auf jeder Sitzung hieß es: "Der Bruder von Lieberwirth usw.". So ist meine Familie nach und nach nach drüben gegangen. Heute ist mein jüngster Bruder auch Rentner. Er war zuletzt Vizepräsident am Finanzgericht in Neustadt an der Weinstraße. Er hatte in Münster normal studiert und nebenbei auch immer Arbeit gesucht. Die Zeiten waren damals kompliziert, aber dadurch, dass die Familie drüben wieder zusammen war, hatte man wieder einen größeren Topf. Meine Frau, meine Tochter und ich blieben als einzige im Osten. Aber unsere Gründe waren schwerwiegend. Wir wollten uns nicht unser Leben lang Vorwürfe machen. 35
Das andere Zitat nachdem ich Sie fragen wollte, ist, dass Herr Kroeschell immer davon spricht, Lieberwirth habe in Halle die letzte Bastion der bürgerlichen Rechtsgeschichte aufrechterhalten. Aber Sie haben da ein wenig abgewunken. 36
Das ist mir ein bisschen zu stark ausgedrückt: "Bastion usw." Frau Schubart-Fikentscher kam mit 50 Jahren ins Ordinariat, weil kurz vorher Schulze in Leipzig, Domherr von Meißen - auch schon emeritiert - zu ihr gesagt hatte: "Frau Schubert, noch schnell die Habilitation, damit Sie gleichberechtigt sind". Es gab sehr viele Professoren in den Anfängen, die nicht habilitiert waren. Man brauchte eben Fachkräfte und hatte da nicht sehr darauf geachtet, ob diese nun den ganz normalen Weg schon durchlaufen hatten. Frau Schubart-Fikentscher wurde in Leipzig Dozentin für Rechtsgeschichte. Professorin konnte sie nicht werden, weil die Professur besetzt war. Und zwar von Thieme, der noch nicht von der Front zurückgekehrt war. Dadurch war die hallesche Fakultätsleitung aufmerksam geworden und nutzte die Chance. Sie haben ihr das Ordinariat in Halle angeboten, weil Leipzig sich nicht entscheiden konnte. Man wartete auf Hans Thieme. Den konnte man nicht vor den Kopf stoßen, obwohl er dann später in Göttingen war (Lachen). Frau Schubart-Fikentscher wurde als Frau mit 60 emeritiert. Sie hat nur 10 Jahre das Amt ausfüllen können. Ich wurde dann von ihr "aufgebaut", wie sie sagte, und durfte von ihr als Nachfolger vorgeschlagen werden. Wenige Wochen nach den Thomasius-Feierlichkeiten – wo ich eine große Ausstellung aufgebaut hatte und Rektor Stern erneut auf mich aufmerksam wurde – kam von den Organisatoren der Wartburgfeste die Bitte, ob ich Teile der Ausstellung nach Eisenach bringen könnte, um sie dort der Bevölkerung zu zeigen. Das musste ich machen. Ich wurde vom Rektor beauftragt. Als ich zurückkam, lag ein Dankesschreiben von ihm vor. Ich wurde ein halbes Jahr später Hochschullehrer und übernahm kurz darauf die kommissarische Leitung des Instituts für Staats- und Rechtsgeschichte. Das klingt alles so groß. Wir waren drei. Damals war noch nicht an einen Heiner Lück oder Bernd Schildt zu denken. Sie kamen erst 20 Jahre später. Die Assistenten sind nicht geblieben, weil sie die Sorge hatten, mit ihrer Doktorarbeit nicht durchzukommen ohne Marxismus, oder nur mit einem leichten oder angedeuteten Marxismus. Viele machten den Fehler, immer nur das, was sie unmittelbar bei Marx brauchten, zu lesen, aber nie die gesamten Werke. Wenn sie diese wenigstens durchgeblättert hätten, wäre so manche Erkenntnis gefunden worden. Es war alles so zusammengeschustert, wenn ich mich mal so ausdrücken soll. Es waren manche gute Gedanken in der Arbeiterbewegung. Wissen ist Macht. Das ist in der Arbeiterbewegung entstanden: Als sie merkten: "Wir könnten ja auch im Parlament sitzen", da lernten sie ihre bürgerlichen Konkurrenten kennen und merkten: "Die haben alle eine andere Ausbildung, da kommen wir nicht mit". Das war ein Grund für die vielen Parteischulen, die auch viele Lehrer heranbildeten, die ihrer Weltanschauung waren. Wir hatten in der DDR genauso viel Lehrer wie in der Bundesrepublik, obwohl die BRD dreimal größer war. 37
Sind Sie mit dieser kleinen Arbeitsgruppe, trotz schönem Titel, in Bedrängnis geraten? Sie haben bei anderer Gelegenheit erzählt, wie Sie sich von Jubiläum zu Jubiläum gehangelt haben. 38
"Gehangelt" ist vielleicht ein wenig hart ausgedrückt. Es war ein Vorteil für die Rechtshistoriker, Spezialisten zu sein. Viele Jubiläen folgten einander. Heute ist es eigentlich genauso. Es wird nur von Jubiläum zu Jubiläum gedacht. Jedes Dorf macht ein Fest usw., 500-Jahresfeiern usw. 39
Wir sprachen über die Jubiläen und über ihre Bedeutung für die Sicherung des Status quo. Ich würde Sie gerne noch nach den Arbeitsbedingungen ansonsten fragen. Ich glaube, die jüngeren Leser können sich nicht vorstellen, wie Sie Tag für Tag gearbeitet haben. Hatten Sie z.B. einen bequemen Zugang zur Literatur, insbesondere zur Westliteratur? 40
Das war ein großes Problem. Wir hatten das Glück, dass die Fakultätsbibliothek im Krieg nicht zerstört wurde. An alter Literatur waren wir recht vollständig. Als Frau Schubart-Fikentscher übernahm, die ja mit einem berühmten Professor verheiratet war, verfügte sie über zwei Professorengehälter. Sie hat die Antiquariate angeschrieben und sehr viel aufkaufen können, was sie erst privat hatte und das dann als Nachlass in die Bibliothek kam. Auch ein Thomasius-Bild, was sie gekauft hat von der Familie von der Goltz in Greifswald. Es ist der Universität vermacht worden unter der Auflage, es im rechtshistorischen Bereich aufzuhängen. 41
Wo hat sie das gekauft, in Greifswald? 42
Ja, es wurde geschickt, aber ich weiß nicht, wie es in die Hände der Familie von der Goltz kam. Die alte Dame hatte keine große Rente und wollte irgendetwas zu Geld machen, um einigermaßen leben zu können. Vielleicht hatte sie überhaupt keine Rente. Sie war wirklich sehr alt, und für eine Frau ihrer Generation war es ja üblich gewesen, nicht mehr zu arbeiten, wenn sie geheiratet hatte. In der DDR war das anders: Wir hatten zu wenige Arbeitskräfte, weshalb die Frauen aufgefordert wurden, zu arbeiten. Jetzt macht man ihnen den Vorwurf, dass sie Rente kriegen. 43
Der Alltag würde mich noch mehr interessieren. Wie war das Verhältnis der Studenten zur Rechtsgeschichte, die ja ideologisch nicht auf der herrschenden Linie lag. 44
Das lag am Studienplan. Der war mein großer Vorteil. Im ersten Studienjahr mussten die Studenten natürlich im Wesentlichen den Marxismus aufnehmen. Von den Philosophen und Ökonomen wurden marxistische Pflichtvorlesungen gehalten. Erst dann ging es los mit der Staats- und Rechtstheorie. Da wurde wieder Marx ausgesogen, um Entsprechendes zu finden, was er zur Rechtstheorie gesagt hatte. Ich habe die jungen Dozenten nicht beneidet. Sie hatten keine Vorbilder. Auch die Sowjetunion war kein Vorbild. Deren Arbeiten setzten nach 1917 ein. Alles Bürgerlich-Rechtliche musste weg! Und nun bauten sie selber alles neu auf, mussten aber auch Gerichtsverhandlungen durchführen. Sie brauchten entsprechende Fachleute. Es gab noch ein paar alte, aber wenn sie nicht weiterwussten, weil keine Gesetze mehr da und die neuen noch nicht gekommen waren, da hat man ihnen solch schwammige Begriffe genannt wie das "marxistische Gewissen", nach dem man urteilen sollte. Damit konnten die in der DDR aber auch nichts anfangen. Es galten noch das BGB und das Strafgesetzbuch. Es war schwierig, und die Studenten merkten die Unsicherheiten auch. Vieles wurde behauptet, um Sicherheit reinzubringen, ob es stimmte oder nicht. Als letztes Fach las man Rechtsgeschichte. Da war ich dann der Vortrupp und gab den Stoff weiter, wie ich ihn von Frau Schubart-Fikentscher gelehrt bekommen hatte. Die Grundrisse hatte ich ja noch Gott sei Dank alle, und ich bekam auch mal was geschickt. Wenn ich einen Zeitabschnitt behandelte, habe ich die allgemeine Situation geschildert, die historische aber auch die ökonomische. Das musste ich reinbringen, was aber kein Fehler war. Es wurde ja auch von Mitteis/Lieberich so gemacht. In Zivilrecht begann ich mit den einzelnen Teilen und schilderte die damalige Situation auch anhand kleiner Beispiele: etwa die Schwierigkeit, dass im Mittelalter überhaupt nur 2% der Menschen lesen und womöglich nicht mal schreiben konnten, dass also vieles mündlich weitergegeben wurde. Da habe ich viele Beispiele reingebracht. Und da war nun für die Studenten endlich Staat und Recht. Ich habe das Recht sehr stark betont. Offiziell galt ja bei uns die umgekehrte Reihenfolge: Der Staat war kein Rechtsgebilde (ich will es mal primitiv ausdrücken), sondern der Staat bestimmte alles. Das Recht war nur ein Machtinstrument im Rahmen des Staates, mit dem man zu arbeiten hatte. Die Vorlesungen waren sehr besucht. Es bestand allerdings auch Zwang, sie zu besuchen (es wurde registriert, wenn jemand gefehlt hatte ohne krank zu sein). Die Studenten wussten nichts. Die verwechselten Karl V. mit Karl dem Großen. Das lag auch an der Schule. Es gab damals noch nicht ausreichend Fachlehrer, die später von den Universitäten kamen. Die Lehrerausbildung kam an die Universität. Vorher gab es eigene Ausbildungsstätten. Ich hatte nie Schwierigkeiten von Seiten der Studenten, weil sie nicht merkten oder merken konnten, was bürgerlich oder marxistisch gedacht war. Das war ein großer Vorteil für mich. Es gab manchmal Kontrollen. Ich hatte mal einen Lehrauftrag in Leipzig, da schickten die jungen Dozenten ihre Assistenten in die Vorlesung (Der Dekan war noch der alte Jacoby). Die wussten, dass laut Programm das Strafrecht im hohen Mittelalter drankommen würde. Da saßen sie dann und schrieben und schrieben und haben ein Pamphlet gemacht, das nicht als Pamphlet gedacht war, sondern als eine Beurteilung meiner Vorlesung. Das wurde dem Dekan übergeben, der daraufhin Frau Schubart-Fikentscher anrief und berichtete, was ich in der Vorlesung gesagt hätte. Frau Schubart-Fikentscher bezweifelte das, worauf Herr Jacoby aufmerksam wurde und mich zu sich berief. Er wiederholte die Vorwürfe und bedauerte, nicht selbst in die Vorlesung gegangen zu sein. Ich sagte ihm, es wäre mir lieber gewesen, als diese Situation jetzt: "Spectabilis, wenn ich dieses wirklich gesagt haben soll, dann müssen Sie mich entlassen, das ist blühender Blödsinn, was hier geschrieben worden ist". "Ja, das weiß ich auch, ich habe eben auch Ahnung von der Rechtsgeschichte". Wir gingen auseinander, und ich konnte die Vorlesung weiterhin halten. Er hat die 30-40 Jahre jüngeren Leute zur Ordnung gerufen. Jacoby hatte einen tüchtigen Prodekan, Heinz Such, der das Wirtschaftsrecht in der DDR aufgebaut hat, gegen die Rechtswissenschaft der Sowjetunion. Die Sowjets kannten das nicht. Für die wurde alles nach Zivilrecht geregelt. Man hatte ja die Ökonomie. Aber langsam merkten sie, dass Wirtschaftsrecht wichtig wurde, woraufhin die anderen Staaten im Ostblock auch anfingen, sich damit zu beschäftigen. Leipzig hat das Wirtschaftsrecht, nach meinem Dafürhalten, wissenschaftlich sehr gründlich und einwandfrei aufgebaut. Such war auch älter als diese jungen Leute. Er sorgte dafür, dass Ruhe einkehrte. Ich habe bis zuletzt, bis kurz vor der Rente, noch Vorlesungen in Leipzig gehalten. 45
Das war mit Sicherheit eine aufregende Situation zum Dekan bestellt zu werden. War das nach Ihrer Einschätzung auch persönlich gefährlich? 46
Nein. Jacoby war gar nicht dazu geeignet – eine Seele von Mensch, sehr väterlich. Er war selbst entsetzt, denn er musste auf Grund des Schreibens eine Entscheidung fällen und als Jurist auch die Gegenseite hören. 47
Was für Sanktionen hätten potentiell im Hintergrund gestanden? 48
Entlassung wäre ohne weiteres möglich gewesen, was auch nicht selten an den Universitäten vorkam. Wer sich zu weit von der marxistischen Linie entfernte, lief Gefahr, entlassen zu werden. 49
Sind Sie noch in andere knifflige oder spannende Situationen geraten? 50
Spannung war in gewisser Hinsicht immer da. Man musste aufpassen, dass man in der Wortwahl nicht zu sehr abfiel. Anpassung fand statt. Nach der Entscheidung zum Bleiben musste ich mich darum kümmern, meine Familie zu ernähren. Meine Frau hatte zwar auch ihren Beruf, aber ich war ja noch nicht so alt, dass ich keinen Beruf mehr ausüben konnte. Es als Anpassung zu bezeichnen, ist vielleicht auch schon zu viel gesagt. Ich war vorsichtig in der Wortwahl. Vom Fach her war ich ein Außenseiter und musste aufpassen, mich nicht zu isolieren. Man musste zusehen, dass man in der Fakultät mitarbeitete. Ich war nie Dekan geworden und ich war nicht in der Partei, aber ich wurde Prodekan, als eine Lücke entstanden war. Ablehnen wäre der falsche Weg gewesen. Man musste wissen, wie man sich zu verhalten hatte. Alles grundsätzlich abzulehnen, wäre ein Fehler gewesen. Ich habe gesagt, das und das kann ich machen, davon verstehe ich was, aber von dem und dem nichts. Dann war es auch gut. Das Gespräch wollten sie haben, dann war eine Absage egal. Mich mit ihnen zu unterhalten und zu prüfen, ob ich das könnte oder nicht, war meine Taktik. Einer meiner Assistenten tat das nicht. Er hatte den Fehler gemacht, zunächst grundsätzlich nein gesagt zu haben, und wurde dann so lange bearbeitet, bis er es doch machte. Danach galt er als der "Neinsager". Das hing ihm immer an. Ob man das im Rückblick positiv einschätzen soll, ist eine andere Frage, aber wenn man keine Wahl hat… 51
Jetzt sprechen wir über Fakultätsämter und Funktionen der Universitäten. Ist das auch mit den Lehrinhalten ähnlich gewesen? Hat man Ihnen da auch gesagt: "Bringen Sie etwas mehr von dem und lassen jenes weg!"? 52
Das Problem war, dass die, die darüber zu urteilen hatten, keine Ahnung von der Rechtsgeschichte hatten. Es gab einen Ordinarius für Strafrecht, Gerichtsverfassung und Strafprozessrecht. Diese Breite, also dass mehrere Fächer unterschiedlichster Art vertreten waren: sowohl Theorie, Rechtgeschichte, -soziologie usw. als auch das geltende Recht, also Verwaltungs-, Zivil- oder Strafrecht, das gab es nicht mehr. Deswegen waren die Dozenten am Anfang nicht in dieser Breite ausgebildet. Später wurde dann die Rechtsgeschichte durch mich gelehrt. Mein Vorteil war, dass die aufsteigenden und mich überholenden Juristen nichts an mir auszusetzen hatten, weil sie es nicht beurteilen konnten. 53
Eine Art Monopolstellung? 54
Das ist richtig. Man duldete diese aber auch: "Was kann der schon groß falsch machen? Lass ihn mal!" Es war ein Pflichtfach, und derjenige, der das Fach vertrat, betrieb Forschung. Die anderen kaum. Ich hätte es auch nicht gewagt, zu einem Gebiet wie Staats- oder Rechtstheorie Lehrbücher zu schreiben. 55
Hatten Sie Kontakt mit Rechtshistorikern der anderen Fakultäten der DDR? 56
Wir müssen unterscheiden. Am Anfang waren alle Rechtshistoriker Bürgerliche. In Jena: Buchda; in Halle: Schubart-Fikentscher; in Berlin: der ehemalige Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern Hans Gotthilf Strasser. Leipzig war nicht besetzt. Wir in Halle hatten den Auftrag, das mit zu übernehmen. Der berüchtigte Polak, eine Art graue Eminenz und Leipziger Staatsrechtsprofessor, hat versucht, das zu hintertreiben. Er wollte uns vor Ort rauskomplimentieren. Frau Schubart-Fikentscher hat da nicht mitgemacht. und Herr Jacoby hat auch diesen Knatsch ausgebügelt. Polak war es auch, der das Referat ausgearbeitet hat, das Ulbricht vor der Babelsberger Konferenz gehalten hat, denn der war ja gar kein Jurist. 10 Nichtgenossen, die da schon zum Lehrkörper zählten, waren auch eingeladen. Ich habe mich noch nie so einsam gefühlt, wie in diesem Haufen von 500 anwesenden Genossen. Wenn der Ulbricht etwas sagte, wurde sofort Beifall geklatscht. "Ja, das müssen wir so machen, usw.". Es wurde ihm immer nach dem Mund geredet. Es war fatal. 57
Wir 10 Nichtgenossen saßen da und guckten uns gegenseitig an und einer traute dem anderem nicht. Jeder dachte, warum ist der denn auch hier? Es war eine furchtbare Situation und warf einen langen Schatten über die gesamte Rechtswissenschaft der DDR bis zum Schluss. 58
Vielleicht können Sie noch ein paar Worte zu der Atmosphäre in Babelsberg sagen? 59
Man wollte gegen den Revisionismus vorgehen. Das große Problem für die Parteileitung war: Ulbricht war an der Spitze mit einer Gruppe von bedingungslosen Anhängern, und es gab eine Gruppe, die ihm gegenüber kritischer war. Seine Gruppe hielt er schön zusammen, und nun ging es daran, die Rechtswissenschaftler zu prüfen: "Sind das Marxisten oder nicht?". Man wollte gegen mögliche revisionistische Ansichten an den Fakultäten vorgehen. Theoretiker taten sich, aus den schon genannten Gründen, mit ihren ersten Veröffentlichungen schwer. Jeder der nicht geschrieben hatte, und nun glaubte, etwas sagen zu müssen, weil er dieselbe Funktion hatte, fing nun an die Schriften der anderen zu zerstückeln. Vor Babelsberg hatte in Leipzig eine Konferenz stattgefunden, die gegen verschiedene Äußerungen von Hermann Klenner in der Festschrift zum roten Oktober – oder so ähnlich – protestiert hatte. 1957, hatte Klenner irgendwelche Formulierungen gebraucht, die Ulbricht nicht passten. Dies gab den Anlass, die Babelsberger Konferenz zu veranstalten Die Kritik der Partei an der Rechtswissenschaft lag vor, aber ein Argument gab es nicht. Wenn ich unzufrieden bin, ist das kein Argument für eine wissenschaftliche Konferenz. Auf einer zuvor in Leipzig abgehaltenen Konferenz war festgestellt worden was "Revisionismus" ist: Revisionismus war ein Kapitalverbrechen im Marxismus und in der Partei. Auf der Basis eines von Ulbricht vorgetragenen und von Polak ausgearbeiteten Vortrags wurde die Babelsberger Konferenz aufgebaut. Die, die in diese Richtung auch gegangen waren, mussten sich rechtfertigen. Das war eine Rumstotterei. Diejenigen, die was geschrieben hatten, wurden gar nicht eingeladen. Die waren schon vorher kaltgestellt worden. "Verwaltungsrecht? Wir haben doch eine Verfassung, unsere Volkskammer und die Gesetzgebung. Wir brauchen doch keine Verwaltung, Genosse Ulbricht!". "Jawohl, Genosse". So ungefähr war es: Seit 1958 gab es bis zum Tode Ulbrichts kein Verwaltungsrecht und auch keine Vorlesung mehr dazu. Das fiel alles unter Staatsrecht. Da wurde Verfassungsrecht behandelt und das Notwendige zur Verwaltung gesagt. Aber das Wort Verwaltung wurde nicht verwendet. Die angegriffen worden waren, mussten sich für ihre Meinung rechtfertigen und bekennen, dass sie große Fehler gemacht hatten. Selbstkritik ist ja ein wichtiges Prinzip gewesen. Dann ging man auseinander, und es wurde an den einzelnen Fakultäten eine Auswertung vorgenommen: In Babelsberg besonders straff, in Halle soll es günstig gewesen sein, im Hinblick auf die Parteilinie. In Jena und Leipzig hatte man so manches auszusetzen gehabt, doch es lief etwas glimpflicher ab. Hinterher wurden Kommissionen im ZK gebildet, die sich über die Rechtswissenschaft informierten: "Was ist neu veröffentlicht worden? Können wir das mit der Parteilinie in Einklang bringen, oder ist die Parteilinie in Einklang gebracht worden?". In diesen Kommissionen saßen fast alle Mitglieder des Politbüros. Für die Fächer des geltenden Rechts war das eine Katastrophe. Niemand traute sich, etwas zu veröffentlichen. Viele fast fertige Dissertationen konnten nicht zu Ende geführt werden, oder man versuchte, die Kurve zu kriegen, indem man sie ein wenig auf Linie brachte. Es kam auch auf die Kommission an. Wenn sie gut zusammengesetzt war und keine starken Anhänger Babelsbergs in ihr waren, kam die Dissertation durch. Oder man musste vom vorne beginnen. Was eine Missachtung der Arbeit der jungen Leute war, die ein schwieriges Thema bearbeitet, Vorschläge unterbreitet hatten. Es war doch in erster Linie eine wissenschaftliche Arbeit, und es wurde entsprechende Literatur verwendet – natürlich in erster Linie die Klassiker des Marxismus und Leninismus. Dazu gehörte lange Zeit auch Stalin. 60
Ich würde gerne noch einen Schritt weitergehen. 1961 wurden Sie habilitiert, später wurde die Mauer gebaut, nach 1961 war es wohl mit den Westkontakten sehr viel schwieriger als zuvor. 61
Man muss unterscheiden. Im Hinblick auf die Rechtsgeschichte wurde es schwierig, weil man darauf achtete, welche Veröffentlichungen man produziert hatte. Ich hatte am HRG mitgearbeitet. Es kamen daher auch Sonderdrucke an die Fakultät. Das ging nicht: Man wollte eine scharfe Trennung von Ost und West auf allen Gebieten, auch bei den Naturwissenschaftlern. Die haben nur mit dem Kopf geschüttelt. Man kam doch gar nicht ohne die Ergebnisse der übrigen Welt aus. Mir wurde gesagt "Sie müssen diese Artikel aufgeben. Sie schreiben das nicht mehr!". Ich habe dann gesagt "Wenn Sie wollen.", und der Fall war erledigt. Ich habe dann weitergeschrieben, es wurde nicht kontrolliert. Hätte ich nein gesagt, dann hätten sie es überprüft. Bis zum Ende habe ich weitergeschrieben. 62
Was wäre gewesen, wenn man gemerkt hätte, dass Sie dem Verbot nicht nachkommen? 63
Dann hätte man sagen können, dass man die Verbindlichkeit schon vor längerer Zeit eingegangen wäre und sich verpflichtet fühle, sie einzuhalten. In der Hinsicht war ich ein wenig Jurist (Lachen). 64
Das hört sich ein wenig an wie beim braven Soldaten Schwejk. 65
Es waren Ausnahmefälle; gut zur Illustrierung. Aber man darf nicht denken, dass es immer so war. Ein Glück für uns Rechtshistoriker damals in der DDR war, dass plötzlich unsere Kollegen aus der Tschechoslowakei und Ungarn Konferenzen durchführten (insbesondere Bratislava und Budapest). Sie waren untereinander befreundet und in ihrer wissenschaftlichen Arbeit sehr erträglich. Sie stellten auch nicht die Anforderung, unbedingt Marx und Engels zitieren zu müssen. Es wurde ein Thema vorgegeben, z.B. Strafrecht der Aufklärung oder so, und die DDR, Polen und Österreich kamen dazu. Bei manchen polnischen Artikeln, hochinteressant und wissenschaftlich einwandfrei, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie begannen damit, man müsse das Thema auf der Basis des Marxismus-Leninismus untersuchen, dann noch ein Satz dazu, Absatz und dann ging es in alter Form weiter. 66
Kann man sagen, sie rechneten damit, der Zensor würde nur den ersten Satz lesen? 67
Ja, so ist es. Es wurde nach der Tagung sofort ein Sammelband veröffentlicht mit den einzelnen Beiträgen. Das ging so schnell, da konnte unmöglich ein Zensor dabei gewesen sein; wenn, dann konnte es nur eine ganz leichte Zensur gegeben haben. Das war ganz deutlich in Ungarn zu spüren. 68
Ist Ihnen über diese Schiene auch etwas von den zeitgenössischen westdeutschen Diskussionen in der Rechtsgeschichte vermittelt worden? Stichworte: Kritik an der germanischen Rechtsgeschichte in den 60er Jahren von Kroeschell und Mitstreitern; in den 70er Jahren die Öffnung zur Sozialgeschichte. 69
Die Öffnung zur Sozialgeschichte habe ich als einziger bemerkt. Dilcher hatte da einen Band herausgegeben. Das war hochinteressant. Etwa 200.000 Siedler sind in die Ostgebiete gekommen, nach Polen, und zwar von dem polnischen Fürsten hereingerufen. Deutsches Recht in Polen wird immer missbraucht, als ob wir es ihnen aufgedrängt hätten. Es wurde alles freiwillig übernommen, weil die verschiedenen Rechtsinstitutionen des deutschen Rechts günstiger waren, für diejenigen, die dorthin als Arbeiter gegangen waren. Für die Genossen unter den Rechtshistorikern der DDR war es ganz interessant, dass man im Westen plötzlich auch an solche Dinge dachte, aber für uns war es selbstverständlich. Die machten ähnliche Untersuchungen. Mit meinen Veröffentlichungen in Polen oder der Tschechoslowakei erregte ich keinen Anstoß. Es war dort erschienen, und damit war der Fall erledigt. Die Zusammenarbeit mit dem Westen begann mit meinem Gelegenheitswerk "Latein im Recht". Das hatte ich für mich selbst geschrieben. Ich wurde hauptsächlich von den Theologen und Theologiehistorikern nach dem Inhalt von Begriffen gefragt, die ihnen aus dem kanonischen Recht nicht bekannt waren. Das habe ich aufbereitet, indem ich Bedeutungen erklärt habe. Ich habe am Anfang den Fehler gemacht, die Listen aus der Hand zu geben, aber keine Durchschrift gemacht. Es war eine Gefälligkeit für die Kollegen. Es kamen später mittelalterliche Historiker dazu, die an den Fachausdrücken scheiterten und mich um Hilfe baten. Bei den Historikern waren viele, die in der Partei waren. Ihr Rektor Stern war der größte Historiker und entsprechender Genosse. Solche Hilfestellung wurde anerkannt. Die Anfragen häuften und wiederholten sich, weshalb ich alles zusammengestellt und aufgeschrieben habe. Das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte war ja noch nicht soweit. Es ging ja erst 1971 los. Auf diese Weise habe ich eine Sammlung zusammengestellt. Die Anerkennung der DDR wurde immer breiter. Dann kam die Aufnahme in die UNO. Jetzt mussten die sich plötzlich, trotz aller neuen Vorschläge, wie man die Rechtswissenschaft lehren dürfe oder solle, orientieren und anpassen. Wir konnten nicht einen Vertrag anerkennen und völkerrechtlich beitreten, ohne zu wissen, was das ist. Deliktsfähigkeit, Rechtsfähigkeit, alle diese Begriffe hatten sie angefangen, umzuformulieren. Die Geschäftsfähigkeit ist eben Handlungsfähigkeit, da haben sie praktisch den Oberbegriff genommen. Die naiven Leute (die glaubten, das sei der Weisheit letzter Schluss) nahmen an, die anderen Staaten der Welt würden sich sofort dieser neuen Linie anschließen. Dass das nicht der Fall war, merkte man dann aber bald, als die Vertreter der DDR sich mit ihren Kollegen aus den anderen Staaten unterhielten. Der juristische Ausdruck wurde von dem einen so und von dem anderen so verstanden. Sie merkten, dass sie in die Bredouille kamen: "Wir müssen uns dem internationalen Trend anpassen". Dies wurde in jedem einzelnen Fach erkannt. Viele von den Dozenten merkten, dass wir das mussten. Sie fühlten sich nun auf dem richtigen Wege. Gerade die jüngeren haben gegen Ende der DDR immer häufiger gegen den Starrsinn der frühen Jahre opponiert. Man müsse flexibler sein, sonst hätte man gar keinen Erfolg, sondern nur Nachteile. 70
Sie haben nicht nur Vorlesungen in der Rechtsgeschichte gehalten, sondern auch im internationalen Privatrecht. Wie kam es dazu, dass Sie beide Fächer vertreten haben? 71
Das war fast ein Zufall. Plötzlich wurde klar, dass man den Studenten das Internationale Privatrecht beibringen musste. Wegen der stärkeren Internationalisierung der DDR war man auf Lücken in der Ausbildung aufmerksam geworden. Dazu kam der persönliche Bereich: Es fanden Eheschließungen statt, z.B. zwischen einem Tschechen und einer DDR-Bürgerin. Da begann man im Ministerium mit Rechtshilfeverträgen und merkte, dass bestimmte Begriffe erläutert werden mussten. Aber nicht jeder Rechtshilfevertrag kann das ganze internationale Privatrecht enthalten. Zivilrechtler wurden hinzugezogen. Es musste aber so viel gelesen werden, dazu noch in großteils unbekannten Fremdsprachen wie Englisch und Französisch, dass durch diese neuen Schranken viele Kandidaten wegfielen, auch wenn man ehrlich bemüht war, sich weiterzubilden. Man trat an mich heran. Ich fühlte mich zwar nicht zuständig, verwies auch auf Völkerrechtler – der, den ich kannte, war Jahrgang 1913, stand demnach kurz vor der Rente –, aber wenn dazu letztlich niemand anders als ich in der Lage war… Ich nahm an und suchte zuerst nach Literatur. Erschienen war auf Deutsch ein IPR-Handbuch in Ungarn. Das war stark marxistisch durchsetzt, behandelte aber die Grundfragen. Ich konnte das Lehrbuch auch als Literatur angeben. Die Stundenten kamen gar nicht an das Buch heran. Ich habe es so verändert, dass die Studenten etwas in die Hand bekamen, insbesondere die höheren Semester, die kurz vor dem Examen standen. Die brauchten das und wollten auch die Vorlesung hören. Ein Vertreter dieses Studienjahrs kam zu mir, ein späterer Professor für gewerblichen Rechtschutz in Dresden, großer FDJ-Führer. Er sagte zu mir: "Herr Professor wir würden das gerne bei ihnen hören, aber lassen sie doch den Schnee am Anfang weg!". Gemeint war die marxistische Einleitung. Ich wusste nicht, ob das eine Falle war oder ehrlich gemeint. Die Studenten hatten es satt, dass jede Vorlesung mit der gleichen marxistischen Einleitung begann, Erst mühselig zu dem eigentlichen Fach vorzudringen und dann möglicherweise gar nicht bis zum Ende zu kommen, wurde als negativ empfunden, obwohl alle überzeugte Marxisten waren. Man brauchte diese Belehrung im letzten Semester nicht mehr. Ich bin daher gleich mitten ins Thema hinein gegangen, aber es gab leider keine aufs Examen vorbereitende Literatur. Im Handdruckverfahren habe ich einzelne Bögen mit Stichwörtern angefertigt. Es klingt rückblickend wie eine Anmaßung, aber ich war eine Art Schöpfer des Internationalen Privatrechts für die DDR. Die Studenten waren sehr glücklich über diese Papiere, von denen nun auch einige Kollegen Exemplare wollten; nicht um zu prüfen, ob es linientreu war, sondern um es für ihre eigene Arbeit einzusetzen. Denn bei eigenen Rechtsfällen konnten sie gefragt werden, wie es um das polnische Recht usw. bestellt sei. Es kamen nun auch hintereinanderweg die Rechtshilfeverträge mit den Nachbarn der DDR. Auch die Leipziger Kollegen baten mich schließlich um die Papiere. Niemand hat jemals etwas gegen sie eingewandt, trotz Abwesenheit jeglicher marxistischen Doktrin. 72
Ich glaube, es ist eine große Freude für Sie, dass zwei Ihrer Schüler heute auf deutschen Ordinariaten sitzen: in Bochum Bernd Schildt und in Halle Ihr Nachfolger Heiner Lück. Sie haben Sie seit den 70er, spätestens seit den 80er Jahren allmählich und kontinuierlich aufgebaut. 73
Es fehlt noch eine Schülerin. Das war die erste: Frau [Lieselotte] Jelowik. Sie hatte den Auftrag, sich in der Rechtsgeschichte mit dem Material vertraut zu machen, damit sie später meine Nachfolgerin werden konnte. 74
Wer gab ihr den Auftrag? 75
Die Partei gab den Auftrag, 1960 schon. Sie war sehr eifrig. Ich war vielleicht ein Schelm! Ich sagte zu ihr: "Wissen Sie, ich habe die Rechtsgeschichte als Jurist kennengelernt und habe keine historische Ausbildung, aber diese Chance hätten Sie, denn Sie fangen erst als Assistentin an. Ich habe es immer als schwierig empfunden, mich mit den mittelalterlichen Quellen vertraut zu machen, die sind nämlich auf Latein – kein klassisches Latein, sondern ein mit vielen unbekannten Fachausdrücken versetztes. Wenn ich Sie jetzt zu einem Kollegen schicke, der Ihnen das beibringen kann, würden Sie das dann machen?" "Selbstverständlich", sagte sie. Sie ging dann zu Blaschka, einem Vertreter der historischen Hilfswissenschaften, aus Prag gekommen, ein hervorragender Kenner des Mittellateins, der die Urkunden wie Wasser las, unscheinbar, klein, aber ein Könner. Sie hörte das und weitere ergänzende Hilfswissenschaften, so dass sie historische Grundlagen erhielt. Sie machte mit, und ich habe sie nicht beneidet. In den Seminaren war sie alleine und kam ständig dran. Sie hat sich gequält, hat es aber durchgestanden. Mir hat es gezeigt, dass sie den echten Willen zur Rechtsgeschichte hatte und nicht nur einem Befehl folgte. Daß sie Marxistin war, war für mich fast verständlich, wenn man ihren Lebenslauf kannte. Ihr Vater war als Kommunist im KZ umgekommen. Die Entwicklung der Familie war damit vorgegeben. Die Mutter war Arbeiterin geworden, um die Kinder durchzubringen, die alle das Abitur gemacht haben. Doch Frau Jelowik machte einen Fehler: Es war ja ein Parteiauftrag, aber der Partei gefiel es nicht, dass wir, die Rechtsgechichte, die Entwicklung von 1917 bis 1945 nur kurz behandelten. Ich machte einen kurzen Abstecher über die Nazizeit hinweg, aber das war auslaufend. Es war zu riskant, mit einem Werturteil aufzutreten, weil in der DDR die Geschichte des Nationalsozialismus ein rotes Tuch war, das nicht behandelt wurde. Man könnte ein falsches Urteil wagen und würde sich dem westlichen Gegner aussetzen. Das war die Argumentation damals. Später hatte ich einen Habilitanden, der sich damit beschäftigt hat, aber er war ein Opfer des Faschismus. 76
Frau Jelowik ist systematisch aufgebaut worden, aber mit Schwerpunkt auf der Rechtsgeschichte der DDR. Schließlich waren schon 10-15 Jahre vergangen, die auch aufgearbeitet werden mussten. Es wurde eine Arbeitsgruppe in Berlin gebildet. Berliner wie Schröder, Kuntschke, Frau Melzer waren federführend. Persönlich hatten wir nie Schwierigkeiten. Wir haben uns gegenseitig anerkannt und waren gut beraten damit. Wenn etwas gegen die Rechtsgeschichte gesagt wurde, konnte ich als Nichtgenosse mit Argumenten nicht dagegen halten. In solchen Fällen setzte sich Schröder ein, der nur 150 Meter zu laufen brauchte, um zum ZK der SED zu gelangen. Mit seiner hemdsärmeligen Art verhandelte er mit den zuständigen Personen. Daraus entstand die Idee der Arbeitsgruppe. Frau Jelowik wurde später dann eingesetzt als Dozentin der Rechtsgeschichte der DDR. Das war nicht ausreichend: Sie hatte auch das Wissen zu den anderen Gebieten und Zeiträumen. Deshalb war es eine negative Bezeichnung. Sie war jedoch verpflichtet, auch auf diesem Gebiet wissenschaftlich zu arbeiten, was ihr schwer fiel. Außerdem wurde ihr vorgeworfen, sie würde zu sehr in die Quellen gehen. Wir galten in Halle als die rechtsgeschichtliche Abteilung, die mit den Quellen arbeitete. "Was soll man mit den alten Quellen?", hieß es. Die echten Rechtshistoriker aber haben uns beneidet, weil wir das machten. Sie merkten, dass das die einzige Methode ist, um zurecht zu kommen. 77
Sie erwähnten 2 Habilitanden, die etwas geworden sind. Frau Jelowik sollte meine Nachfolgerin werden, aber als es dann soweit war, war inzwischen die DDR in der UNO. Jetzt musste das Internationale vertreten werden. Da verschwand plötzlich bei uns die Professur und ging rüber zum Internationalen Recht. Bei uns war nur noch eine Dozentur verblieben. Ich war nicht mehr da und konnte nichts dagegen tun. Sie blieb Dozentin und wurde nie Professorin. Menschlich war das tragisch. 78
Ich hatte noch einen anderen halben Habilitanden: Lingelbach in Jena. Er kam mit Genehmigung seines Doktorvaters Haney und war jemand, der kritisch sein konnte und hochintelligent war. Da gab es nichts zu deuteln. Er hat eine Habil-Arbeit bekommen und wollte sich verbreitern. Wir hielten Sitzungen ab: Lück, Schildt, Lingelbach und Frau Jelowik. Als ich noch nicht emeritiert war, wurde er mir als Forschungsstudent zugewiesen und bekam eine Ausbildung in Rechtsgeschichte. In jeder Pause, die ich benötigt hätte, um mich zu regenerieren, hat er mich mit Fragen überschüttet. Lingelbach fragte intelligent. Ich merkte sofort: Hier ist Qualität. Es herrschte blendendes Einvernehmen zwischen uns, denn er war nicht da, um einen Posten innezuhaben, sondern wirklich um zu lernen. Wenn etwas war - ich war ja sein Zweitgutachter bei seiner Dissertation und Habilitation -, dann kam er zu mir und fühlte sich als mein Schüler. Natürlich hatte Haney die Hauptarbeit mit ihm und hat ihn auch gut geführt. Man sollte sich also hüten, immer schwarz-weiß zu malen. Es ist nicht alles gut oder schlecht gewesen. Es gab soviel Grautöne, welche es für die Beteiligten leichter machten, und Raum für Initiativen ließen. Anwärter kamen oft mit neuen Themen, neuen Fragen. Wer hatte das vorher getan? Das war das angenehme an der Entwicklung. 79
Zunächst kam Schildt als Assistent, der in diese Richtung dachte. Er bewarb sich, und ich nahm ihn sofort. Ein gerader Typ, der in seiner aufrechten Art manchmal den Fehler machte, zu schnell Nein zu sagen. Er begann als Assistent, gab Seminare, schrieb an seiner Dissertation "Die Rechtsregeln für die Bauern". Das Gegenstück war Lück, der nachher das Recht von oben sah, von den Einzelnen aus, den Fürstentümern, den Gerichten. Da wollte ich dann ein bisschen zusammenbauen – eine Überlegung aus der nichts geworden ist, weil sich die Situation veränderte. Beide haben jedenfalls strenge Quellenforschung betrieben, was den anderen Professoren imponiert hat: "Donnerwetter, hier ist etwas aufgebaut worden, auf einer Grundlage, die wir gar nicht so kennen!". Ich habe den Landeshistoriker dazugenommen, Blaschke aus Sachsen, ein ausgesprochener Gegner des Systems. In der Kirche ist er Dechant, Stift Meissen; jedenfalls kirchlich engagiert und stets eine kräftige Meinung vertretend. Wenn er diskutierte, musste man die Luft anhalten: "Hoffentlich kommt jetzt nicht einer von der Stasi und nimmt ihn mit!". Der wurde mit als Gutachter eingebaut und hat beratend mitgewirkt. Er gab Hinweise auf Archive, war sehr im Bilde. Bis heute sind wir in der Sächsischen Akademie zusammen. Er machte mit den Vorschlag, Heiner Lück in die Akademie zu wählen. Lück hat dort gut eingeschlagen. 80
Dann hatte ich noch einen Habilitanden: Felix Ecke. Der kam eines Tages zu mir und meinte, dass er gerne über die Gesetzgebung in der Nazi-Zeit schreiben würde. Er war Halbjude. Sein Vater war Schriftsteller in Österreich, emigrierte dann nach England. Ecke ist bei den Großeltern mütterlicherseits in Eisleben aufgewachsen und hat sich da als Schüler unbeliebt gemacht, weil er die Hitlerreden vor seinen Mitschülern parodiert hat. Natürlich gab es einen, der das weitergab. Bevor die Gestapo kam, floh er nach Wien und hat sich dort bis zum Kriegsende versteckt. Er fing mit uns an, Jura zu studieren, wurde Anwalt, ist aber in der DDR viel bekannter geworden als Schriftsteller mit satyrischen Kurzgeschichten unter dem Pseudonym Ralf Wiener. Seine Geschichten waren sehr beliebt. Ich pflege immer noch guten Kontakt zu ihm. 81
Das Problem war bei ihm damals: Ich musste meine Doktoranden und ihre Themen melden, und plötzlich kam einer mit einem Nazi-Thema. Da holten die Oberen erstmal Luft. Die Parteileitung sagte, man könne das nicht machen. "Aber er ist ein Opfer des Faschismus!". Da ging es höher, bis ins Justizministerium und Hochschulministerium. Da hieß es: "Gucken wir erst mal, was er geschrieben hat.". Da machten wir zunächst nichts, worauf Ruhe eintrat. Ecke schrieb in 2 Jahren eine tadellose Arbeit, wissenschaftlich einwandfrei. Da es Rechtsgeschichte war, war ich zuständig. Es ärgerte aber, dass ich es gemacht hatte. Ich hatte die Ruhe damit gestört. 82
Wann war das? 83
Das war schon in den 80er Jahren. Eckes Dissertation kam durch, er wurde Dr.iur., war stolz, und nach 2 Jahren legte er mir wieder eine Arbeit, diesmal als Habilitand, vor. Er hatte sich mit Genehmigung von Studio Babelsberg jeden Film, der in der Nazi-Zeit gedreht wurde, angesehen. Er hatte untersucht, wie man dem Volk die eingeschlagene Linie schmackhaft gemacht hatte; begründet hatte, warum man gegen die Juden zu sein hatte. "Jud Süß" war ja aus der Zeit und eine Verzerrung des Prozesses gegen Süß-Oppenheimer im 18. Jh. Das hat er hervorragend posamentiert. Unser Dekan, damals Sektionsdirektor genannt, war klug genug, als Zweitgutachter einen Marxisten und Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft der DDR zu suchen. Der schaute sich die Arbeit an und hatte nichts dagegen einzuwenden. Die Arbeit ging durch, obwohl sie auch vor den Baum hätte gehen können. Heute ist er Doktor sc.iur., wie es seit 1969 hieß. 84
Doktor habil. gab es nicht, genauso wie es keine Privatdozenten mehr gab. 85
Ich würde nun gerne auf die Wende zu sprechen kommen. Nach dem Einigungsvertrag sollten die Institutionen, die in den Regierungsaufbau der DDR involviert gewesen waren, abgewickelt werden – bis Ende 1990. 86
Sie wurden überprüft, ob sie abgewickelt werden sollten oder nicht. Die Sektion Rechtswissenschaft oder Staats- und Rechtswissenschaft in Halle gehörte dazu; die Marxisten, die Ökonomen sowieso. Insgesamt waren es vier Fachbereiche. Doch bis dahin war es noch ein Weg. Schon 1988 wurde die Unruhe in der Bevölkerung immer größer. Die Wirtschaft war praktisch am Ende. Durch große Aufrufe wurde wiederholt, wie groß wir sind und was wir alles noch machen wollen. Doch das stand alles nur noch auf dem Papier. Die Praxis sah anders aus. Auch die Universitätsleitung bemerkte das. Man wunderte sich, dass sich nichts änderte, dass keine Maßnahmen ergriffen wurden, um die Situation flott zu bekommen. "Flottbringen" ist schon stark ausgedrückt, denn man wusste nicht, um den Ernst der Lage. Ein Strom von Einzelpersonen und Familien begann, in den Botschaften der BRD in Prag, Warschau, Budapest Asyl zu suchen. Das war ein hartes Signal, das die DDR immer mehr in Verlegenheit brachte, weil die so genannten "Brüderländer" nichts dagegen unternahmen. Es gab zwar halbherzige Wachen, aber die Bürger fanden immer wieder Gelegenheiten, in wenigen Sprüngen über die Zäune zu steigen. Die Versorgung in den Botschaften wurde wegen der Überfüllung immer schwieriger. Uns wurde die Situation nur über das West-Fernsehen bekannt, und das war für viele ein Zeichen, es auch zu versuchen. Das Schlimmste für die DDR-Oberen war im August die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich, bei der die meisten DDR-Bürger in den Westen "abfließen" konnten. 87
Jeweils am 1. September begann im Osten das neue Studienjahr. Eröffnet wurde es mit der so genannten "roten Woche", d.h. es wurden Vorträge gehalten für die alten und die neuen Studenten, in denen der Marxismus und die Zukunft der DDR gepriesen wurden. Auch die Sektion Geschichtswissenschaften übernahm einen Part. Sie arbeitete Texte aus, die in der von der SED geführten Universitätszeitung erschienen. Dort wurden die großen Erfolge geschilderte und was für ein stabiles Gebilde die DDR in Europa und für den Frieden sei. Jeder in der Leitung wusste, dass dem nicht so war. Es bildeten sich Sondergruppen unter den Studenten, die eine Unabhängigkeit von der FDJ anstrebten. Trotzdem hat offiziell keiner die Situation als Anlass gesehen, etwas zu verändern. Es wurde noch alles von oben geleitet. Der normale Studienbetrieb setzte ein. Die Studenten waren jedoch informiert durch das West-Fernsehen, Kommilitonen aus dem Westen schrieben, und die Montags-Demonstrationen in Leipzig begannen. 1988 starteten bereits die Friedensgebete in der Nikolai-Kirche und weiteten sich aus. Die Angst ging um. Große Lkws mit Polizei fuhren in die Nebenstrassen. Man fragte sich, ob es nun zum Zusammenstoß kommen würde. Es kam zu Verhaftungen in Berlin am Marx-Engels-Platz, aber auch hier in Halle. In Leipzig, das ja maßgeblich war, passierte glücklicherweise nichts. Dieser Anlass war groß genug, dass sich die Demonstrationen auf andere Städte ausweiteten. In Halle gab es auch welche. Es traten Redner auf, die die Partei angriffen, insbesondere die Bezirksleitung. Darunter war als Redner einer der marxistischen Staatslehrer, Büchner-Uhder (schon verstorben). Ich hatte nie Probleme mit ihm, auch in der Zeit in der er Dekan und ich Prodekan war. Zusammen mit einem Strafrechtler aus Jena sprach er auf dem Hallmarkt kritisch. Das war an sich mutig, aber der Staatsrechtler kam bei den Studenten nicht an. Sie glaubten ihm nicht und wollten seine angekündigte Vorlesung boykottieren. Das war ein Zeichen, zusammen mit vielen anderen, das von der Fakultät nicht schnell genug erkannt wurde. Man wusste, dass etwas geändert werden musste, aber es blieb im Grunde dasselbe. Dieselben Personen wie bisher blieben und wollten kleinere Reformen machen. Ich wurde in diesem Zusammenhang als Emeritus eingeladen, mich mit Verbesserungsvorschlägen zu beteiligen. Ich habe mir das alles mit angehört, insbesondere auch einen Vorschlag, der mit von Schildt kam. Er meinte, es wäre das Beste, eine Delegation von Hochschullehrern nach Göttingen zu schicken, um uns dort von den Kollegen beraten zu lassen. Das kam ein wenig vorschnell und kam letztlich auch nicht zustande. Hier sah man, dass die jungen Leute angefangen hatten, das Kritische umzuwandeln, im Sinne von "Was kann man verbessern?". Ich hatte den Eindruck, dass Modrow, die ganze Friedensbewegung und auch unsere Kollegen nach einem dritten Weg zwischen Marxismus und Kapitalismus suchten. Das war zum Scheitern verurteilt. Das hätte eine internationale Regelung sein müssen. Jeder hätte mitmachen müssen. Die weitere Entwicklung kam Schritt für Schritt. Man dachte nicht daran, personelle Konsequenzen zu ziehen. In der Zwischenzeit war ich als Emeritus vom Rektor gebeten worden, an einer Adhoc-Kommission mitzumachen, zur Überprüfung von Habilitanden aller Fakultäten, die aus politischen Gründen nicht weitergekommen, also praktisch steckengeblieben waren. Diese sollten bevorzugt beim nächsten "Pair-Schub" eingereicht werden. Als Vertreter der Juristen wurde ich der Vorsitzende, und wir haben jeden Vorschlag überprüft. Es kamen aber nicht nur Meldungen der einzelnen Fakultäten, sondern auch von ehemaligen Hochschullehrern (Emeriti), die von alten Schülern berichteten, die damals nicht weitergekommen waren. Der Kreis wurde immer größer, denn es gab auch welche, die besonders kess waren, die kamen und schlugen sich selbst vor. Berechtigt oder nicht, wir mussten sie prüfen. Man saß zusammen und hat ernsthaft über die Leistungen, Veröffentlichungen nachgedacht. Es waren welche dabei, die nicht habilitiert waren, aber schon lange eine Dozententätigkeit als eine Art Oberassistent ausübten. Sie waren in ihrem Spezialgebiet so gut, dass man sie entsprechend eingesetzt hatte, aber politisch waren sie verdächtig gewesen und daher nicht weiter gefördert worden. Das kam alles auf uns zu. Manche fragten wir, warum sie nicht habilitiert hatten, worauf wir die Antwort bekamen: "Ich wusste schon vorher, dass daraus nichts wird". Es war damals eben eine rein politische Frage, eine Staatsentscheidung gewissermaßen, ob jemand habilitieren durfte oder nicht. Für solche Leute bestand aber immer noch die Hoffnung, dass ein Professor vor seiner Emeritierung verstarb, denn dann griff man auf solche Kandidaten zurück. Die studentischen Genossen reklamierten sofort, wenn eine Stelle vakant war. Während dieser Sitzungen nach der Wende im Ministerium stellte man auch häufig fest, dass es sich bei den Habilitationsprojekten oftmals um wissenschaftlich solide Arbeiten handelte. Dann wurde der Kandidat aufgefordert, die Habilitation schleunigst nachzuholen, um dieselben Chancen wie die anderen auch zu bekommen, d.h. sich um eine Professur oder Dozentur unter den neuen Bedingungen zu bewerben. Diesen Rat haben manche befolgt und haben sehr schnell – weil sie mitten im wissenschaftlichen Problem standen – eine Professur des neuen Rechts bekommen. Es musste aber auch noch geprüft werden, ob die amtierenden Professoren geeignet waren weiterzumachen. Diese Überprüfung erfolgte auch durch Kommissionen, die dann feststellten: "Der hat sich zu weit vorgewagt.", aber die meisten sind sehr fair behandelt worden. Es sind natürlich immer ein paar Übereifrige dabei, die im Hinterkopf die Überlegung haben: "Wenn die Stelle frei wird, hast Du selber eine bessere Chance!". Solche gab es natürlich auch. 88
Der Senat trat zurück, es wurden neue Leitungen gewählt. Der neue Rektor wurde Günther Schilling, der in der Kommission unter mir saß – wenn ich mich so ausdrücken darf (Lachen). Es gab neue, demokratisch gewählte Dekane, die die Grundlage des neuen Senats bildeten. Einige aus der so genannten Initiativgruppe, die sich aus Unzufriedenen und Gegnern des Systems gebildet hatte, unterbreiteten Vorschläge, stellten aber auch viele Forderungen. Der Rektor konnte nicht alles erfüllen, worauf er angeblafft und zum Rücktritt aufgefordert wurde. Er machte nicht mit und wir auch nicht, denn noch galten die Hochschulgesetze der DDR. Diese Gruppe hatte zwar moralische Beweggründe, aber das ging nicht, dass man einen Professor einfach entlassen könnte. Es sind dann einige abgelöst worden, manche sind freiwillig gegangen, insbesondere die ehemaligen Rektoren. Auch Poppe, der an sich sehr beliebt war unter den Studenten, auch weil er wissenschaftlich was geboten hat und auch mal eine Gegenmeinung hörte. Er war fair und hatte eine gute Art mit den Studenten umzugehen. Die Rektoren von Halle, Leipzig, Jena sind zurückgetreten, weil sie das Gefühl hatten zu stören: "Wir haben uns zwar nichts vorzuwerfen, aber wir stören jetzt". Die inzwischen gebildeten Landtage der neuen Länder brachten auch Veränderungen, die sich auf die Arbeit der Universitäten erstreckten. Es kam dann auch zur Überprüfung der Lehrkörper. Dabei sind einige "gegangen" worden. 89
Und dann ist der ganze Fachbereich geschlossen worden. 90
Die Fakultät/Sektion glaubte immer noch, von Innen heraus mit denselben Personen den Wandel durchführen zu können. Man wollte die nötigen Reformen in eigener Regie durchführen. Zum Beispiel wurde vorgeschlagen, den Namen zu ändern: "Wir sind alles Juristen und keine Staatswissenschaftler, wir sind also eine Sektion Rechtswissenschaft.". Der Antrag wurde an den Rektor gestellt. Der aber hatte viel größere Sorgen. Um solche Lächerlichkeiten hat der sich gar nicht gekümmert. Man benannte sich zwar um, das brachte aber keine Reaktion hervor. Dann setzte man sich das Ziel, die Einzelbereiche umzubenennen. Worte wie römisches Recht, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie kamen wieder ins Spiel. Es wurde ein bürgerliches Mäntelchen umgehängt. Ein Institut für Kriminalistik wurde gebildet. Äußerlich sah alles anders aus, aber es waren dieselben Leiter und Dozenten. Ich musste als Dienstältester den Bereich Theorie und Geschichte leiten, obwohl ich von Theorie keine Ahnung hatte. Das fiel nach der Wende alles weg, und die große Sektion Marxismus-Leninismus wurde sofort kaltgestellt. Dort waren einige tüchtige Leute, die in der Masse verlorengingen. Dem einen gelang es doch noch, eine Professur in Münster zu bekommen. Der war als Philosoph anerkannt, zwar ein marxistischer Kenner, aber die gab es im Westen ja auch. Er hatte wohl die Beziehungen vor Ort, um vorgeschlagen zu werden. Im November 1990 war die Neubildung der Sektion in eine Fakultät Rechtswissenschaft vorgesehen. Es sollte eine Feierlichkeit geben usw., was aber vom Rektor und vom Senat nicht genehmigt wurde. Die Enttäuschung war groß. Inzwischen gab es Bestrebungen vom Ministerium, bestimmte Fakultäten zu überprüfen, ob sie abgewickelt werden sollten oder nicht. Unsere Sektion fiel darunter. Für mich war das eigenartig. Ich bin am 1. Dezember 1920 geboren und hatte 1990 meinen 70sten Geburtstag. Der wurde wie üblich vom Lehrkörper und den Studentengruppen begangen. Der Rektor kam zum Haus der Wissenschaft am Mühlweg. Wir saßen zusammen. Es waren Kollegen aus Wien (Brauneder) und der BRD angereist. Viele kannte ich nur von der Literatur oder vom Briefwechsel her, weil ich seit 1961 nicht mehr an den Rechtshistorikertagen hatte teilnehmen dürfen. Wir waren abgeschnitten gewesen. Jedenfalls saßen wir fröhlich zusammen und 3-4 Tage später kommt der Beschluss des Ministeriums: "Abgewickelt!". Und da ging das Theater los. Was bedeutete das für die Lehrkräfte? Erstmal alle abgewickelt. Die Assistenten bekamen drei Monate, die Dozenten und Professoren 6 Monate Zeit, um Gespräche zu führen, ob sie aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistung bleiben konnten. Es wurde die entsprechende Kommission gegründet. Alles wurde unter der Leitung von Herrn Deutsch überprüft: "Wer könnte unter den normalen Verhältnissen in der Bundesrepublik lehren?". Professor Linden (gewerblicher Rechtsschutz) war Anfang der 60er Jahre aus der Praxis gekommen, wo er für das Schreibmaschinenwerk Erfurt als Justiziar tätig gewesen war. Der konnte übernommen worden. Er war aber inzwischen emeritiert. Zumindest hat er die Anerkennung bekommen, ein "normaler" Professor zu sein – unter den damaligen westlichen Gesichtspunkten. Lück und Schildt kamen auch in Frage, sollten sich aber noch um ein zweites Fach bemühen. Das gab es in der DDR und den Ostblockstaaten nicht. Wir hatten nach russischem Vorbild Dozenten für kleinste Fachgebiete und auch die Professuren waren relativ eng gesteckt. 91
Also sind die, die nicht genommen worden sind, Rechtsanwälte geworden. 92
Schildt ist ja dann nach Bochum gekommen, vorher ist er sicherheitshalber in die Rechtsanwaltschaft gegangen. Er hatte um die Zulassung gebeten, die sehr großzügig im Einigungsvertrag gehandhabt wurde. Es wurde praktisch keiner nicht zugelassen. Schön, jetzt waren sie plötzlich Konkurrenten, aber sie waren wieder echte Juristen geworden. Vorher musste so viel an Gesellschaftswissenschaft gemacht werden. Das hing allen zum Halse heraus, auch denen, die Genossen waren. Es begann der Neuaufbau. 93
Der Präsident des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, setzte 1990 eine Arbeitsgruppe "Juristische Fakultäten" ein, die überprüfen sollte, an welchen Universitäten und Hochschulen der DDR günstige Bedingungen für die Errichtung von juristischen Ausbildungsstätten vorhanden sind. Als Mitglieder wurden Hochschullehrer aus der Bundesrepublik, der Schweiz sowie aus dem Osten der Staatssekretär Dr. Pötschke, Potsdam, und ich berufen. Im Ergebnis wurden Juristenfakultäten für Berlin, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig, Potsdam und Rostock empfohlen. Dort wurden dann Gründungskommissionen gebildet. Zuerst haben mich die Rostocker gebeten, in ihrer Kommission mitzuarbeiten, deren traditionsreiche Fakultät 1950 geschlossen worden war. Damals war die Bahnfahrt von Halle nach Rostock jede Woche noch sehr anstrengend. Heute ist das alles schneller und besser gelöst. Dann wurde ich auch in die hallesche Gründungskommission berufen, wofür mir die Rostocker Erfahrungen sehr zu Gute kamen. Als Vertreter des Mittelbaus wurde auch Oberassistent Dr. Heinrich Schwokowski (Staatsrecht) Mitglied der Kommission. Er war nicht in der Partei und konnte eine tadellose Beurteilung vorweisen. Von der Universität wurde ich sogar als Vorsitzender der Kommission vorgeschlagen, was aber vom Ministerium abgelehnt wurde. Der Minister – neu, gerade ins Amt gekommen, also gerade reingerochen – wollte mich nicht haben. Diese Entscheidung war mit Sicherheit richtig und begründet, aber ich war zunächst beleidigt. Die Beziehungen zu den Kollegen im Westen waren jetzt aber wichtiger. Ich wusste ja gar nicht, wer geeignet oder noch frei war, um nach Halle zu kommen. Wen konnte ich da ansprechen und wer ließ sich von mir ansprechen? In der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates saß neben mir Hans-Ludwig Schreiber, später Präsident der Universität Göttingen. Wir verstanden uns gut. Er besuchte auch die hallesche Universität und sorgte als Kuratoriumsvorsitzender der VW-Stiftung dafür, dass die restlos verfallenen Dächer der berühmten Franckeschen Stiftungen mit Hilfe von Stiftungsgeldern sehr schnell wieder dicht gemacht werden konnte. Die VW-Stiftung hat eine Unmenge an Geldern zur Verfügung gestellt. Dadurch war Schreiber oft in Halle. Er wurde vom Minister als Gründungsdekan vorgeschlagen, traut sich zunächst aber nicht, mir das zu sagen. Er hat es dann bei Gelegenheit dezent angebracht. Ich sagte ihm daraufhin: "Wissen Sie, ich kenne den Verein, ich sitze drin. Ich kenne die Verhältnisse und helfe Ihnen gerne. Wenn Sie mich haben wollen, mache ich mit in der Kommission.". Er ging darauf ein, und es hat gut geklappt. Er wurde später abgerufen, um Präsident in Göttingen zu werden. 94
Sie haben dann noch 2 Jahre unterrichtet? 95
Ja, das habe ich auch noch gemacht. Auch in Jena habe ich 2 Semester unterrichtet. Lück und Schildt sind auch eingesetzt worden. Sie haben auch den Rektor juristisch beraten. Diese Lehrtätigkeit hat mir sehr großen Spaß gemacht, auch wenn es anstrengend war. Ich hatte ja keine Assistenten mehr: Lück und Schildt wurden plötzlich zur weiteren Qualifizierung für ein Fachgebiet des geltenden Rechts nach Würzburg bzw. Giessen geschickt. Dort müssen sie sich bewährt haben. 96
Wie war die Lehre im wiedervereinigten Deutschland im Vergleich zu der DDR? Haben sie es genau so gemacht wie vorher? 97
Ja, ich habe es genau so gemacht, ohne irgendwelche Probleme. 98
Und die Reaktion der Studenten war auch ungefähr die gleiche? Kein großer Unterschied zwischen vorher und nachher? 99
Ja, die war die gleiche. Der Hörsaal war nach wie vor voll besetzt. Ich war in der Aula, weil es inzwischen 400 Studenten waren, statt vorher 100. Die Fensterbänke waren voll. Viele saßen auch hinter mir auf dem Podium. Ich fühlte mich am Anfang regelrecht beengt. Und dann bekam man so ein Ding umgehängt, so ein schnurloses Mikrophon an das ich mich aber schnell gewöhnt habe. Durch die Pflichtklausuren musste ich allein durch. Jedes Semester waren 400 Klausuren fällig, die ich ohne Hilfe korrigieren musste. 100
Nachdem Sie beide Systeme kennengelernt haben, würde ich gerne fragen, ob an dem DDR-Hochschulsystem auch irgendwas Erhaltenswertes gewesen ist. Die Nachteile sind offensichtlich. Die Bespitzelung, dass man sich alles von oben absegnen lassen musste. Würden Sie trotzdem sagen, vielleicht hat man sich 1990 zu schnell von der einen oder anderen Struktur getrennt? 101
Wichtig war die Gebührenfreiheit, ferner verhindert der strenge Studienplan die Dauerstudenten, war aber ungünstig für diejenigen, welche ihr Wissen je nach Berufsziel durch Besuch von Lehrveranstaltungen anderer Fachrichtungen verbreitern wollten. Hier wäre mehr Flexibilität angebracht gewesen. Die Bildung von Seminar- oder Studiengruppen mit lockerer Handhabung halte ich ebenfalls für nachahmenswert. 102
Einschneidender als der strukturelle war aber der personelle Umbruch. Jeder musste sich irgendwie von der marxistischen Linie lösen, doch den meisten glaubte man es nicht. Die große Angst, die umging, war ja: "Habe ich bald keinen Beruf mehr?" Das musste geklärt werden. Die Helfer aus Göttingen, die bei Juristen die Evaluierung vornahmen, waren sehr eifrig und sehr korrekt. Sie hatten ebenfalls die Sorge, was mit denen passieren sollte, die nicht übernommen werden konnten. Gott sei Dank gab es die glückliche Regelung im Einigungsvertrag, dass man immer noch in die Anwaltschaft gehen konnte. Und jetzt wurden sie wieder echte Juristen: denn die vielen anderen Nebenarbeiten, die auf Hochschullehrer früher zukamen, fielen weg: Ernteeinsatz, militärische Ausbildung für die Reservisten und Zivilverteidigung für die übrigen usw. 103
Die günstige Regelung mit der Anwaltschaft hatten die anderen Abgewickelten der Universität nicht. Auch dort wurden Kommissionen gebildet, welche den Lehrkörper evaluieren sollten. Allerdings war die Zusammensetzung der Kommissionen eine andere. Während die Evaluierungskommission für die Juristen im wesentlichen von bundesdeutschen Hochschullehrern besetzt war, welche eine strenge wissenschaftliche Qualifizierung, aber keine politische Bewertung vornahmen, waren die anderen Kommissionen überwiegend mit ostdeutschen Mitgliedern besetzt, von denen viele damals politisch stark emotional geladen waren, was der Objektivität geschadet hat. 104
Die Abschaffung der Gesellschaftswissenschaften als Institution war selbstverständlich, aber es gab einige, die echte Wissenschaftler waren, sowohl bei den Ökonomen als auch bei den Philosophen. Diese versuchten, ihre Erkenntnisse auf marxistischer Weltanschauung vorzubringen. Sie wurden sogar zu Vorträgen ins kapitalistische Ausland eingeladen. Mit denen hätten sich die Kommissionen gründlicher befassen sollen. Sicherlich leichter gesagt als getan. 105

Es hat freilich auch Vertreter der Gesellschaftswissenschaften gegeben, die echte Wissenschaftler waren und versuchten, das auf marxistischer Weltanschauung vorzubringen. Sie saßen in den Seminaren und hörten sich auch Gegenmeinungen an. Die Studenten konnten auch Gegenmeinungen äußern. Sie durften nur nicht überziehen. Wenn man eine geschickte Formulierung fand, um eine kritische Frage zu stellen, hat niemand etwas dagegen gehabt. Natürlich wussten die: "Aha, das ist einer, der nicht ganz dicht ist!", aber sie haben es nicht gleich an die große Glocke gehängt. Auch bei Lehrgängen die wir mitmachen mussten, konnten wir alles sagen. Es wurde sachlich diskutiert und es wurden vernünftige Überlegungen angestellt. Das hat uns imponiert. Wir haben nicht mit Schweigen reagiert, sondern fühlten uns animiert und haben Fragen gestellt. Auch im Hinblick auf den Marxismus wollten wir ja nicht völlig dumm rumlaufen. Wir wollten ja auch die möglichen bestehenden Bezüge zu unserem Fachgebiet kennen und abwägen, ob man sie verwenden kann.

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Wir Dozenten, auch aus den verschiedenen Fachgebieten, mussten uns ja verständigen. Wir wollten ja gemeinsam junge Menschen ausbilden. 107


Fußnoten:

1 Der Fragensteller dankt den genannten Beteiligten für ihre Hilfe und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf Lieberwirth für seine freundliche Bereitschaft, dem Zuhörer (und nun den Lesern) eine ihm unbekannte, versunkene Welt zu öffnen, die Teil der gesamtdeutschen Geschichte und damit auf subtile Weise auch Teil der heutigen deutschen Identität geworden ist.

2 Michael Stolleis, Art. Deutscher Rechtshistorikertag, in: HRG I, 2. Aufl. (2006) Sp.990-992, listet die Tagungsorte auf.

 

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Diese Seite ist vom 21. Dezember, 2007