Artikel vom 21. November 2005
© 2005 fhi
ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag / Citation:

http://www.forhistiur.de/zitat/0511rudischhauser.htm

 

Sabine Rudischhauser:

Tarifvertrag und bürgerliche Öffentlichkeit. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der Anfänge des Tarifrechts in Deutschland und Frankreich 1890-1918/19

 

1. Methodische Probleme: Die Wahrnehmung des Tarifvertrags durch die bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich
    a) Streikschlichtung und Rechtsprechung. Die Rolle der Arbeitsgerichtsbarkeit für die Wahrnehmung des Tarifvertrags
    b) Vom alten Tarif zum neuen Tarifvertrag: Die Rolle der Gewerkschaften für die Wahrnehmung des Tarifvertrags
2. Juristische Meinungsbildung: die Debatten um den Tarifvertrag auf dem Deutschen Juristentag vom 10.-12.9.1908 und in der Société d’études législatives 1907/1908
    a) Strukturen der Meinungsbildung: Exklusivität und Spezialisierung juristischer Vereinigungen
    b) Privatrechtliche contra öffentlich-rechtliche Auffassung des Tarifvertrags?


1. Methodische Probleme: Die Wahrnehmung des Tarifvertrags durch die bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich

Der Versuch einer vergleichenden Geschichte des deutschen und französischen Tarifvertragsrechts stößt unweigerlich auf ein in der Wissenschaft und in der allgemeinen Öffentlichkeit fest verankertes Bild vom „déficit français des organisations patronales et ouvrières et des relations professionnelles“1 einerseits, der Macht der Tarifparteien und der Bedeutung der Tarif­autonomie in Deutschland andererseits. Schon vor dem 1. Weltkrieg beklagten die französischen Zeitgenossen die geringe Dynamik des Tarifvertrags in Frankreich, während deutsche Beobachter staunend von tausenden Tarifverträgen und einer unaufhaltsamen Bewegung berichteten. Diese gegensätzliche Entwicklung hat, so scheint es, das Tarifrecht beider Länder geprägt,2 insbesondere die ersten gesetzlichen Regelungen des Tarifvertrags durch die Tarifvertragsverordnung3 vom 23.12.1918 und die Loi relative aux conventions collectives du travail vom 25.3.1919.4 Nachdem Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften im Stinnes-Legien-Abkommen das Prinzip der tarifvertraglichen Regelung der Arbeitsverhältnisse festgeschrieben hatten, beschränkte sich die deutsche Verordnung darauf, die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags und die Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, zu verankern.Das französische Gesetz regelte dagegen den Tarifvertrag bis ins kleinste Detail und sicherte auf vielfältige Weise die Freiheit des einzelnen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers, sich dem Geltungsbereich und den Wirkungen des Tarifvertrags zu entziehen, um, so die erklärte Absicht des Gesetzgebers, die Bereitschaft zum Abschluß von Tarifverträgen zu fördern. Das Gesetz von 1919 wird von Rechts- und Sozialhistorikern allgemein als gescheitert betrachtet; erst die accords de Matignon von 1936 hätten dem Tarifvertrag in Frankreich zum Durchbruch verholfen.

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Ein deutsch-französischer Vergleich läuft somit Gefahr, als asymmetrischer Vergleich die französische Entwicklung an der deutschen zu messen, eine Reihe von negativen Fragen zu produzieren (warum gab es in Frankreich so wenige Tarifverträge?),5 und letztlich nationale Stereotypen zu befestigen. Ein solches Vorgehen ist schon deshalb problematisch, weil wir über die tatsächliche französische Entwicklung so wenig wissen. Während das Kaiserliche Statistische Amt 1906 in einem dreibändigen Werk die Entwicklung des Tarifvertrags umfassend dokumentierte und von da an jährlich über Zahl und Inhalt der neu abgeschlossenen Tarifverträge berichtete, begann das Office du travail erst 1910, eine Tarifvertrags-Statistik zu erstellen, die jedoch kaum drei Seiten umfaßte und arm an Informationen war.6 Schlägt man jedoch die „Statistique des grèves et des recours à la conciliation et à l’arbitrage“ auf, die das Office du travail seit 1893 publizierte, so stolpert man förmlich über hunderte und aberhunderte von Tarifverträgen, und stellt fest, daß für ganze Städte und Regionen, ganze Branchen Tarifverträge existierten, die sich nach Form und Inhalt keineswegs von den deutschen unterschieden.7 Die Erstellung einer brauchbaren Tarifvertragsstatistik für Frankreich ist also sowohl möglich als auch zwingend notwendig, zumindest auf der Basis der in der Statistique des grèves veröffentlichten Texte, also derjenigen, die nach Abschluß eines Streiks unterzeichnet wurden. Erste Schätzungen ergeben, daß 1905 etwa 300 000 Arbeitsverhältnisse in Frankreich tarifvertraglich geregelt waren, d.h., gemessen an der Gesamtzahl der Arbeiter, genausoviele wie in Deutschland, nämlich etwa 5 %.8

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Offensichtlich haben wir es mit einem Problem der Wahrnehmung des Tarifvertrags zu tun, das übrigens nicht auf Frankreich beschränkt war. Noch 1890 galt der Tarifvertrag der Buchdrucker Lujo Brentano und den anderen Mitgliedern des Vereins für Sozialpolitik als einziger deutscher Tarifvertrag, so daß sie für ihre Diskussionen über den Tarifvertrag im übrigen auf englische Beispiele zurückgreifen mußten.9 Die Entwicklung des Tarifvertrags zu einem sozialen Phänomen in Deutschland begann für die Zeitgenossen mit dem Beschluß der Freien Gewerkschaften 1899, Tarifverträge als „Beweis der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter ... bei Festsetzung der Arbeitsbedingungen“ anzustreben. 1906 wurde dann die Zahl der Tarifverträge schon auf 3000 bis 4000 geschätzt.10 Dieses Ergebnis wäre kaum erklärlich, wenn es nicht in den Jahren davor schon überaus zahlreiche und weitverbreitete Tarifverträge gegeben hätte. Daß diese scheinbar nicht wahrgenommen wurden, erklärt sich zum einen daraus, daß deutsche Tarifverträge an englischen bzw. an dem der Buchdrucker gemessen wurden, die ausgefeilte Schiedsinstanzen besaßen. Nach dem Vorbild der englischen Boards of conciliation and arbitration wurden Tarifverträge als Schieds- und Einigungsämter verstanden und diskutiert, als Instrumente zur Streikschlichtung und Streikvermeidung. Ein einfacher Lohntarif, der „nur“ Arbeitsbedingungen vereinbarte, genügte diesem Anspruch nicht. Die französische Zeitgenossen hegten die gleiche Erwartung, Tarifverträge müßten Streiks vermeiden11 oder dienten in erster Linie dazu, Streiks zu beenden, und betrachteten deshalb das, was Lotmar als „transitorische Klauseln“ bezeichnete, als wesentlichen Inhalt des Tarifvertrags.12

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a) Streikschlichtung und Rechtsprechung. Die Rolle der Arbeitsgerichtsbarkeit für die Wahrnehmung des Tarifvertrags

Die Institutionen, die in Deutschland und Frankreich geschaffen wurden, um Streiks zu schlichten, spielten eine entscheidende Rolle für die Wahrnehmung des Tarifvertrags, für seine statistische Erfassung und den Prozeß seiner Verrechtlichung. Eine Gegenüberstellung dieser Institutionen vermag Hinweise darauf zu liefern, weshalb ab etwa 1900 die Wahrnehmung der Entwicklung des Tarifvertrages in beiden Ländern so stark differierte, obwohl, wie gezeigt, die Zahlen dicht beieinander lagen. Mit dem Gewerbegerichtsgesetz von 1890 entstanden in Deutschland, seit 1900 flächendeckend, gewählte Laiengerichte für arbeitsrechtliche Streitigkeiten, ähnlich den in Frankreich seit Anfang des 19. Jahrhunderts bestehenden Conseils de Prud’hommes. Anders als die deutschen Gewerbegerichte erhielten die Conseils de prud’hommes jedoch keine Kompetenz bei kollektiven Konflikten. Stattdessen schuf das Gesetz von 1892 über „conciliation et arbitrage“ paritätisch aus Delegierten der am Streik beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammengesetzte Schlichtungskommissionen, die im Falle eines Streiks ad hoc vom Friedensrichter einberufen wurden. Einigten sich die Parteien, so wurde der Inhalt der Einigung in einem Protokoll festgehalten und veröffentlicht. Aus diesen Schlichtungskommissionen entstand in den folgenden Jahren der größte Teil der französischen Tarifverträge, die deshalb in der eingangs zitierten „Statistique des grèves et des recours à la conciliation“ abgedruckt wurden. Vertragspartner auf Arbeitnehmerseite waren häufig nicht Gewerkschaften, sondern Streikkomitees als Vertreter der Streikenden.

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Im Gegensatz zu den französischen Comités de conciliation waren die deutschen Gewerbegerichte ständige Einrichtungen, zuständig auch für die Anwendung der Tarifverträge, die vor ihnen abgeschlossen wurden. Die von den Stadtverwaltungen benannten Vorsitzenden der Gewerbegerichte waren, anders als die französische Friedensrichter, auf das Arbeitsrecht spezialisierte Fachleute (nicht zwingend, aber in der Regel Juristen), die sich zu einem Verband zusammenschlossen, eine Zeitschrift herausgaben und Verbandstage abhielten. Es bildete sich so ein Korps der Gewerberichter, dessen Rechtsprechung auch Produkt der internen Meinungsbildung war. Sie wurden zur wichtigsten Triebkraft für eine gesetzliche Regelung des Tarifvertrags in Deutschland. Ihre praktischen Erfahrungen und das durch Spezialisierung erworbene Fachwissen verschaffte den Gewerberichtern in den Debatten um den Tarifvertrag erheblichen Einfluß. Die Institution der Gewerbegerichte wirkte auch einer einseitigen Selektion der Tarifverträge entgegen, weil fast jeder Tarifvertrag gerichtsbekannt wurde. Die wichtigste und meistgelesene sozialpolitische Zeitschrift Deutschlands, die Soziale Praxis, war zugleich Organ des Verbandes deutscher Gewerbegerichte und veröffentlichte und kommentierte wichtige Tarifverträge ebenso wie die relevanten Urteile.

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In Frankreich wurden sowohl die vor den Friedensrichtern (häufig auch vor anderen neutralen Dritten wie dem Präfekten, Bürgermeister usw.) geschlossenen Tarifverträge als auch die Urteile der Conseils de prud’hommes von Außenstehenden gesammelt und kommentiert, nämlich im Bulletin de l’Office du travail und der vom Office du travail herausgegebenen Statistique des Grèves. Diese amtlichen Veröffentlichungen fanden nicht viele Leser und wurden von den französischen Juristen, die sich mit dem Tarifvertrag auseinandersetzten, anscheinend kaum benutzt. Der Corpus von Entscheidungen, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur, in den rechtspolitischen Diskussionen und schließlich in den parlamentarischen Dokumenten zitiert wurden, war auffallend klein: 37 Fälle in 24 Jahren.13 Die geringe Verbindung der Conseils de prud’hommes untereinander - der Zusammenschluß zum Verband war den französische „Gewerberichtern“ verwehrt – und die Aufsplitterung der Zuständigkeit für den Abschluß von Tarifverträgen, für Klagen einzelner Arbeitnehmer wegen Ansprüchen aus dem Tarifvertrag und für Klagen der Tarifvertragsparteien auf verschiedene Instanzen behinderten die arbeitsrechtliche Spezialisierung innerhalb der französischen Justiz. Die Erfahrungen der Conseils de prud’hommes und der Juges de paix aus der Praxis des Tarifvertrags flossen in die juristische Debatte um den Tarifvertrag nicht ein. Welche Kenntnisse die allgemeine Öffentlichkeit, aber auch die juristische Öffentlichkeit, von der Praxis des Tarifvertrags besaß, hing also davon ab, wie Tarifverträge veröffentlicht wurden und wie die Gerichtsbarkeit in arbeitsrechtlichen Streitfragen organisiert war. Die große Aufmerksamkeit, die ab 1900 der Entwicklung der Tarifverträge in Deutschland zuteil wurde, und die frühe und starke Spezialisierung der Akteure in der Debatte um den Tarifvertrag war auch ein Ergebnis der Tätigkeit der Gewerbegerichte.

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Eine weitere Erklärung dafür, daß die vor der Jahrhundertwende abgeschlossenen Tarifverträge so wenig beachtet wurden, liefert die Beobachtung von Boll: „In den ab 1900 begonnenen nachträglichen Fallsammlungen sind nur die Verträge erfaßt, die der damaligen Auffassung von ‚Tarifvertrag‘ oder ‚Tarifgemeinschaft’entsprachen“, nämlich schriftlich fixierte, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber(verbänden) ausgehandelte Tarifverträge. So gibt der Zentralverband der Maurer Deutschlands 1905 an, es habe bis 1890 im Maurergewerbe nur 7 Tarifverträge gegeben. Eine Umfrage des gleichen Verbandes im Jahre 1890 ergab jedoch, daß von 202 Orten 97 eine Regelung der Arbeitszeit durch gemeinsames Vorgehen der Gesellen erreicht hatten, während an 67 Orten die Arbeitszeit einseitig durch die Meister festgelegt war".14 Boll weist damit auf ein weiteres Definitionsproblem hin, nämlich die Gleichsetzung von „Tarifvertrag“ mit „Verbandstarif“, die ebenso wie die Definition von Tarifverträgen als Schieds- und Einigungsämter weite Teile der Tarifpraxis ausschließt. Die von Boll angeführte Auffasssung, die ja charakteristisch für das deutsche Tarifrecht wurde, kann einer vergleichenden Studie nicht zugrundegelegt werden, weil sie weder dem Rechtsbewußtsein der am Tarifvertrag Beteiligten, noch dem französischen Tarifrecht entsprach. Das Gesetz von 1919 erkannte nämlich, anders als die deutsche Tarifvertragsverordnung, auch Verträge zwischen Arbeitgebern und unorganisierten Kollektiven von Arbeitnehmern, sog. „groupements“, als Tarifverträge an. Solche Abschlüsse wurden von der deutschen Rechtswissenschaft als unbegrenzte Tarifverträge bezeichnet.

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b) Vom alten Tarif zum neuen Tarifvertrag: Die Rolle der Gewerkschaften für die Wahrnehmung des Tarifvertrags

Ausgangspunkt unserer Überlegungen muß deshalb ein Begriff des Tarifvertrags sein, der die historische Entwicklung in beiden Ländern erfaßt und dadurch Verzerrungen aufgrund unterschiedlicher nationaler Definitionen erst sichtbar macht. Grundlage des im folgenden verwendeten Begriffes ist der Deutschen und Franzosen gemeinsame Sprachgebrauch, nämlich das Wort „Tarif“. Nach dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm ist ein Tarif ein „verzeichnis von waaren, leistungen oder abgaben mit beigesetzten preisen...aus französisch ‚tarif‘...vom arabischen ‚ta’arif‘= kundmachung“. Grundlegend für den Begriff des Tarifs ist die Öffentlichkeit, daß also der Preis der Ware oder Dienstleistung jedermann bekannt gemacht wird und für jedermann in gleicher Weise gilt, nicht individuell zwischen Käufer und Verkäufer ausgehandelt wird. In diesem Sinne verbanden Arbeiter mit dem Wort Tarif die Forderung nach einem für einen Ort, einen Zeitraum, ein Gewerbe festgesetzten und für alle Arbeiter an diesem Ort usw. gleichen Lohn.

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Tarife konnten durch die Stadtverwaltung, z.B. in Form eines ortsüblichen Lohnes für das Baugewerbe festgelegt werden,15 sie konnten unter einer Zunftverfassung zwischen Meistern und Gesellen ausgehandelt oder nur zwischen den Meistern vereinbart werden; sie existierten aber auch dort, wo die Zünfte aufgelöst und verboten waren, wie im nachrevolutionären Frankreich, bzw. lebten nach Aufhebung der Zunftverfassung in den verschiedenen deutschen Staaten fort. Unabhängig vom Maß der Gewerbefreiheit waren Tarife in beiden Ländern regelmäßig dort anzutreffen, wo die Gefahr bestand, daß die uneingeschränkte Konkurrenz vieler Produzenten eines gleichen Produktes Preise und Löhne drücken könnte. Diese Funktion erfüllte der Tarif als Stücklohn unabhängig davon, ob die Produzenten kleine Selbständige, Zwischenmeister oder Arbeiter waren. Außer im städtischen Massenhandwerk, also im Baugewerbe, bei Bäckern, Metzgern, auch Schneidern und Schustern, finden wir Tarife vor allem in der Textilindustrie, für die ein Nebeneinander von Fabriken, kleineren Werkstätten und Heimarbeitern typisch war, die an der Erzeugung eines Produktes zusammenwirkten. Dieses Phänomen der „fabrique collective“ findet sich vor allem in monoindustriellen Orten, an dem eine Vielzahl von kleinen und größeren Betrieben den gleichen Artikel für einen nationalen oder internationalen Markt produzierten, z.B. die Band- und Posamentenweberei von St.Etienne, die Taschentuchweberei von Cholet,16 die Leinenweberei von Armentières. Innerhalb Frankreichs besaßen diese Orte ein Monopol auf ihren Artikel, der Ortsname war Markenname, vergleichbar mit der Solinger Messer- und Scherenindustrie, die gleichfalls frühe Tarife kannte. Ein lokaler Tarif genügte daher, um die Konkurrenz zu regeln, und diente u.a. der Aufrechterhaltung einer gleichmäßigen Beschäftigung für alle Produzenten während der morte saison.

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Von Tarifverträgen sprechen wir, wenn ein solcher Tarif zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt, also nicht einseitig oktroyiert wurde. Die Forderung nach vereinbarten Tarifen bildete den Ausgangspunkt der Arbeiterbewegung in weiten Teilen von Handwerk und Industrie und stand seit 1848 im Zentrum der meisten Arbeitskämpfe der Massenhandwerker, also lange vor der Legalisierung der Gewerkschaften 1869 bzw. 1884.17 Garantiert wurde die Einhaltung des Tarifs nicht durch eine starke Gewerkschaft, sondern durch den verbindlichen, öffentlichen Charakter des Tarifs. Die Anerkennung von „Recht und Gewohnheit“ des jeweiligen Handwerks oder Gewerbes, wozu z.B. auch die Kündigungsfrist gehört, sowie des ortsüblichen Tarifs, durch die Conseil de prud‘hommes, wurde ergänzt durch Formen öffentlich-rechtlicher Sanktionierung, die der Festigung des Tarifs dienen, z.B. Verschriftlichung, Registrierung und Bekanntmachung durch die Stadtgemeinde. Der alte Tarif war also Teil des Gewohnheitsrechtes und geriet wie dieses in Frankreich ab Ende der 60er Jahre des 19. Jhdts. zunehmend unter Druck durch Urteile der höheren Instanzen, die im Sinne eines absoluten Vertragsrechts individuellen Arbeitsverträgen ebenso wie einseitig vom Arbeitgeber festgesetzten Arbeitsordnungen (règlements d’atelier) Vorrang vor den Bestimmungen des alten Tarifs gaben.18

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Die Entstehung und Legalisierung von Gewerkschaften gab den Anstoß für eine neue Sicht des Tarifvertrags. Seit Gewerkschaften Tarife aushandelten und unterschrieben, konnten Juristen solche Abmachungen als schuldrechtliche Verträge begreifen, die die Parteien, und nur sie, banden, selbst dann, wenn die Gewerkschaftsführung selbst sich als Vertreterin aller Streikenden bzw. aller Beschäftigten verstand und weiterhin in den Kategorien des alten Orts­tarifs dachte. Die Rechtswissenschaft konnte darüberhinaus auch unorganisierte Arbeitnehmer als Parteien eines solchen privatrechtlichen Vertrages betrachten. Aber während im Rechtsbewußtsein der Beteiligten der Tarifvertrag immer im Sinne des Wortes Tarif als unmittelbar gültige Norm galt, mußten Rechtsprechung und Rechtswissenschaft diese unmittelbare und durch individuellen Arbeitsvertrag nicht abdingbare Wirkung des Tarifvertrags jetzt neu begründen. Aus dem Verständnis des neuen Tarifvertrags als eines privatrechtlichen Vertrages entstand die gesamte juristische Debatte über Vertretungsvollmacht der Verbände, Unterscheidung von organisierten und nicht-organisierten Arbeitern, Gültigkeit und Vollstreckbarkeit des Tarifvertrags usw.

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Daraus ergab sich aber auch, daß der neue Tarifvertrag die ökonomische Funktion des alten Tarifs, nämlich die Reglementierung bzw. Unterbindung von Preis- und Lohnkonkurrenz, nur unvollkommen erfüllte, es sei denn, er würde durch öffentlich-rechtlichen Akt für allgemeinverbindlich erklärt. Der neue Tarifvertrag könnte sich hinsichtlich seiner Wirkung des alten Tarifs auch annähern, wenn es der Gewerkschaft gelänge, alle Arbeitnehmer des Gewerbes zu organisieren und den Tarif durch entsprechende Arbeitskampfmaßnahmen (Boykott, Interdikt, closed-shop usw.) auf alle Betriebe auszudehnen, oder es dem Arbeitgeberverband gelänge, alle Konkurrenten zu organisieren. Unter diesem Gesichtspunkt könnte das Fortbestehen korporatistischer Strukturen bzw. die Wiederbelebung solcher Strukturen in Gestalt von Innungen von Vorteil für den Abschluß von Tarifverträgen gewesen sein.

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Stärker als im alten Ortstarif tritt dagegen im neuen Tarifvertrag eine andere Funktion solcher Vereinbarungen hervor, nämlich die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Arbeiter und damit die Freiheit und Gleichheit des Arbeitsvertrages zu verwirklichen. Im neuen Tarifvertrag erkennt der Arbeitgeber an, daß die Arbeiter das Recht haben, sich zu organisieren, zu Gewerkschaften zusammenzuschließen und ihre Arbeitsbedingungen kollektiv zu regeln. Sozialreformer sahen im Tarifvertrag das Instrument, den vom Arbeitgeber dominierten individuellen Arbeitsvertrag abzulösen durch ein neues kollektives Arbeitsrecht. Damit stand der Tarifvertrag im Zentrum eines gesellschaftlichen und politischen Machtkampfes.

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Im deutschen Sprachgebrauch blieb im Begriff Tarifvertrag, den Lotmar auch für die Wissenschaft durchsetzte, die Erinnerung an die Funktion solcher Verträge erhalten, einheitliche Löhne zur Reglementierung der Konkurrenz festzuschreiben – eine wichtige „semantische Ressource“19 für die Debatte. Dagegen betont der französische Begriff der convention collective de travail nur den arbeitsrechtlichen Charakter solcher Verträge.

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In der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde, wie wir gesehen haben, dem neuen Tarifvertrag eine dritte Funktion zugeschrieben, die der Vermeidung und friedlichen Beendigung von Streiks.

 

Die 1889/90 einsetzenden und die Zeit bis 1914 prägenden großen Streikbewegungen und der Aufstieg der Gewerkschaften zur bestimmenden Kraft in Arbeitskämpfen und Tarifverträgen bilden also den Schlüssel für den Wandel des Tarifvertrags in der Praxis und zugleich den Anstoß für die rechtswissenschaftliche und sozialpolitische Auseinandersetzung mit dem Tarifvertrag. Mit der veränderten Wahrnehmung des Tarifvertrages beginnt die Entwicklung eines positiven nationalen Tarifrechts in Deutschland und Frankreich, das deshalb nicht als Abbildung oder Ausdruck einer nationalen Tarifpraxis begriffen werden kann, auch keine direkten Rückschlüsse auf eine solche hypothetische Praxis erlaubt, sondern als Ergebnis der Interaktion zweier Prozesse betrachtet werden muß: der Weiterentwicklung des lokalen oder berufsständischen, konventionellen Tarifrechts durch die direkt am Tarifvertrag beteiligten Akteure, und der Entwicklung der juristischen Doktrin, der Rechtsprechung und schließlich der Gesetzgebung. Während sich das konventionelle Tarifrecht und die Rechtsprechung auf verschiedenen räumlichen Ebenen, vom Ortstarif bis zum Tarifvertrag zwischen nationalen Fachverbänden, und vom örtlichen Gewerbegericht bis zur höchsten Gerichtsinstanz entfalteten, spielte sich die rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Auseinandersetzung überwiegend auf nationaler Ebene ab. Unsere vergleichenden Beobachtungen zur Rezeption der Tarifpraxis durch die bürgerliche Öffentlichkeit haben bereits gezeigt, daß Akteure aus dem Bereich des konventionellen Tarifrechts und der unterinstanzlichen bzw. gewerblichen Rechtsprechung in Deutschland und Frankreich nicht in gleichem Maße Zugang zu dieser nationalen Ebene erhielten, ihre Erfahrungen nicht in gleichem Maße in die Entscheidungen einflossen. Im zweiten Teil unserer Skizze soll auch der Eigendynamik des Prozesses der juristischen Meinungsbildung auf dieser nationalen Ebene Rechnung getragen werden. An einem Fallbeispiel soll untersucht werden, welche Akteure auf dieser Bühne präsent waren, und innerhalb welcher Strukturen – Vereine, akademische Hierarchien, wissenschaftliche Traditionen - die ersten Gesetze zum Tarifvertrag entstanden. Abschließend soll gezeigt werden, welche neuen Fragen für die Entwicklung auch des konventionellen Tarifrechtes sich aus der Beobachtung der juristischen Meinungsbildung ergeben.

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2. Juristische Meinungsbildung: die Debatten um den Tarifvertrag auf dem Deutschen Juristentag vom 10.-12.9.1908 und in der Société d’études législatives 1907/1908

Zwei Orte der Meinungsbildung sollen hier herausgegriffen werden, weil sie leicht zugänglich und bereits gut erforscht sind, nämlich die Société d’études législatives (SEL) und der Deutsche Juristentag (DJT).20 Beide beschäftigten sich etwa zur gleichen Zeit mit der Frage einer gesetzlichen Regelung des Tarifvertrags, eine Debatte, in die natürlich die in der Rechtswissenschaft und in der Rechtsprechung vertretenen Positionen einflossen. Die Kritik der Rechtswissenschaft, der unteren Instanzen und der Sozialreformer an der Rechtsprechung der obersten Gerichte gab, in Deutschland wie in Frankreich, den Bemühungen um eine gesetzliche Regelung einen entscheidenden Anstoß.

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Die französische Rechtsprechung hatte nach einigem Zögern Anfang der 1890er Jahre Tarifverträge als rechtskräftige Verträge anerkannt, verweigerte aber lange Zeit den Gewerkschaften das Recht, bei Tarifbruch auf Schadensersatz zu klagen, weil durch tarifwidrige Arbeitsverträge nur einzelne Arbeitnehmer, nicht aber die Gewerkschaft selbst geschädigt werde. Das Prinzip „En France, nul ne plaide par procureur“ konnte erst überwunden werden, nachdem ab 1902 mehrere Urteile in Fällen von unlauterem Wettbewerb ein „interêt professionnel“ einer ganzen Berufsgruppe festgestellt hatten, das durch das „syndicat professionnel“, in diesen Fällen eine Vereinigung von Produzenten, vertreten wurde. Erst 1913 erkannte die Cour de Cassation den Berufsvereinen eine von ihren Mitgliedern distinkte juristische Persönlichkeit zu, so daß sie als Partei vor Gericht auf Schadensersatz klagen konnten.21

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In Deutschland war die Situation für den neuen Tarifvertrag rechtlich ungünstiger, da die Gewerkschaften als nicht-rechtsfähige Vereine konstituiert waren und aufgrund des Art. 152.2 der Gewerbeordnung keine rechtliche Handhabe gegenüber tarifbrüchigen Mitgliedern besaßen. Jedoch fanden sich Wege, diese rechtlichen Hindernisse zu umgehen. Das Urteil des 3. Strafsenats des Reichsgerichts vom 30.4.1903 jedoch bedeutete einen schweren Rückschlag für alle Bemühungen zur Verrechtlichung des Tarifvertrags, weil der Strafsenat Tarifverträge mit Koalitionen, also „Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit“ (152 Gew.O) gleichstellte, die keine bindende Wirkung entfalten konnten.22 Gegen dieses Urteil erhob sich heftiger Protest, der schließlich dazu beitrug, daß das Reichsgericht diese Rechtsprechung mit Urteil vom 26.6.1908 und endgültig mit Urteil vom 20.1.1910 korrigierte.

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Der Versuch, durch eine gesetzliche Regelung des Tarifvertrags eine der Entwicklung des Tarifvertrags abträgliche Rechtsprechung zu überwinden, stellt ein verbindendes Glied zwischen den Beratungen der SEL und denen des DJT dar. Im übrigen scheinen sich dort aber auf den ersten Blick schon 1908 die deutsch-französischen Gegensätze im Umgang mit dem Tarifvertrag abzuzeichnen, die das Gesetz vom 25.3.1919 so scharf von der Tarifvertragsverordnung von 1918 unterscheiden.

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a) Strukturen der Meinungsbildung: Exklusivität und Spezialisierung juristischer Vereinigungen

Wichtige Unterschiede im Ablauf des Meinungsbildungsprozesses ergeben sich bereits aus der verschiedenen Natur der beiden juristischen Vereinigungen, die wir betrachten. Der DJT trat nur einmal im Jahr für eine kurze Tagung zusammen, zu der Juristen aus allen deutschsprachigen Ländern kamen. Nach seinen Statuten war er offen für alle, die eine juristische Ausbildung abgeschlossen hatten (Anwälte, Richter, Verwaltungsbeamte, Verbandssyndici, Doktoren der Rechte usw.), sowie alle Hochschullehrer. Der Mitgliedsbeitrag betrug 6 RM jährlich, die Anmeldung zur Teilnahme am Juristentag selbst kostete 3 RM. Zu den Fragen, über die beraten werden sollte, holte der Juristentag Gutachten von Experten ein, die die verschiedenen Meinungen, die in Lehre und Praxis zur jeweiligen Frage vertreten wurden, repräsentieren sollten. Die eigentliche Diskussion fand in einzelnen Abteilungen statt, wo ein oder mehrere Berichterstatter die Gutachten zusammenfaßten und ihre Thesen zur Abstimmung vorlegten. In der anschließenden Plenarsitzung hatte der Berichterstatter noch einmal das Wort; die Versammlung folgte bei der Schlußabstimmung in der Regel dem Votum der Abteilung.

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Die 1902 auf Initiative von Raymond Saleilles gegründete SEL war eine in Paris ansässige wissenschaftliche Gesellschaft, die monatlich zu Sitzungen zusammentrat. Nicht in Paris ansässige Mitglieder konnten daher nur selten an den Réunions générales und den Sitzungen der Kommissionen teilnehmen und mußten sich damit begnügen, „notes“ als eine Art Leserbriefe zur nachträglichen Veröffentlichung im Bulletin der SEL einzureichen. Die SEL war eine exklusive Gesellschaft, auf 160 ständige Mitglieder beschränkt, die nur auf Vorschlag von zwei Mitgliedern kooptiert wurden. Darüberhinaus gab es assoziierte Mitglieder, die über Rederecht, aber kein Stimmrecht verfügten. Prominent und zahlreich vertreten waren Professoren der Faculté de droit der Universität Paris, darunter auch einige, die dort Volkswirtschaft lehrten, die Richter, Staatsanwälte und Anwälte der Cour d‘appel und der Cour de Cassation sowie des Conseil d’Etat. Zu den Fragen, mit denen sich die SEL beschäftigte, wurden Kommissionen gebildet, die über einen längeren Zeitraum – im Falle des Tarifvertrages über drei Jahre – einen Text erarbeiteten, der dann von einem Berichterstatter der Generalversammlung vorgestellt wurde. Diese diskutierte den Bericht im Detail, stimmte aber anders als die Kommission nicht darüber ab.

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Die 1904, wiederum auf Initiative von Saleilles gebildete Commission du contrat du travail umfaßte anfangs 9 Mitglieder, davon 7 Professoren, und wuchs bis 1907 auf 18 Mitglieder an, davon 11 Professoren. Ihr Ziel war es, eine Vorlage für das von der Regierung geplante Gesetz über den Arbeitsvertrag zu liefern. Das Regierungsprojekt Sarrien/Doumergue von 1906 lehnte sich eng an den Text der SEL an.23 Die den Tarifvertrag betreffenden Artikel waren von einer vierköpfigen Sous-commission erarbeitet worden, von der Kommission selbst und ihrem Berichterstatter 1905 jedoch zunächst zurückgestellt worden. Erst 1907 verabschiedete die Commission du contrat du travail einen erheblich modifizierten Text, über den die Generalversammlung abschließend im Januar 1908 beriet.24

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Der Meinungsbildungsprozeß, den wir in Frankreich beobachten, war also ein stark zentralisierter Prozeß, geprägt von der kontinuierlichen Arbeit an einem Gesetzestext, der alle wesentlichen Aspekte des Arbeitsvertrages abschließend regeln sollte. Der Gesetzentwurf der SEL ging in den Regierungsentwurf von 1910 ein, der in veränderter Form1913 von der Kammer angenommen und 1919 vom Senat verabschiedet wurde und im Laufe dieses Prozesses noch umfangreicher und detaillierter wurde.25 Der DJT dagegen beriet über die Vorfrage, ob sich „die gesetzliche Regelung des ...Tarifvertrages ... empfiehlt“. Seine Debatten zielten nur auf die Verabschiedung von Leitlinien; für den Inhalt der Tarifverträge vertraute man darauf, daß sich durch die Arbeit der Gewerbegerichte bald ein Normalvertrag nach Art des von der Gesellschaft für soziale Reform erstellten Muster-Tarifvertrags herausbilden werde.26 Deutlich wird, daß die deutsche „Antinormierungs-Deregulierungsstrategie“27 und der französische Interventionismus im kollektiven Arbeitsrecht auf der unterschiedlichen Organisation und Rolle der Rechtsprechung basierten.

23

Diskutierte in Paris ein relativ geschlossener Kreis arrivierter Professoren, Angehöriger der obersten Gerichte und Spitzenpolitiker unter sich (bloße Doktoren der Rechte waren nur als assoziierte Mitglieder zugelassen),28 so war der Juristentag offen für Akteure aus verschiedenen Regionen und Berufen, für akademische Außenseiter wie für Praktiker aus der unterinstanzlichen Rechtsprechung. Gewerberichter, die selbst täglich mit Verhandlung und Durchführung von Tarifverträgen beschäftigt waren, nahmen als Gutachter und Diskussionsteilnehmer erheblichen Einfluß auf den Verlauf der Debatte. Im Gegensatz dazu fehlten in der SEL namhafte Theoretiker und Praktiker des Tarifvertrages. Nicht vertreten waren insbesondere die innovativen Positionen von Öffentlich-Rechtlern wie Duguit und Hauriou,29 die Erfahrungen von Juges de paix und Verwaltungsbeamten, die Tarifverhandlungen erlebt und moderiert hatten, sowie die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung durch Sozialreformer wie de Seilhac, de Rousiers, Bureau.30

24

Der geringe Einfluß der Sozialreformer unterscheidet die Verhandlungen der SEL deutlich von denen des Juristentages. Die enge Verbindung, die die deutschen Sozialreformer, insb. die Gesellschaft für soziale Reform, mit den Gewerberichtern eingegangen waren, und die sich in der Zeitschrift „Soziale Praxis“ manifestierte, trug dazu bei, daß sie in der Debatte um den Tarifvertrag die publizistische Meinungsführerschaft übernahmen. Weil die Soziale Praxis alle wichtigen Tarifverträge und Entscheidungen zum Tarifvertrag veröffentlichte, wurde sie, neben der amtlichen Statistik, zur gemeinsamen Quellenbasis aller, die zum Tarifvertrag arbeiteten. Die Association nationale française pour la protection légale des travailleurs, das französische Pendant der Gesellschaft für soziale Reform, 31 diskutierte und veröffentlichte nicht kontinuierlich zum Tarifvertrag. Ihre Verhandlungen und ihre Mitglieder besaßen in der SEL bei weitem nicht die gleiche Autorität, wie die der Gesellschaft für soziale Reform auf dem DJT.

25

Weil sich die Debatten des DJT auf Gutachten stützten, prägten die vom DJT als solche anerkannten Experten die Diskussion. Das hohe Maß an Spezialisierung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zeigte sich darin, daß auch in der Debatte – abgesehen von den Vertretern der Arbeitgeberverbände - fast ausschließlich Mitglieder zu Wort kamen, die zum Tarifvertrag publiziert oder sich mit ihm praktisch befaßt hatten. Auch die beiden Berichterstatter, der nationalliberale Reichtagsabgeordnete Johannes Junck und der Privatdozent Hans Köppe, hatten sich, ersterer durch sein sozialreformerisches und politisches Engagement, letzterer durch einschlägige Veröffentlichungen, als Tarifvertragsexperten legitimiert.

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Ursprünglich war auch die Arbeit der SEL durch Experten geprägt gewesen, nämlich solange, wie die Frage des Tarifvertrags in den Händen der Sous-commission der SEL lag. Von ihren vier Mitgliedern konnten mindestens drei als Spezialisten gelten: Barthélemy Raynaud, der 1901 die erste juristische Doktorarbeit zum Tarifvertrag in Frankreich verfaßt hatte, Raoul Jay, der sich in seinen Publikationen und Lehrveranstaltungen für den Tarifvertrag engagiert hatte, und als Berichterstatter der von Millerand eingesetzten außerparlamentarischen Kommission zur Kodifizierung des Arbeitsrechtes die „conventions relatives au travail“ bearbeitet hatte, und schließlich Raymond Saleilles, der beste französische Kenner des deutschen Zivilrechts, der durch seine Arbeiten zur juristischen Persönlichkeit eine Position zum Tarifvertrag gewonnen hatte, die sich kritisch von der bisherigen Rechtsprechung abhob. Saleilles und Jay gehörten auch zu den wenigen französischen Juristen, die Lotmar gelesen hatten, dessen Pionierstudie eine unumgehbare Referenz für jede wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tarifvertrag in Deutschland war. Der Text, den die Sous-commission 1904 erarbeitet hatte, definierte den Tarifvertrag nicht anders als der DJT und umfaßte auch die gleichen Forderungen an die Gesetzgebung: Unabdingbarkeit, Schriftlichkeit, Registrierung (die „öffentlich-rechtliche Veredelung“, wie Junck formulierte) des Tarifvertrags, Parteifähigkeit (bzw. in Deutschland: Rechtsfähigkeit) der vertragsschließenden Verbände. Allerdings enthielt der Entwurf der Sous-commission Ansätze für eine öffentlich-rechtliche Ausdehnung des Tarifvertrags auf nicht-tarifgebundene Arbeitnehmer. Festzuhalten bleibt, daß die Positionen der deutschen und französischen Juristen, die Kenner des Tarifvertrags waren, eng beieinander lagen.

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Als Saleilles 1905 aus gesundheitlichen Gründen als Generalsekretär der SEL zurücktrat und an den Arbeiten der Commission du contrat du travail nicht mehr teilnehmen konnte, nahmen diese eine neue Richtung. Zum einen traten Politiker und Arbeitgebervertreter der SEL bei, um auf die Arbeiten der Commission Einfluß nehmen zu können. Zu nennen sind hier vor allem die beiden Senatoren Eugène Touron und Boivin-Champeaux, die 1919 im Senat den Entwurf Strauß, der die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen einführte, verhinderten, und an seiner Stelle den ursprünglichen Text, den die SEL erarbeitet hatte, durchsetzten. Touron war Gründer des Arbeitgeberverbandes der französische Textilindustrie, vertrat aber, anders als die deutschen Arbeitgebervertreter, in der Generaldebatte nicht offen die Interessen der Großindustrie.

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Zum anderen trat die wissenschaftliche Expertise, die die Arbeit der Sous-Commission geprägt hatte, in der erweiterten Commission in den Hintergrund. Von den genannten Experten blieb, nachdem Raynaud eine Professur in Aix-en-Provence angenommen hatte, nur Jay, der wegen seines Engagements für neokorporatistische Konzeptionen der katholischen Sozialreform ein Außenseiter blieb.32 Mit der Anzahl der Experten schwand auch das Gewicht der politischen Befürworter des Tarifvertrags.

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Zum Berichterstatter wurde nicht eines der Mitglieder der Sous-commission, sondern Clément Colson bestimmt, der an der Ecole des ponts et chaussées Volkswirtschaft lehrte, ein überzeugter Liberaler, Anhänger der klassischen Ökonomie, kein Kenner und ein entschiedener Gegner des Tarifvertrags.33 In der SEL war der Tarifvertrag, ebenso wie der Arbeitsvertrag insgesamt, keine Domäne der Juristen. Die „Volkswirte“ der SEL waren zwar überwiegend nach Ausbildung und Werdegang Juristen, die an der Faculté de droit Volkswirtschaftslehre unterrichteten, wie Cauwès, der Vorsitzende der Commission. Auch Colson hatte eine license en droit. Er betrachtete den Tarifvertrag aber nicht als arbeitsrechtliches, sondern als ökonomisches Problem, unter dem Gesichtspunkt seines Einflusses auf die Produktionskosten usw. Für ihn war der Tarifvertrag nicht die Antwort auf die Frage, wie die Freiheit und Gleichheit der Vertragsparteien im Arbeitsvertrag zu verwirklichen sei – ein Frage, die in der Debatte überhaupt nicht auftauchte. Colson arbeitete bevorzugt mit konstruierten Beispielen aus der klassischen Ökonomie, die oft sehr realitätsfremd waren, wie der Fall eines ouvrier d’élite, der Stücklohn statt des tarifvertraglich vereinbarten Zeitlohns will, und deshalb vom Tarifvertrag zurücktreten möchte. Ebenso legitim erschien Colson das Bestreben eines wirtschaftlich schwachen Arbeitgebers, sich einem Tarifvertrag zu entziehen, dessen höhere Lohnsätze ihn ruinieren könnten. Obwohl Colson die Funktion des Tarifvertrags, Wettbewerb zu begrenzen, theoretisch anerkannte, verteidigte er praktisch die Berechtigung des einzelnen Arbeitgebers, fortzusetzen, was deutsche Akteure als „Schmutzkonkurrenz“ verurteilten.34

30

Colsons Bericht und die anschließende Generaldebatte waren bestimmt von dem Bemühen, dem einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Möglichkeit zu sichern, sich von der Bindung an den Tarifvertrag zu befreien. Der DJT versuchte im Gegensatz dazu, die Verbindlichkeit des Tarifvertrags zu erhöhen. Während die „Tariftreue“ als Wert im Rechtsbewußtsein der deutschen Debattenteilnehmer immer präsent war und ihre Erwartungen an das Verhalten der Tarifparteien beschreibt, existiert im französischen Sprachgebrauch kein Äquivalent für diesen, das deutsche Tarifrecht bis heute prägenden Begriff.35 Die Entscheidungen der SEL zugunsten der individuellen Vertragsfreiheit waren sicherlich, ebenso wie die Ernennung Colsons zum Berichterstatter, politisch motiviert und entsprachen den Interessen der Repräsentanten der Arbeitgeber in der SEL. Dennoch ist unser Vergleich der Strukturen juristischer Meinungsbildung in Deutschland und Frankreich nicht ohne Interesse. Es zeigt sich nämlich, daß die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags und die Parteifähigkeit der Verbände weder vom Berichterstatter noch in der Generaldebatte mehr in Frage gestellt wurden. Diejenigen Rechtsfragen des Tarifvertrags, die die Rechtsprechung seit Jahren beschäftigt hatten, wurden also im Sinne einer Stärkung des Tarifvertrags und seiner Funktionen entschieden, d.h. gegen die ständige Rechtsprechung der höchsten Gerichte. Das ist umso bemerkenswerter, als, anders als in Deutschland, zahlreiche Richter und Staatsanwälte dieser obersten Gerichte an der Debatte teilnahmen. Diejenigen Rechtsfragen, die die SEL anders als der DJT entschied, nämlich die des Mandats der Verhandlungsführer und der kollektiven oder individuellen Kündigung des Tarifvertrags, waren solche, die bisher nicht Gegenstand der Rechtsprechung gewesen waren und zu denen sich bislang in Frankreich keine herrschende Meinung herausgebildet hatte. Ihre Bedeutung für die Funktion des Tarifvertrags war daher nur Experten bekannt, die aber, wie gezeigt, in diesem Stadium der Diskussionen marginalisiert waren. Die Generaldebatte wurde weniger von Argumenten als von Verständnisfragen bestimmt, die belegen, daß insbesondere die Richter der obersten Gerichte mit der Realität und den Lehren vom Tarifvertrag ähnlich unvertraut waren wie die Richter des Strafsenats des Reichsgerichtes.

31

Unsere Gegenüberstellung der Strukturen, innerhalb der entscheidende Weichenstellungen für das zukünftige Tarifrecht vorgenommen wurden, läßt also vermuten, daß die im Verhältnis zu Deutschland geringere Spezialisierung und der dadurch bedingte geringere Kenntnisstand der französischen Debattenteilnehmer die unterschiedlichen Positionen der beiden juristischen Gesellschaften zum Tarifvertrag erklären. Demgegenüber vertritt ein großer Teil der französischen Literatur zur Geschichte des Arbeitsrechtes die These, das Festhalten der französischen Juristen an den Prinzipien des klassischen Vertragsrechts habe den Tarifvertrag geschwächt und zum Mißerfolg des Gesetzes von 1919 beigetragen. Mangelnde Einsicht in den normativen, öffentlich-rechtlichen Charakter des Tarifvertrags, die ungebrochene Herrschaft des Zivilrechts über den Arbeitsvertrag trügen Schuld an der „fragilité de la convention collective ‚contractuelle‘“.36 Weil Öffentlich-Rechtler tatsächlich an den Sitzungen der SEL nicht teilnahmen und ihre Positionen in der Debatte keine Beachtung fanden, scheint diese These von der Vorherrschaft vertragsrechtlichen Denkens plausibel. Wieweit sie den Meinungsbildungsprozeß in der SEL (und letztlich die Entwicklung hin zum Gesetz von 1919) zu erklären vermag, soll wiederum im Vergleich mit den Verhandlungen des DJT untersucht werden.

32

b) Privatrechtliche contra öffentlich-rechtliche Auffassung des Tarifvertrags?

Die zitierte These kann sich auf die Widerspruchsklausel stützen, die es jedem Mitglied einer Vertragspartei erlaubte, binnen 14 Tagen vom abgeschlossenen Tarifvertrag zurückzutreten. Wer von dieser Möglichkeit zum Widerspruch nicht Gebrauch machte, sollte als tarifvertraglich gebunden gelten. Niemand sollte gegen seinen erklärten Willen in den Geltungsbereich des Tarifvertrags gelangen. Auf dem DJT wurde diese Klausel nach heftigen Diskussionen verworfen, in Frankreich nach ebenso lebhaften Auseinandersetzungen in den Text der SEL und schließlich des Gesetzes aufgenommen.37

33

Diese Regelung war schon in den Text der Sous-Commission von Saleilles eingeführt worden, um den persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags bestimmen zu können, und auf die ungleich schwerfälligere und weniger praktikable Lösung einer ausdrücklichen, schriftlichen Bevollmächtigung der Unterhändler verzichten zu können. Auch die Berichterstatter des DJT wollten das Recht zum individuellen Rücktritt vom Tarifvertrag innerhalb eine kurzen Frist im Gesetz verankert sehen und stießen mit diesem Vorschlag durchaus auf Zustimmung, so z.B. bei Waldemar Zimmermann. Dieser begrüßte die Widerspruchsklausel gerade, weil sie den rein privatrechtlichen Charakter des Tarifvertrags unterstrich. Die Klausel scheiterte letztlich nicht an der Idee der Normsetzungsmacht der Verbände, die noch gar nicht formuliert war,38 sondern an praktischen Einwänden der Gewerberichter, die das „Schutzgesetz für die Querköpfe“ ablehnten. Aus taktischen Erwägungen, nämlich um ein einstimmiges Votum des DJT nicht zu gefährden, ließen die Berichterstatter die Widerspruchsklausel am Ende fallen.

34

Festzuhalten bleibt, daß der DJT 1908 den privatrechtlichen Charakter des Tarifvertrags noch schärfer betonte als die SEL. Während Junck die Verpflichtung des tarifgebundenen Arbeitgebers bestritt, dem nicht-organisierten Arbeitnehmer den Tariflohn zu zahlen, betonte der Entwurf der SEL die Verpflichtung der Tarifparteien, auch gegenüber Dritten den Tarifvertrag zu beachten. Eine ausdrückliche Regelung, wonach der Arbeitgeber, der mit einem nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer tarifwidrig abschloß, seinem Verband haftete, erklärte Colson für überflüssig, weil der Arbeitgeber ohnehin allen Beschäftigten den gleichen Lohn zahle. Der Regierungsentwurf stellte diesen Artikel der Sous-commission jedoch wieder her - nach Ansicht der Zeitgenossen eine „décision radicale“ zugunsten des normativen Charakters des Tarifvertrags.39 Daß die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gleichstellung der nicht-organisierten Arbeitnehmer unter französischen Juristen schon 1908 Konsens war, erklärt vielleicht, warum das Gesetz von 1950, ebenfalls ohne Aufhebens zu machen, die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags auch für solche Verträge festschrieb (effet erga omnes).40

35

Die Wirkung des Tarifvertrags ausschließlich auf die Mitglieder der vertragsschließenden Verbände zu beschränken, war der SEL schon deshalb nicht möglich, weil sie anders als der DJT den unbegrenzten Tarifvertrag, also den Vertragsschluß mit einem unorganisierten Kollektiv von Arbeitnehmern, aus ihren Überlegungen nicht ausgeschlossen hatte. Der alte Tarif, der innerhalb seiner räumlichen Grenzen für die Gesamtheit der Berufsangehörigen galt, der Anspruch der Streikkomitees ebenso wie der Gewerkschaften, die Interessen aller Beschäftigten zu vertreten, war auf diese Weise in den Debatten der SEL präsent. Die Rücktrittsklausel, die auch im Schweizer Tarifvertrag-Gesetzentwurf von Lotmar und Sulzer im Zusammenhang mit dem unbegrenzten Tarifvertrag auftaucht, erschien Saleilles gerade notwendig, um den Tarifvertrag auf Nicht-Organisierte anwenden zu können.41 Der DJT jedoch klammerte schon in der Fragestellung den unbegrenzten Tarifvertrag aus und ging auf das Problem der Nichtorganisierten kaum ein, obwohl Junck erkannte, daß die Tarifparteien selbst ein Orts- bzw. Gewerbestatut anstrebten. Darüberhinaus war in beiden Ländern herrschende Lehre, daß auch unbegrenzte Tarifverträge echte Tarifverträge seien.

36

Die Wahrnehmung der Tarifvertrags-Praxis spielte hier wieder eine entscheidende Rolle. Deutsche Juristen argumentierten, es gebe kaum noch unbegrenzte Tarifverträge; diese Frühform des Tarifvertrags sei immer mehr zurückgetreten. Über genaue Zahlen verfügten sie jedoch nicht, da die Tarifstatistik auf den von den Verbänden gemeldeten Abschlüssen beruhte. Weil der von Gewerkschaften abgeschlossene Tarifvertrag juristisch viel einfacher zu konstruieren war, und die Mehrzahl der Tarifvertrags-Experten grundsätzlich eine gewerkschaftsfreundliche Haltung einnahm, fragte die herrschende juristische Meinung in Deutschland nicht länger nach den unbegrenzten Tarifvertrag.42 Die Mitglieder der SEL dagegen argumentierten, die Mehrheit aller Tarifverträge werde von Streikkomitees abgeschlossen – wiederum in Unkenntnis der tatsächlichen Zahlen, die vermuten lassen, daß schon 1908 70% der Tarifverträge von Gewerkschaften abgeschlossen wurden. Kognitive und normative Voraussetzungen für eine Privilegierung der Gewerkschaften als Tarifparteien fehlten in Frankreich. Diese unterschiedlichen Definitionen des Tarifvertrags wirkten wieder auf die Tarifvertrags-Praxis zurück: die deutsche Rechtsmeinung legitimierte die vorhandene Tendenz zum Verbandstarif, die französische legitimierte den unbegrenzten Tarifvertrag bzw. Firmentarif und bestärkte damit Arbeitgeber, die sich weigerten, mit Gewerkschaften abzuschließen,43 vielleicht auch Gewerkschaften, die sich hinter Streikkomitees versteckten.44

37

Der Vergleich mit dem deutsche Tarifrecht zeigt, daß nicht das Festhalten am Zivilrecht, die strikt vertragsrechtlicher Auffassung des Tarifvertrags, die bindende Wirkung des Tarifvertrags im französische Recht beeinträchtigte, sondern vielmehr die bewußte Abschwächung der vertragsrechtlichen Bindungen und Schwächung des potentiellen Vertragspartners, nämlich der Gewerkschaften. Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz an der Zulassung von contrats à durée indéterminée.

38

Der Entwurf der Sous-Commission hatte für Tarifverträge eine maximale Laufzeit von drei Jahren festgelegt; versäumten die Tarifparteien, die Gültigkeit des Vertrages zu befristen, so sei eine Laufzeit von einem Jahr anzunehmen. Der Gesetzentwurf Sarrien/ Doumergue hatte die maximale Dauer auf fünf Jahre verlängert. 1907 jedoch erklärte die Commission du travail der SEL Tarifverträge ohne Befristung, die nach Art. 1780 CC jederzeit einseitig kündbar waren, für zulässig. Doch nicht nur jede Vertragspartei konnte den Tarifvertrag jederzeit aufkündigen, auch jedes einzelne Mitglied einer Vertragspartei konnte, durch Austritt aus dem Verband, jederzeit seine Verpflichtungen aus dem Tarifvertrag beenden.45 Erstaunlicherweise gab es dazu im Plenum keine Diskussion. Colson begründete lediglich die Berechtigung zum individuellen Rücktritt damit, daß niemand solange an einen Vertrag gebunden bleiben dürfe, bis es der Mehrheit seines Verbandes gefalle, den Vertrag zu kündigen. Was aber den Ausschlag gegeben hatte, überhaupt Verträge à durée indéterminée zuzulassen, erläuterte er nicht. Die Motive des Regierungsprojektes von 1910 führen aus, daß diese Form des Tarifvertrages zwar nicht empfehlenswert sei, weil sie der Sicherheit und Stabilität des Vertrages zuwiderliefe, doch sei es „contraire aux principes de droit civil“, ihn zu verbieten.

39

Offensichtlich verfolgten die beiden Entwürfe, der der Sous-Commission und der der Commission, entgegengesetzte Absichten. Die Sous-commission unter Leitung Saleilles hatte versucht, einen bindenden schuldrechtlichen Vertrag zu verankern, der einseitige Änderungen der vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen, ebenso wie den Einsatz von Arbeitskampfmitteln für die Dauer des Vertrages ausschloß. Die Commission und ihr Berichterstatter optierten für ein Höchstmaß an Flexibilität, das dem einzelnen Arbeitgeber die Anpassung der Löhne je nach Bedarf erlaubte, ihm aber außer einer Kündigungsfrist von einem Monat keine Garantie gegen Streiks bot. Damit entschieden sie sich gegen die vertragsrechtliche Auffassung der Zivilrechtler. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war wieder die eingangs beobachtete Verdrängung der Tarifvertragsexperten und die geringe Rezeption sozialreformerischer Konzeptionen vom Tarifvertrag als Mittel zur Streikvermeidung und sozialen Befriedung.

40

Daß das Problem der Friedenspflicht in der SEL gar nicht thematisiert wurde, ist umso verwunderlicher, als die friedensstiftende Wirkung des Tarifvertrags ja lange Zeit als sein wesentliches Merkmal gegolten hatte. Aber tatsächlich kreisten alle Überlegungen zur Haftpflicht der Arbeitnehmerseite, also auch die Auseinandersetzung darum, wie sich die Tarifgebundenheit eines Arbeitnehmers nachweisen ließe, nur um den Abschluß tarifwidriger Arbeitsverträge durch einzelne Arbeitnehmer, nicht aber um den Verzicht der Gewerkschaft auf Einsatz von Arbeitskampfmitteln. Unter diesen Umständen scheint die lange, von den Vertretern der Arbeitgeber immer wieder entfachte Diskussion über die Haftung und Zahlungsfähigkeit der französischen Gewerkschaften absurd. Ebenso wie der Begriff der Friedenspflicht fehlt die Idee der regelmäßigen Revision des Tarifs – hier wäre zu untersuchen, ob Vorstellungen von einer weitgehend statischen Volkswirtschaft die öffentliche Meinung, und auch das Bild von der Convention d’Arras oder dem Tarif d’Armentières als eines „ewigen“ Tarifs prägten.

41

Die Entscheidung der SEL und des Gesetzgebers zugunsten der contrats à durée indéterminée wirft also eine ganze Reihe von Fragen auf, deren Erforschung umso dringlicher ist, als diese Form des Tarifvertrags das französische Tarifrecht bis in die V. Republik prägte. Anfang der 70er Jahre konstatierten französische Juristen, daß Arbeitgeber wie Gewerkschaften unbefristete Tarifverträge bevorzugten. Die Institution regelmäßig wiederkehrender Tarifverhandlungen mit ihren Ritualen, so typisch für Deutschland, habe sich deshalb bisher nicht herausgebildet.46 Das französische Gesetz von 1971 zielte eigens darauf, solche Verhandlungen zu fördern. Für uns ergibt sich daraus die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Billigung des unbefristeten Tarifvertrags durch Doktrin und Gesetzgebung, und der Entwicklung des konventionellen Tarifrechts, bis hin zum Wandel von Arbeitskampfpraktiken und gewerkschaftlichen Strukturen. In der Praxis entsprach nämlich der unbefristete Tarifvertrag dem alten Ortstarif, wie ihn auch Lotmar beschrieben hatte.47 Er war kaum mehr als die schriftliche Fixierung des geltenden Rechts und Gewohnheit, garantiert weniger durch die Parteien, deren Beziehung zueinander mangels regelmäßiger Verhandlungen, gegenseitiger Verpflichtungen, gemeinsamer Organe unterentwickelt blieben, als durch die Rechtsprechung.48 Der befristete Tarifvertrag hingegen, dem sich keine Partei und kein einzelnes Mitglied vor Ablauf der Frist entziehen konnte, war verbunden mit Erwartungen an die Tariftreue, die Einhaltung der Friedenspflicht, daher mit Schlichtungskommissionen zur Regelung von Konflikten im laufenden Tarifvertrag, und mit Verhandlungen nach Ablauf des Vertrags. Weil ein Arbeitskampf nach Ablauf des Vertrages alle bis dahin tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber betraf, schufen befristete Tarifverträge einen Anreiz, Streiksfonds anzulegen, zu diesem Zwecke Mitgliedsbeiträge anzusparen, Verhandlungsdelegationen aufzustellen usw. Umgekehrt erlaubten Tarifverträge mit unbestimmter Dauer an der Praxis der grève tournante festzuhalten, und so auf die Bildung von Streikfonds zu verzichten. Lose Strukturen, fluktuierende Mitgliederschaft und geringe Mitgliedsbeiträge behinderten dann die Streikfähigkeit nicht, wirkten aber wiederum zurück auf die Akzeptanz der Gewerkschaften als Tarifpartner.

42

Auf welche Weise aber sich solche Praktiken und Strukturen im Tarifrecht niederschlugen, welchen Einfluß die Gewohnheiten und Präferenzen der am Tarifvertrag beteiligten Akteure auf die juristische und politische Meinungsbildung hatten, bleibt zu erforschen. Unser Fallbeispiel läßt jedenfalls die Annahme nicht zu, französische Juristen hätten aus Rücksicht auf die Streikpraktiken der Gewerkschaften unbefristete Tarifverträge legalisiert. Umgekehrt müßte erforscht werden, ob es Rückwirkungen der juristischen Debatten auf die Tarifpraxis gegeben hat, ob also z.B. deutsche Gewerberichter beim Abschluß von Tarifverträgen auf eine Befristung drängten. Ein solches methodisches Vorgehen, bei dem sich der Vergleich des konventionellen Tarifrechts mit dem Vergleich des positiven Tarifrechts und der Vergleich des Verhältnisses beider zueinander kreuzen, scheint geeignet, nationale Stereotypen über den Charakter der Gewerkschaften und der „relations professionnelles“ zu überwinden.

43

Fußnoten:

1 Comité d‘histoire des administrations du travail, Appel à projets de recherches, März 2004, S.4

2 „Die Tarifbeziehungen in Frankreich sind schwach ausgeprägt. Ein erstes Merkmal der französischen Tarifbeziehungen ist die Tatsache, daß die Praxis der Tarifverhandlungen sich nicht auf eine in den Arbeitsbeziehungen fest verankerte geschichtliche Tradition stützen kann. ... Obwohl sie 1919 gesetzlich anerkannt wurden – bis zu diesem Zeitpunkt wurden sie im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Industrieländern nur am Rande praktiziert -, haben sich die Tarifbeziehungen erst seit 1936 ... wirklich entwickelt.“ LEO KIßLER/ RENÉ LASSERE, Tarifpolitik. Ein deutsch-französischer Vergleich, Frankfurt/ New York, Campus, 1987, S.23.

3 Richtig: Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23.12.1918, Reichsgesetzblatt 1918, S.1456-1467, hier S. 1456-1457.

4 Loi relative aux conventions collective, J.O. 28.3.1919, S.3182f

5 SABINE RUDISCHHAUSER/BÉNÉDICTE ZIMMERMANN, "Öffentliche Arbeitsvermittlung" und "Placement public" (1890-1914). Kategorien der Intervention der öffentlichen Hand - Reflexionen zu einem Vergleich, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 5,1995, S.93-120, hier S.115. Dort weitere Literatur zum Problem des asymmetrischen Vergleichs.

6 Der Tarifvertrag im deutschen Reich. 3 Bde, Beiträge zur Arbeiterstatistik Bd.3, Berlin 1906. Statistique des contrats collectifs en 1910, in: Bulletin de l’Office du travail, 1911, S. 474-476.

7 so schon SIEGMUND RUNDSTEIN, Die Tarifverträge im französischen Privatrecht, Leipzig, Hirschfeld, 1905.

8 Als Tarifverträge gezählt wurden Vereinbarungen, die durch Verhandlungen zwischen den betroffenen Parteien, mit oder ohne Vermittlung Dritter, zustandegekommen waren und die zukünftigen Arbeitsbedingungen, also nicht „questions de personnes“ wie z.B. die Entlassung eines unbeliebten Werkmeisters betrafen. Weil in Frankreich auch landwirtschaftliche Arbeiter streikfähig waren und zahlreiche Tarifverträge abschlossen, wurde die Zahl der tarifvertraglich geregelten Arbeitsverhältnisse zur Zahl der insgesamt abhängig Beschäftigten in Bezug gesetzt, während in Deutschland nur die der Gewerbeordnung unterliegenden Beschäftigten gerechnet wurden.

9 Verhandlungen der ... Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik, (=Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 47), Leipzig, Duncker & Humblot,1890.

10 Der Tarifvertrag im deutschen Reich, a.a.O., S.1.

11 Besonders krass bei EDOUARD CAILLEUX, Le contrat collectif de louage de travail, in: Annales des sciences politiques, 19. Jg, 1904, S.507-521 und 741-756, hier S.744: „Le tarif de 1880 n’empêche pas la grève de 1886.“

12 RUNDSTEIN, Tarifverträge, a.a.O., S. 27f. Sehr deutlich dazu PHILIPP LOTMAR, Empfiehlt sich die gesetzliche Regelung des gewerblichen Tarifvertrags?, in: Deutsche Juristenzeitung, XIII. Jg., 1908, Sp. 902-909, abgedruckt in: Ders., Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, hrsg. und eingeleitet von JOACHIM RÜCKERT, Frankfurt a.M., Keip Verlag, 1992, S.565-573, hier S. 569: „Der Umstand nun, daß der Tarifvertrag ... falls er gar eine Bestimmung der Geltungsdauer enthält, zugleich eine Ruhefrist setzt, was Ausständen und Aussperrrungen entgegenwirkt ... hat manche Theoretiker wie das weitere Publikum dazu verleitet, in dem, was der Tarifvertrag zur Folge haben kann, geschichtswidrig das Wesen, die Hauptsache zu erblicken...“

13 CLAUDE DIDRY, Naissance de la convention collective. Débats juridiques et luttes sociales en France au début du 20e siècle, Paris, Editions de L’EHESS, 2002, S.77f.

14 FRIEDHELM BOLL, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19. zum 20. Jhdt., Bonn, J.H.W.Dietz, 1992, S.293.

15 SABINE RUDISCHHAUSER, Salaire minimum et libre concurrence. Le rôle de la demande publique dans la constitution d’un marché national du travail. France-Allemagne, 1890-1914, in: : B. ZIMMERMANN /C. DIDRY / P.WAGNER (Hrsg.), Le travail et la nation. Histoire croisée de la France et de l’Allemagne. Paris, Editions de la maison des sciences de l’homme, 1999, p.199-221.

16 DIDRY, Naissance, a.a.O., S.82.

17 BOLL, Arbeitskämpfe, a.a.O., S.293 und 291.

18 ALFONS BÜRGE, Vom polizeilichen Ordnungsdenken zum Liberalismus. Entwicklungslinien des französischen Arbeitsrechts in der ersten Hälfte des 19. Jhdts., in: Archiv für Sozialgeschichte 31, 1991, S.1-25, hier S. 15-17.

19 JÜRGEN SCHRIEWER/ KLAUS HARNEY, Beruflichkeit versus culture technique. Contribution à la sémantique du travail en France et en Allemagne, in: ZIMMERMANN/ WAGNER/ DIDRY, Le travail, a.a.O., S.107-146.

20 Bulletin de la Société d’études législatives, Bd. 6, 1907, S.180-215, 421-429, 505-561; Bd.7, 1908, S. 33-45, 79-88, 287-303. Verhandlungen des 29. Deutschen Juristentages zu Karlsruhe 1908, Berlin, J.Guttentag, 1909, 5 Bde. Zur SEL vergl. DIDRY, Naissance, a.a.O., S. 141-160; zum DJT vergl. RENATE KÖHNE, Nationalliberale und Koalitionsrecht. Struktur und Verhalten der nationalliberalen Reichstagsfraktion 1890-1914, Frankfurt a.M., Peter Lang, 1977, S. 222f, und ROLF NEUHAUS, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer. Sozialpolitische Konfliktregelung 1900-1914, Berlin, Duncker & Humblot 1986, S.96-104.

21 Cass. Réun. 5. 4. 1913, Sirey, 1920, S.49-59.

22 RAINER SCHRÖDER, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach, Verlag R. Gremer, 1988, (=Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd.69), S.365-370.

23 Die beiden Texte einander gegenübergestellt in Bulletin de la SEL, Bd.5, 1906, S.507-529.

24 Auf diesem Text beruhte dann der zweite Regierungsentwurf BARTHOU/ VIVIANI von 1910. Barthou war Gründungsmitglied der SEL.

25 Projet de loi relatif aux conventions collectives du travail, présenté par M. Barthou et Viviani, 11.7.1910, J.O. Doc. Chambre, Nr.298, S.657-659; J.O. Débats Chambre, 29.7.1913; J.O. Débats Sénat, 27.2.1919, 4.3.1919; Loi relative aux conventions collectives de travail , 25.3.1919, J.O. 28.3.1919, S.3182f.

26 DJT 1908, Bd.5, S.38 und 40-46.

27 SCHRÖDER, Entwicklung, a.a.O., S.549

28 Zum elitären Charakter der SEL vergl. die kritischen Anmerkungen des Außenseiters Duguit zur Arbeit der SEL in Sachen Tarifvertrag: „les plus savants juristes de France“ dont „le travail ne tenait pas debout“. LÉON DUGUIT, Les transformations générales du droit privé depuis le Code Napoléon, Paris, Alcan,1912, S.126.

29 Vergl. JACQUES LEGOFF, La naissance des conventions collectives, in: Droits, 12, 1990, S.67-79.

30 LÉON DE SEILHAC, Contrats collectifs de travail, in: Musée social, documents, 1905, S.257-296, PAUL BUREAU, Le contrat de travail, Paris, Alcan, 1902; PAUL DE ROUSIERS, Le trade-unionisme en Angleterre, Paris, Colin, 1897.

31 Die Association nationale française pour la protection légale des travailleurs war die französische Sektion der gleichnamigen Association internationale; die Gesellschaft für soziale Reform die deutsche Sektion.

32 Vergl. YVON LE GALL, Raoul Jay et le droit du travail, in: JEAN-PIERRE LE CROM (Hrsg.), Les acteurs de l’histoire du droit du travail, Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2004, S. 41-58.

33 LUCETTE LEVAN-LEMESLE, L’institutionnalisation de l’économie politique en France, in: YVES BRETON/ MICHEL LUTFALLA (Hrsg.), L’économie politique en France au XIXe siècle, Paris, Economica, 1991, S. 355-388. Vergl. das Urteil über Colson in R. VON WAHL, Die politische Ökonomie in Frankreich, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd.2, 1905, S. 139-202, hier S.170f.

34 Die gleiche Haltung nahmen liberale Politiker zu Arbeiterschutzgesetzen ein, indem sie nicht nur lange Übergangsfristen, sondern Ausnahmen für wirtschaftlich schwache Arbeitgeber schufen, die diesen erlaubten, auf Kosten der Gesundheit ihrer Arbeiter mit ihren stärkeren Konkurrenten mitzuhalten. SABINE RUDISCHHAUSER, Vertrag, Tarif, Gesetz. Der politische Liberalismus und die Anfänge des Arbeitsrechtes in Frankreich 1890-1902, Berlin, Berlin Verlag Arno Spitz, 1999 (=Studien des Frankreich-Zentrums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bd.4), S.263f.

35 Man beachte nur die Bezeichnung „Tariftreuegesetz“.

36 So z.B. G.H. CAMERLYNCK (Hrsg.), Traité du droit du travail, Bd. 7: MICHEL DESPAX, Conventions collectives, Paris, Libr. Dalloz 1966, S.27-36.

37 Für die französische Kritik an der Widerspruchsklausel z.B. Arthur Fontaine, Leiter der Direction du travail im Arbeitsministerium: „Lorsqu’on conclut une convention collective ... on ne se défile pas aprés des négociations auxquelles on a pris part. Cela me paraît essentiel pour la moralité du contrat collectif (...) Le droit pour chacun de se retirer (...) supprime la convention collective dans son principe même.“ CAMILLE PERREAU/ FRANÇOIS FAGNOT, Le Contrat de travail. Examen du projet de loi du gouvernement sur le contrat individuel et la convention collective. Rapports... Compte rendu des discussions. Voeux adoptés, Paris, Alcan, 1907, (=Association nationale frç. pour la protection légale des travailleurs, Bd.4), S. 80-81.

38 Nach Ramm gab erst eine Bemerkung Kulemanns während der Debatte des DJT Sinzheimer den entscheidenden Anstoß für seine Überlegungen zur Autonomie der Tarifparteien. THILO RAMM, Die Parteien des Tarifvertrags. Kritik und Neubegründung der Lehre vom Tarifvertrag, Stuttgart, G.Fischer, 1961, S.40.

39 PIERRE LOUIS-LUCAS, Les conventions collectives de travail, in: Revue trimestrielle de droit civil, 19. Jg., 1919, S.65-83, hier S.81. Mit dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Tarifvertrags als „charte industrielle“ begründete Saleilles schon 1908 die Verpflichtung der Arbeitgeber, auch nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmern Tariflohn zu zahlen. RAYMOND SALEILLES, Note sur le contrat collectif de travail, in: Bulletin de la SEL, Bd. 7, 1908, S.79-88, hier S. 86. Vergl. auch LOTMAR, Empfiehlt sich, a.a.O., S.570, der in dieser Verpflichtung des tarifgebundenen Arbeitgebers die Möglichkeit sieht, den Geltungsbereich des Tarifvertrags auf bestimmte Personen zu begrenzen.

40 MARIE-LAURE MORIN, Démocratie sociale ou démocratie politique? La loi du 11 fevrier 1950 sur les conventions collectives, in: JEAN-PIERRE LE CROM (Hrsg.), Deux siècles du droit du travail, Paris, Ed. de l’atelier, 1998, S.179-191, hier S.186.

41 SALEILLES, Note, a.a.aO., S.83f.

42 RAMM, Die Parteien, a.a.O., S.36f.

43 EUGÈNE FOURNIÈRE, M. Méline et le Contrat collectif, in: Revue socialiste, Bd. 40, 1904, S.385-389, hier S.387.

44 So SALEILLES These in seinem Vorwort zu CHARLES DE VISSCHER, Le contrat collectif de travail. Théories juridiques et projets législatifs, Gand, 1911, S. XVI.

45 Daß der Austritt aus dem Verband nach Ablauf der 14tägigen Rücktrittsfrist nicht mehr von der Bindung an den laufenden Tarifvertrag befreien könne, war 1908 Konsens auf dem DJT und entsprach, so Meschelsohn, dem Rechtsgefühl. DJT 1908, Bd.5, S.67 und 88f. Boivin-Champeaux setzte in den parlamentarischen Beratungen durch, daß ein Austritt aus dem syndicat professionnel gemäß Art. 7 des Gesetzes von 1884 von der Bindung auch an den befristeten Tarifvertrag befreite. J.O., Sénat, Débats, 22.6.1917, S.622f, und 27.2.1919, S.211.

46 GÉRARD ADAM/ JEAN-DANIEL REYNAUD/ JEAN-MAURICE VERDIER, La négociation collective en France, Paris, Les Editions ouvrières, 1972, S. 83f.

47 LOTMAR, Empfiehlt sich, a.a.O., S.568.

48 So auch DIDRY, der dem Tarifvertrag in Frankreich vor 1919 in erster Linie die Funktion zuschreibt, das durch die Rechtsprechung gefährdete Gewohnheitsrecht zu stabilisieren, also die „usages“ gerichtsfest zu machen. DIDRY, Naissance, a.a.O.




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