Artikel vom 19. März 2012
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ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
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http://www.forhistiur.de/zitat/1203kroppenberg.htm
1Die folgende Geschichte spielt in der Stadt Ragusa, dem heutigen Dubrovnik. Es ist das Jahr 1377. Der Rat der Stadt hat beschlossen, eine Quarantänestation einzurichten, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern.1 Unter den Internierten befindet sich der römische Kaufmann Piachi, sein minderjähriger leiblicher Sohn aus erster Ehe, Paolo, sowie ein Junge unbekannter Herkunft namens Nicolo. Der Handelsherr hatte sich des hilflosen Kindes angenommen. In der Quarantäne steckt sich Paolo bei Nicolo an und stirbt. Als die Ausreise wieder möglich ist, nimmt Piachi statt seiner Nicolo mit nach Rom, lässt ihn zu seinem Geschäftsnachfolger ausbilden und überträgt ihm zu Lebzeiten sein gesamtes Vermögen. Zuvor hatte Piachi ihn mit Einwilligung seiner zweiten Frau, der jungen Elvire, adoptiert, die aufgrund des fortgeschrittenen Alters Piachis keine Hoffnung mehr hat, noch leibliche Kinder mit ihm zu haben. Hinzu kommt, dass das Ehepaar eine „Josephs-Ehe“ führt.2 Elvire ist in einer idolatrischen Leidenschaft zu einem Jüngling Colino befangen, der ihr einst das Leben rettete und dabei seines verlor.
2Nicolo lässt sich mit korrupten Vertretern des Kirchenstaates ein. Seine vernachlässigte Frau stirbt samt dem gemeinsamen Kind im Wochenbett. Der junge Mann verrennt sich in dem Gedanken, die Verehrung der Adoptivmutter für Colino3 beziehe sich auf ihn und unternimmt es, sie in der Maske ihres Retters zu verführen – eine Tat, die Elvire nicht verwinden kann. Sie stirbt. Vom Vater inflagranti betroffen verweist der Sohn den Vater des Platzes. Piachis Antrag auf Rückübertragung seines Vermögens wird von besagten Kirchenvertretern abgewiesen. Der Sohn fällt durch die Hand des Vaters. Dafür wird Piachi wegen Mordes zum Tode verurteilt und verweigert noch vor der Vollstreckung die Absolution, um Nicolo in der Hölle wiederbegegnen und sich weiter an ihm rächen zu können.
3Bei der Geschichte handelt es sich um die Erzählung „Der Findling“ von Heinrich von Kleist aus dem Jahre 1811.4 Sie folgt der Erzählregel, dass eine Geschichte erst zu Ende ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat.5 Dass sich das so verhält, verdankt sich dem Konzept der Adoption. Kleist inszeniert die „Logik der Substitution“6. Alle Personen sind „zweite Besetzungen“7. Ihre Kommunikation ist gestört; ihre Beziehungen steril und sinnentleert. Aus dem organischen Sein ist mechanischer Schein geworden. Nicolo erscheint als der künstliche Mensch, die monströse Verkörperung einer Fiktion. Sie setzt zwei als ungleich erkannte Personengruppen, die natürlichen und die rechtlichen Abkömmlinge, statusrechtlich gleich8 und kann doch materielle Vergleichbarkeit zwischen beiden nur höchst unvollkommen nachbilden. Das kreative Potenzial der Fiktion führt in Tod und Verderbnis.
4Das ist eine – zeitgebunden pessimistische – Lesart des Satzes adoptio naturam imitatur.9 Das späte 18. Jahrhundert hält auch optimistischere Beurteilungen bereit.10 Das Unbehagen, das sich aus der Ambivalenz der Adoption als eines Rechtsinstituts speist, das auf „natürliche“ Verhältnisse bezogen bleiben soll, hat es durch die Zeiten begleitet. In dogmatischen Grenz- und Reformfragen der Annahme als Kind kehren Spuren davon in unserer Gegenwart wieder. Das Unbehagen ist auch in der aktuellen Diskussion präsent, zum Beispiel in der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses des Partners einer eingetragenen Lebenspartnerschaft von der gemeinschaftlichen Fremdkind- und nach überwiegender Auffassung auch von der sukzessiven Stiefkindadoption.
5§ 9 Abs. 7 LPartG bestimmt in S. 1, dass ein Lebenspartner ein Kind des anderen allein annehmen kann. Die Vorschrift schließt damit eine gemeinschaftliche Fremdkindadoption aus, die entsprechend dem Adoptionsleitbild des Gesetzgebers11 nur Ehepaaren eröffnet ist und ihnen eine Zweitadoption ausnahmsweise ermöglicht.12 Die überwiegende Auffassung versteht die Regelung als Verbot der sukzessiven Stiefkindadoption durch einen eingetragenen Lebenspartner, weil „Kind“ im Sinne dieser Regelung nur ein leibliches Kind meine, nicht aber ein „rechtliches“, das einer der beiden zuvor adoptiert hatte.13 Zurzeit sind ein konkretes Normenkontrollverfahren14 und eine Verfassungsbeschwerde15 zur sukzessiven Stiefkindadoption beim BVerfG anhängig. Parallel dazu liegt dem Bundestag ein Gesetzentwurf zur Änderung des LPartG vor, der empfiehlt, die Vorschriften des BGB zur Annahme als Kind in toto auf eingetragene Lebenspartnerschaften anzuwenden.16 Schließlich gibt es in der laufenden Legislatur einen Antrag, die revidierte Fassung des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern zu unterzeichnen, in dem den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt wird, das Adoptionsrecht homosexuellen Paaren nationalstaatlich zu gewähren.17
6Freilich finden sich in der Diskussion – eingebettet in und überlagert von menschen- und verfassungsrechtlichen Elternrechts- und Kindeswohlerwägungen18 – auch ältere Sedimentschichten: Von der „natürlichen Eltern-Kind-Beziehung“19 ist die Rede und davon, dass der „Regelfall“ der Elternschaft die biologische sei, was im „natürlichen Recht“ zum Ausdruck komme, von dem in Art. 6 GG gehandelt wird.20 Des Weiteren kann man lesen, dass die Adoptionsregeln von dem Umstand geprägt seien, wonach „Kindererziehung zuvorderst Aufgabe einer aus Vater, Mutter und Kind bestehenden Familie“ sei und Abweichungen besonderer Rechtfertigung bedürfen.21 Bei der Adoption handele es sich nur um eine „Nachbildung“22 eben jenes Eltern-Kind-Verhältnisses, das mit leiblicher Abstammung von Personen unterschiedlichen Geschlechts assoziiert wird. Die eingetragene Lebenspartnerschaft mit Kindern erscheint als der Prototyp der juristischen Fiktion, als virtuelle „Regenbogenfamilie“ – rechtfertigungsbedürftig oder unzulässig.23
7Sind das nur „Rückzugsgefechte“ der Gegner der eingetragenen Lebenspartnerschaft auf dem Feld der Adoption?24 Mitnichten. Der Gedanke des nachahmenden Charakters der Annahme als Kind ist nicht nur bei denen anzutreffen, die sich gegen die weitere Öffnung des Adoptionsrechts für eingetragene Lebenspartner aussprechen. Er findet sich auch bei Befürwortern, so, wenn zu lesen ist, die „Elternstellung zu einem Kind (werde) immer weniger durch die Zeugung, sondern zunehmend durch die sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft vermittelt“, die das Adoptionsrecht nur „ungenügend nachbilde“25. Hier wird zwar die Chiffre „Natur“ durch die des „Sozialen“ ersetzt, der Imitationsgedanke selbst aber nur variiert.
8An den Grenzfällen der sukzessiven Stiefkind- und der gemeinsamen Fremdkindadoption von eingetragenen Lebenspartnern kann man studieren, wie sehr im Institut der Adoption nicht nur grundlegende, sondern auch grundverschiedene Konzepte von Natur und Recht als Ausdruck von Kultur schlechthin aufgerufen werden, und dass wir deren jeweiliges Mischungsverhältnis im Spiegel von zeitgebundenen Verwandtschafts26- und Familienbildern wahrnehmen.27 Wenn aber die Dogmatik ihrer Geschichte nicht auskommt, sollte man die im positiven Rechtsbegriff der Adoption eingelagerten Sinnschichten aufschlüsseln und sich hernach weitere Grenzfragen des geltenden Rechts noch einmal historisch informiert vorlegen.
9Die Geschichte der Adoption beginnt zwar nicht in Rom,28 aber das Adoptionsrecht erhält hier eine neue Prägung. Dass in Rom juristische Adoptionsformen von einer in der antiken Welt einzigartigen Variationsbreite ausgeprägt wurden, verweist auf die Affinität der römischen Gesellschaft zu dieser Art der Familienorganisation bis in die mythische Vorzeit. Die ältere Form, die Arrogation, war die Annahme eines gewaltfreien Mannes als Sohn durch einen pater familias mit dem Effekt, dass nicht nur der Arrogierte und sein Vermögen, sondern auch dessen Gewaltunterworfene an den neuen Gewalthaber fielen.29 Sie war rituell-sakralrechtlicher Natur und erfolgte öffentlich in einem zweistufigen Verfahren aufgrund des anerkennenden Beschlusses der Gesamtsiedlung.30 Die jüngere Adoption im technischen Sinne reorganisierte die Gewaltverhältnisse eines Hauskindes. Es wechselte in einem besonderen Verfahren31 von einer patria potestas in die andere, verlor dabei die agnatische Verwandtschaft zu seiner Ursprungsfamilie und damit auch sein Intestaterbrecht.32
10Das tragende Element beider Adoptionsformen bestand in der dauerhaften Veränderung der agnatischen, also über das Gewaltverhältnis bestimmten, juristischen Relation zum pater familias, jener Figur an der Spitze des römischen Sozialverbandes familia, der die Sippe, die gens, repräsentierte und durch sie den gesamten Siedlungsverband.33 Adoption war in Rom keine Paarangelegenheit, sondern die einer Einzelperson, die freilich nicht für sich allein stand. Auch ging es nicht um die Neubegründung oder den Transfer einer Eltern-Kind-Beziehung, sondern eines von vornherein rechtlich-rituell angelegten Gewaltverhältnisses.
11Alt- und rechtshistorische Studien haben ein farbiges Bild von der Adoption in der sozialen Praxis von Republik und Prinzipat gezeichnet. 34 Bei aller Vielgestaltigkeit war die römische Adoption dabei niemals nur eine subsidiäre, sondern bis in die Spätantike hinein eine alternative Strategie der Familienorganisation, die sich beim Aufbau der Verwandtschaft als hoch flexibel erwies.35 Ein Mann konnte die Rechtsbeziehung zu seinem leiblichen Sohn durch Emanzipation abbrechen und eine neue durch Adoption begründen, ebenso wie es ihm möglich war, durch Scheidung und Wiederverheiratung die verschwägerte Personengruppe durch eine andere zu ersetzen.36 Das rechtlich-agnatische Band der Adoption war dem leiblich-kognatischen ebenbürtig; der Adoptierte stand zwar in locum filii37 oder nepotis loco,38 war aber weit davon entfernt, Ersatzkind oder Kind zweiter Klasse zu sein.39
12Philosophisch geborgen war diese Anschauung in der Trennung von Natur und Zivilisation in der Tradition der skeptischen Akademie und in der stoischen Anschauung, die das Verhältnis des historischen ius civile dem Recht ohne Anfang, dem ius naturale oder ius gentium, gegenüberstellte.40 Als Institut des ius strictum war die Adoption als Teil der bürgerlichen Ordnung gekennzeichnet, als zeitlich und räumlich verortbares Organisationselement des Stadtstaats Rom losgelöst von normativen Kategorien, die ihre Regelungsanliegen an den Lebensumständen von „natürlichen“ Menschen orientieren wollten.41
13Demgegenüber war der Imitationsgedanke in der Ausprägung des aristotelischen ars imitatur naturam-Satzes im römischen Adoptionsrecht lange ein latentes Phänomen.42 Er schien auf in der Frage nach der Zulässigkeit von Doppel- oder Mehrfachadoptionen, die zunehmend kritisch bewertet wurden, plures adrogare nisi ex iusta causa, wird Ulpian schreiben,43 und in der Problematik der Adoption trotz der Existenz leiblicher Kinder. Kinderlosigkeit war im Gegensatz zum griechischen Recht keine formale Voraussetzung einer römischen Adoption.44
14Weiter war der ars imitatur naturam-Gedanke präsent in Regelungen, die eine iusta causa adrogandi nur anerkannten, wenn eine leibliche Vaterschaft nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge möglich gewesen wäre. Adoptio enim in his personis locum habet in quibus etiam natura potest habere, liest man bei Javolen.45 Natürliche oder aufgrund von Krankheit oder Altersschwäche eingetretene Zeugungsunfähigkeit waren anerkannte Fälle;46 Kastraten schloss erst Justinian von der Adoption aus.47 Er war es auch, der den Altersunterschied zwischen Adoptierendem und Adoptiertem verbindlich auf achtzehn Jahre, die plena pubertas, festlegte, weil es „monströs“ sei, dass ein Jüngerer einen Älteren adoptiere, quia adoptio naturam imitatur.48 Das war der vorläufige Schlusspunkt unter eine lange Entwicklung. Die Frage des Altersunterschiedes kennzeichnete Gaius im 2. Jh. n. Chr. noch als streitig.49 Für die Republik des Jahres 57 v. Chr. wird man von keiner festen Altersgrenze ausgehen können. Denn die Arrogation von Ciceros Erzfeind Clodius durch den jüngeren Fonteius wurde für rechtsgültig befunden,50 mochte Cicero dagegen noch so sehr wettern.51
15Die Nachbildung der Generationenfolge im Altersabstand zwischen Adoptivvater und Adoptivkind geschah zu einer Zeit, als die rechtliche Verwandtschaft gegenüber der blutsmäßigen ihren legitimatorischen Vorsprung eingebüßt hatte. Zwar konnte man den moralischen Konflikt des Sohnes, der zwischen der Loyalität zu seinem leiblichen und rechtlichen Vater hin und hergerissen war, bereits früh in der rhetorischen Literatur besichtigen.52 Erst unter Justinian trug er jedoch juristische Früchte.53 Fortan, bestimmte er, werde der Adoptierte nicht mehr aus dem rechtlichen Band zur Ursprungsfamilie gelöst,54 weil es eine „schwachsinnige Sache“ sei, dass jemand an ein und demselben Tag noch der Sohn sei und gleich darauf das „göttliche Band des natürlichen Eltern-Kind-Verhältnisses durch einen willkürlichen Akt zerschnitten werde.“55 Der Angenommene erhielt grundsätzlich nur das Intestaterbrecht nach dem Adoptierenden; die Adoption wirkte also nur vermögensrechtlich.56 Das war die Geburt der adoptio minus plena, die seither der adoptio plena, der so genannten Volladoption, gegenübersteht.57 Es ist das Regelungsmodell, das man auch heute noch in Belgien und Frankreich findet.58
16Im Mittelalter kehrten sich die Vorzeichen weiter um. Die Adoption trat gegenüber der leiblichen Abstammung in den Hintergrund. Das fügte sich ein in das große Bild, das durch zwei Grundströmungen gekennzeichnet war. Erstens, den Einfluss der Kirche, die die Adoption – insoweit mit der jüdischen Kultur übereinstimmend59 – als menschliche Manipulation und Sünde ansah, dem ausgebliebenen göttlichen Kindersegen mit eigenen Mitteln abzuhelfen, Gott ins Handwerk zu pfuschen und die Kirche damit, so etwa der Kirchenvater Salvian im 5. Jh., um das Ihre zu betrügen.60 Die Attacke richtete sich vor allem gegen die erbrechtlichen Wirkungen der Adoption. Zweitens räumte die mittelalterliche Boden- und Eigentumsordnung im Lehnrecht das Nachfolgerecht ausschließlich leiblichen Söhnen ein. So bestimmte das langobardische Lehnrecht, das in weiten Teilen Europas als maßgeblich angesehen wurde: Adoptivus filius in feudum non succedit61. Die Einschränkung der Verfügungsfreiheit nahm der Schaffung einer rechtlichen Abstammungslinie die Attraktivität.
17Auch andere Fortsetzungsstrategien, die eine Adoption hätten als das Mittel der Wahl erscheinen lassen, passten nicht in die mittelalterliche Gesellschaft: Grab- und Trauerrituale waren in den Kult der Kirche integriert, Fürsorgemotive gegenüber bedürftigen Kindern reichten nicht aus, um das Institut in der Rechtsordnung stärker zu verankern. Ähnlich wirkte sich die zunehmende Betonung der ehelichen Abstammung aus, die allenfalls die Legitimation als rechtliche Korrektur der leiblichen Abstammung erlaubte.62
18Das Adoptionsrecht blieb als „Bücherweisheit“63 präsent, was nicht besagte, dass sie überhaupt nicht mehr praktiziert wurde.64 Auch gab es auf dem Gebiet des Vermögensrechts funktionale Surrogate, wie etwa die in den Stammesrechten verbürgte Affatomie.65 Am nächsten kam der Adoption die Einkindschaft und Morgengabskindschaft, die die Kinder aus früheren ehelichen Beziehungen einander anlässlich der Eheschließung der Eltern gleichstellten, als ob sie „in einer Mutter Leib gelegen hätten“.66 Die Stadtrechte bildeten diese Rechtspraxis ab und reagierten auf Missstände.67 Im Übrigen schwankten die gelehrten Juristen des Rezeptionszeitalters zwischen Akzeptanz und Ablehnung.68
19Methodisch wurden freilich aus dem Institut in der wissenschaftlichen Arbeit der mittelalterlichen Juristen Bolognas ganz eigene Funken geschlagen. Sie entwickelten daran das wirkungsmächtigste methodische Werkzeug, das wir Juristen kennen, die juristische Fiktion. „Fictio ergo imitatur naturam,“ schrieb Baldus, „ergo fictio habet locum, ubi potest habere locum veritas,“69 und „nota quod fictio naturae rationem atque stylum imitatur.“70 Damit greift die Jurisprudenz den aristotelischen ars imitatur naturam-Satz auf, der in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutungen zwischen Deskriptivität und Normativität oszillierte. Er ordnete menschliche Kreativität in heteronomer Abhängigkeit auf eine thomistisch verstandene Natur und deren Schöpfer hin.71 Gleichzeitig war dem Satz ein Moment des Verlusts metaphysischer Rückbindung menschlichen Schaffens und juristischen Denkens eigen.72
20Was die Adoption betrifft, trug diese Anschauung Früchte im natur- und vernunftrechtlichen Zeitalter - mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Das soll hier am Adoptionsrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 und dem französischen Code Civil von 1804 gezeigt werden.73 Letzterer verweigerte sich zunächst der Minderjährigenadoption ganz und offerierte stattdessen pragmatisch nur eine amtliche Pflegschaft, die tutelle officieuse.
21Das ALR enthielt das erste moderne Adoptionsrecht. Es konstruierte das Verhältnis zwischen Eltern und Adoptivkind als Familienvertrag.74 Das bedeutete, dass nicht mehr das Gewaltverhältnis zum Vater im Vordergrund stand, sondern gegenseitige Rechte und Pflichten.75 „Die „Gesetze,“ schrieb der federführende Redaktor Suarez, „haben diese Art Annahme als Kind zu dem Ende erfunden, damit Personen, die […] mit Kindern nicht gesegnet sind […], durch dieses Mittel sich den Trost […], welche das heilige Band zwischen Eltern und Kindern den Eltern […] gewährt, wenigstens in einigem Grade sollten verschaffen können.“76
22Die Adoption wurde damit konzeptionell zur Paarangelegenheit; Altersgrenzen und das Verbot der Annahme bei Existenz von ehelichen Kindern sollten die Ehe mit leiblichen Kindern nachschaffen. Freilich wurde diese nicht als Konkurrenz zur neuen rechtlichen verstanden; jene hat sogar ein Übergewicht, weil die Rechtsbande zu ihr bestehen blieben,77 solche zur annehmenden Familie aber nur begründeten, wenn ein „besonderer Familienvertrag“78 geschlossen wurde. Das Recht half der Natur gleichsam nach, perfektionierte sie und ergänzte die natürlichen um soziale Beziehungen, wenn das nötig und vertraglich gewollt war. Das ist die Position des Vernunftrechts zur Adoption, die Kleist im „Findling“ attackierte.79
23Die Vorstellung prägte auch den Rechtsdiskurs im nachrevolutionären Frankreich, das unmittelbar nach 1789 mit der Adoption als Mittel zur Herstellung von Wahlverwandtschaften geliebäugelt hatte.80 Der französische Jurist und Staatsmann Cambacérès betonte die gesellschaftlichen Vorzüge der Adoption „pour multiplier les familles“81. „L’adoption augmente les relations par les sentiments et ajoute un lien de plus à la société.“82 Auch der Gedanke einer „consolation des mariages stériles“83 war präsent und wurde von Napoléon selbst zunächst gut geheißen.
24Dann kam der Sinneswandel. Ab dem fünften Entwurf des Code Civil war die Annahme eines Minderjährigen nicht mehr enthalten, sondern nur eine an enge Voraussetzungen geknüpfte Volljährigenadoption.84 Die Gesetzgebungskommission hatte sich gegen die Aufnahme entschieden und folgende Gründe angegeben: Die Adoption sei in der französischen Rechtstradition ein Fremdkörper, sie nütze dem Gemeinwohl nicht und zur Verwirklichung ihrer sozialen Funktion sei sie nicht notwendig. Man unterstellte dem Adoptivvater materialistische Motive und befürchtete, dass leibliche Kinder gegenüber den adoptierten, den Kindern der Wahl, erbrechtlich das Nachsehen hätten.85
25Der Code civil enthielt sich nicht nur jedes revolutionären Adoptionspathos, er ließ bloß die Fassade eines Adoptionsrechts stehen und konstruierte mit den Mitteln des Rechts die leibliche Familie primär als vermögensrechtliche Nutzgemeinschaft unter der Herrschaft des Vaters.86 Dabei verstand man sich zu einer rein positivistischen Anschauung. Alle Adoptionen, die während der Revolutionszeit vorgenommen worden waren, wurden in ihrer Rechtswirksamkeit bestätigt. Begründung: „L’adoption est une institution purement légale; elle est entièrement régié par la volonté du législatur, nullement par les lois de la nature.“87
26Die Position der bürgerlichen Kodifikationen war das zunächst nicht. Sowohl das deutsche BGB als auch das schweizerische ZGB88 bestanden ursprünglich auf dem nur subsidiären Charakter der Adoption,89 der so genannten Annahme an Kindesstatt, und folgten strukturell dem preußischen Konzept der adoptio minus plena auf Vertragsbasis. „Wie der Angenommene nicht in die Familie des Annehmenden eintritt“, liest man in den Motiven zum BGB, „so hört er andererseits nicht auf Mitglied seiner natürlichen Familie zu sein. Das Gegentheil würde dem Zweck der Annahme, welche dem Angenommenen Vortheile, aber keine Nachteile bringen soll, und der natürlichen Grundlage der familienrechtlichen Beziehungen nicht entsprechen“90.
27Das BGB begriff Verwandtschaft als eheliche oder nicht eheliche Blutsverwandtschaft91 und unternahm zur Nachbildung des Vorbilds der leiblichen Familie die aus dem ALR bekannten Anstrengungen. Die Adoption war erstens ausgeschlossen, wenn leibliche eheliche Kinder vorhanden waren,92 nicht aber bei der Existenz (eigener) nicht ehelicher.93 Zweitens musste der Altersunterschied zwischen Adoptierendem und Adoptierten orientiert am Ehemündigkeitsalter mindestens achtzehn Jahre betragen und der Annehmende das fünfzigste Lebensjahr vollendet haben, „davon ausgehend (abermals Motive) dass in diesem Jahr die Zeugungskraft, wenn auch nicht aufgehoben, doch geschwächt und die Wahrscheinlichkeit der Erzielung eigener Kinder auf dem Wege der ehelichen Zeugung geringer geworden ist“94.
28An der Kinderlosigkeit des Annehmenden in der Ehe hat das BGB in der Folgezeit nicht festgehalten.95 Ebenso fiel der fixe Altersunterschied von achtzehn Jahren,96 auch wenn man ihn nachwievor für selbstverständlich hielt, weil nur er dem „natürlichen“ Eltern-Kind-Verhältnis entspreche.97 Das Adoptionsgesetz von 1976, das unser heutiges Adoptionsrecht grundlegte,98 kehrte dem Vertragsmodell den Rücken. Es unterschied erstmals zwischen der Volljährigen- und der Minderjährigenadoption. Letztere situierte es nicht mehr als Institut im Interesse der Annehmenden, sondern im Interesse des Angenommenen. Das formelle Gewaltverhältnis zum Vater war durch eine materiale Eltern-Kind-Beziehung ersetzt worden.
29Damit ist die Darstellung wieder bei den Grenzfragen der Adoption in der Gegenwart angelangt. Sie legen Zeugnis davon ab, wie die Vergangenheit des Rechts auf dessen Gegenwart einwirkt, in dem ältere Konzepte mit jüngeren in Konflikt geraten, zum Beispiel die Vorstellung von der Nachbildung der leiblichen Familie in der rechtlichen mit dem Kindeswohlinteresse. Dieser Konflikt rührt an die Grundfesten der Adoption und aktualisiert einmal mehr das alte Unbehagen mit dem Institut, das Rainer Frank in der Frage „Brauchen wir die Adoption?“ zum Ausdruck gebracht hat.99 Die Grenzfragen beschäftigen im Übrigen auch den europäischen Vereinheitlichungsdiskurs.100 Zum Abschluss sollen sie in drei Punkten der aktuellen Diskussion zusammengefasst werden. Sie verweisen zugleich auf die Reformbedürftigkeit des deutschen Adoptionsrechts.
30Der erste betrifft den Übergang des deutschen Rechts von der adoptio minus plena zur Volladoption im Bereich der Minderjährigen. Die volle statusrechtliche Integration in die Adoptivfamilie stellte die regelhafte Situation eines leiblichen ehelichen Kindes nach - eine Änderung, die 1976 noch uneingeschränkt als „Fortschritt“ bewertet wurde, weil sie die rechtliche „Zwitterstellung“ des Kindes beendete.101 Sie ist der Rechtssicherheit sicher zuträglich, ob sie dem Kindeswohl entspricht, daran hat man heute berechtigte Zweifel.102
31Zwar ist der Abbruch tatsächlicher Beziehungen zur Ursprungsfamilie keine juristische Adoptionsvoraussetzung. Faktisch wird er jedoch durch den Grundsatz der Inkognitoadoption herbeigeführt, der in Europa immer noch Leitbildcharakter hat.103 Das Geheimnis der Herkunft eines adoptierten Kindes,104 stürzt, wie moderne sozialwissenschaftliche Erkenntnisse lehren, das Kind in Identitätskonflikte.105 In Deutschland ist das Inkognito einseitig ausgestaltet.106 Die leiblichen Eltern kennen die Adoptiveltern nicht, wohl aber umgekehrt. Über die Zweckmäßigkeit dieses Modells wird seit längerem nachgedacht.107 Rechtlich handelt es sich um eine niedrigere Gewichtung des Interesses der Erzeuger auf Geheimhaltung ihrer Identität gegenüber dem Interesse des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung. Diese Abwägung steht den Mitgliedsstaaten nach Art. 22(3) des schon erwähnten Europäischen Übereinkommens offen.108 Die Adoptionspraxis ist in Deutschland seit längerem zu Formen der offenen oder halboffenen Adoption übergegangen.109
32Der zweite Aspekt betrifft die Stiefkindadoption.110 Sie ist, obwohl im BGB nur punktuell geregelt, praktisch der häufigste Fall der Minderjährigenadoption.111 Dabei ist der annehmende Elternteil zumindest ebenso stark gegenüber dem Partner, dem so genannten internen Elternteil, motiviert wie gegenüber dem Kind. Das Bestreben durch die Adoption, die Stief- in eine „normale“ Kernfamilie umzuwandeln, was zwingend den Ausschluss des externen Elternteils voraussetzt, ist das Agens vieler Adoptionen. 112
33Es wird dann problematisch, wenn die Beziehung der Stiefeltern zerbricht, das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis zum annehmenden Teil aber fortbesteht und bis auf wenige Ausnahmen unaufhebbar ist.113 Es gibt Länder, die die Stiefkindadoption von Gesetzes wegen erschwert haben.114 In Deutschland gibt es immerhin eine Rechtsprechung, die die Anforderungen an die Ersetzung der Einwilligung des abgebenden Elternteils zur Adoption erhöht hat.115 Danach kann nicht mehr ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Annahme durch das Stiefelternteil dem Kindeswohl regelmäßig dient.116 Die soziale Beziehung zum leiblichen Elternteil erfährt, so eine besteht, eine rechtliche Aufwertung.117 Für lesbische Partnerschaften kann die Stiefkindadoption freilich dann eine gute Lösung sein, wenn es sich um ein Inseminationskind handelt.118
34Nicht glaubhaft ist der adoptio naturam imitatur-Satz schließlich bei der Annahme von Volljährigen. Die Fälle der Namens119- und Steueradoptionen120 füllen die Klatschspalten. Dennoch ist der Imitationsgedanke in der Missbrauchskontrolle des Kriteriums der „sittlichen Rechtfertigung“ im Sinne von § 1769 Abs. 1 BGB präsent.121 Die Rechtsprechung setzt es mit einer bestehenden oder objektiv zu erwartenden Eltern-Kind-Beziehung gleich. Muscheler hat das Kriterium zu Recht als „Verlegenheitsbegriff“122 bezeichnet und überzeugend dafür plädiert, „die gekünstelte, unfruchtbare und zu Widersprüchen führende Imitiation des Eltern-Kind-Verhältnisses (bei der Volljährigenadoption) einzustellen“123. De lege ferenda will er die Rechtsfolgen der Adoption demjenigen eröffnen, der sie haben möchte.124
35Das alles spricht nicht gegen die Adoption an sich,125 wohl aber gegen die krampfhafte Nachahmung eines als „natürlich“ beschriebenen, aber stets normativ aufgeladenen Leitbilds. Richtigerweise sollte sie aufgegeben werden. So plant etwa das Bundesministerium für Justiz, die Höchstaltersgrenze für Adoptionsbewerber zu flexibilisieren.126 Damit befindet es sich in guter Gesellschaft. Im Hinblick auf die sukzessive Stiefkindadoption der Partnerin einer eingetragenen Lebenspartnerschaft hat das BVerfG 2009 obiter bemerkt, der leiblichen Elternschaft gebühre gegenüber der rechtlichen und sozial-familiären Elternschaft nicht der Vorrang.127 Rechtliche Filiation wird der leiblichen als gleichwertig gleichgestellt.128
36Man kann daher die Prognose wagen, dass das Verbot der sukzessiven Stiefkindadoption für eingetragene Lebenspartner zeitnah fallen wird.129 Das bedeutet nicht den Untergang des christlichen Abendlandes, sondern nur eine Uminterpretation des Adoptionskonzepts.130 Davon gab es schon viele. Man muss vor ihnen, entgegen Kleist, keine Angst haben, vorausgesetzt, man nähert sich der Problematik historisch und dogmatisch aufgeklärt.