Artikel vom 22. Mai 2013
© 2013 fhi
ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag/Citation:
http://www.forhistiur.de/zitat/1305reich.htm
1«Regulierung» hat sich binnen weniger Jahre sowohl im politischen als auch im rechtlichen Diskurs zu einem geradezu inflationär verwendeten Begriff entwickelt. Auf politischer Ebene wird nach vermeintlichen oder tatsächlichen Skandalen regelmäßig nach «Regulierung» gerufen1 oder im Gegenteil vor überbordender «Regulierungswut»2 gewarnt. Auch in den Rechtswissenschaften hat sich «Regulierung» als feste Größe etabliert. Mehr noch: Signalisiert die Publikation von Sammelwerken tatsächlich einen «Zustand der Fülle und damit der Unübersichtlichkeit»,3 so hat das «Regulierungsrecht» dieses Reifestadium einer Wissenschaftsdisziplin innerhalb des deutschen Verwaltungsrechts bereits zum Ende der ersten Dekade des dritten Jahrtausends erreicht. 4 Freilich vermochte dieser Trend etwa in den schweizerischen Verwaltungsrechtswissenschaften zumindest bisher noch nicht Fuß zu fassen.5 Außerhalb des rechtlichen Kontexts dient der Regulierungsbegriff im Rahmen sozialwissenschaftlicher, insbesondere politikwissenschaftlicher und ökonomischer Untersuchungen, bereits seit geraumer Zeit der Analyse von Normsetzung durch staatliche – in jüngerer Zeit vermehrt auch durch nicht-staatliche – Akteure (vgl. Ziff. II/C). Zur rechtlichen und zur sozialwissenschaftlichen Dimension gesellt sich die transnationale: Der Regulierungsbegriff beruht (auch) auf einer grenzüberschreitenden Adaption von Regelungskonzepten. Zeichen dafür ist insbesondere die globale Ausbreitung des Modells der «independent regulatory agencies».6 Dieser Prozess von Inkorporation und gegenseitiger Durchdringung wird vorliegend als transnationale Diffusion von Regulierungsmodellen bezeichnet. Dagegen suggeriert der gängige Ausdruck des «(Rechts-) Transfers»7 begrifflich eine einseitige Geber-/Nehmer-Beziehung. Die Bezeichnung «legal transplant»8 schließlich vermag den Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung und Verschmelzung nur ungenügend einzufangen. 9
2Vor dem skizzierten Hintergrund erscheint es notwendig, die dogmatischen Potenziale von «Regulierung» sowohl über verschiedene disziplinäre Zugänge als auch transnational zu ergründen. Eine erste semantische, rechtshistorisch informierte und im Kontext des schweizerischen Bundesverwaltungsrechts verortete Annäherung leitet nachfolgend in eine Begriffsbestimmung im interdisziplinären, verfassungs- und verwaltungsrechtsvergleichenden Kontext über (Ziff. II). Im Anschluss wird das Konzept des «Regulierungsrechts» in den eng miteinander verwandten Staatsmodellen des «Regulatory State» (Ziff. III) und des «Gewährleistungsstaates» (Ziff. IV/ B) lokalisiert. Der rechtshistorische Zugang erfolgt unter Ziff. IV/C in Verbindung mit einer Rezension eines Sammelbandes10 über Formen der Kooperation zwischen Staat und Privaten im 19. Jahrhundert. Eine Zusammenfassung der gezogenen Folgerungen hinsichtlich des Sinngehalts und genutzter sowie möglicher, noch weitgehend brachliegender dogmatischer Potenziale von «Regulierung», «Regulierungsrecht» und «regulierter Selbstregulierung» sowie eine Identifizierung verbleibender Forschungsdesiderate runden den Beitrag ab (Ziff. V).
3«Regulierung» und «regulierte Selbstregulierung» haben als Rechtsbegriffe vornehmlich als Folge der Liberalisierung rechtlicher Monopole (Aufgabenprivatisierung) im Bereich der Post-, Fernmelde- und Energiedienstleistungen in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts größere Verbreitung gefunden. Eine Grundlage im positiven Recht hat «Regulierung» in diesem Sinn im schweizerischen Bundesverwaltungsrecht aber erst am 1. Januar 2009 mit dem Inkrafttreten von Art. 7 Finanzmarktaufsichtsgesetz erhalten: Die Bestimmung schreibt die finanzmarktrechtlichen «Regulierungsgrundsätze» (franz: «principes de réglementation»; ital.: «principi di regolazione») fest.11 «Regulierung» wohnt in diesem Kontext demnach ein normativer Gehalt inne, der sowohl Rechtsetzung als auch Rechtsanwendung einzufangen versucht.12
4Wenn in früheren Jahrzehnten in Bundesgesetzen oder für die Schweiz verbindlichen Staatsverträgen von «Regulierung» die Rede war, waren dagegen zumeist andere Phänomene angesprochen: 13 die Begradigung von Flussläufen, die Regelung des Wasserstandes von Seen und Fließgewässern, die Begrenzung des Wildbestandes oder – wie in der Übereinkunft vom 28. April 1878 zwischen der Schweiz und dem Großherzogtum Baden wegen Regulierung der Grenze bei Konstanz14 – die Bereinigung von Staatsgrenzen.15 Gleichwohl folgte bereits die vom 29. Mai 1874 datierende und bis zum 31. Dezember 1999 in Kraft stehende Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [aBV (1874)] mit dem 1958 aufgehobenen Art. 42 Bst. f einem anderen Verständnis des Regulierungsbegriffs: Demnach sollte der Bund seine Ausgaben unter anderem «aus den Beiträgen der Kantone» bestreiten, «deren nähere Regulierung (…) der Bundesgesetzgebung vorbehalten» blieb.16 Angesprochen war damit offenkundig nicht die unmittelbare, physische Einwirkung auf Naturphänomene wie Wasserläufe, Wasserstände oder den Wildbestand, sondern die normative Festlegung von Kriterien zur Berechnung der durch die Kantone an den Bund abzuliefernden Beträge (sog. «Kontingente»),17 wofür die im Auslegungsprozess gleichrangige französische Fassung des Art. 42 Bst. f aBV (1874) das Verb «régler» verwendete.18 Die kantonalen Beiträge sollten sich an der Leistungsfähigkeit der einzelnen Glieder des Bundesstaates orientieren. Während die Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803 19 und der Bundesvertrag vom 7. August 181520 diese finanziellen Verpflichtungen noch ziffernmäßig festgelegt hatten, bestimmte die erste Verfassung des nach einem kurzen Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg21) von einem Staatenbund in einen Bundesstaat transformierten schweizerischen Staatswesens – die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 – in Art. 39 Bst. e, dass die Kantone ihre Beträge auf der Grundlage einer periodisch zu revidierenden «Geldskala» zu leisten hätten. 22 Dieses 1851 erstmals als verbindlich festgelegte Gradmaß wurde unter der Geltung des vorerwähnten Art. 42 Bst. f aBV (1874) in das Bundesgesetz vom 9. März 1875 betreffend die eidgenössische Geldskala überführt.23 Mit der Wendung der «nähere[n] Regulierung» wurde folglich auf die Normierung auf infrakonstitutioneller Ebene verwiesen.
5Spätestens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dokumentieren sowohl die Wortprotokolle der Verhandlungen des schweizerischen Parlaments als auch weitere Berichte der Schweizer Regierung zu Gesetzgebungsvorhaben (sog. Botschaften des Bundesrates) mit zunehmender Deutlichkeit ein ähnliches Verständnis des Regulierungsbegriffs. So zitiert ein bundesrätlicher Bericht vom 8. März 1895 eine Petition des schweizerischen Metzgerverbandes, wonach «sich (…) in breiten Schichten der Bevölkerung die Überzeugung Bahn» breche, dass «kein Gebiet des öffentlichen Lebens so sehr einer einheitlichen Regulierung» bedürfe, «wie die Nahrungsmittelkontrolle.»24 Ferner bildeten beispielsweise «die gesamten Verwaltungsteile des Bundes»,25 das «Schießwesen»,26 die Lebensmittelfälschung,27 die Entlohnung des Bundesrates,28 nach dem Verbot des Absinthes an Produzenten auszurichtende Entschädigungen29 oder der «Verkehr mit Automobilen und Fahrrädern»30 mögliche Gegenstände der «Regulierung». Auch die Normen und Prinzipien des «Kriegsrechtes» wurden bereits im frühen 20. Jahrhundert unter den Regulierungsbegriff subsumiert.31 Dieser erfasste zudem nicht nur staatliche, sondern auch private Normsetzung: Absprachen von Kartellen32 und Satzungen privater Vereine33 wurden ebenso als «Regulierungen» bezeichnet.
6Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Bedeutung des Ausdrucks «Regulierung» auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest im Kontext des schweizerischen Bundesstaats- und Bundesverwaltungsrechts vielschichtig war: Im Einklang mit dessen etymologischen Wurzeln im lateinischen Verb «regere» (für «gerade richten», «lenken») 34 steht «Regulierung» sowohl für die Beeinflussung von Naturphänomenen (Wasserstand, Wildbestand etc.) durch direkte, physische Einwirkung als auch für die normative Steuerung durch den Staat oder Private.35
7Die gängige verwaltungsrechtswissenschaftliche Begriffsverwendung von «Regulierung» ist indessen höchstens lose mit der aufgezeigten Traditionslinie verbunden. Vielmehr dürfte sie in engem Zusammenhang sowohl mit der Verwendung des Regulierungsbegriffs durch supra- und internationale Gremien36 als auch mit der globalen Ausbreitung unabhängiger Regulierungsbehörden stehen. Letztere sind in den 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren gleichsam «epidemisch»37 wie Pilze aus dem Boden geschossen.38 Die rechtliche Ausgestaltung solcher Institutionen auf nationaler und supranationaler Ebene hat sich dabei zumeist am Vorbild der «independent regulatory agencies» des U.S.-amerikanischen Verwaltungsrechts orientiert. 39 Auch daher liegt der Schluss nahe, dass das derzeit herrschende verwaltungsrechtliche Verständnis von «Regulierung» wesentlich auf der Diffusion U.S.-amerikanischer Institutionen beruht. 40 Regulierung erscheint daher als «importiertes Konzept».41
8«Regulierung» als Begriff und Regelungskonzept fußt im U.S.-amerikanischen Verwaltungsrecht auf im 19. Jahrhundert gelegten Grundlagen. 42 Die verfassungsrechtlichen Entwicklungslinien reichen freilich weiter zurück. In der vom 17. September 1787 datierenden Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wird das Verb «to regulate» namentlich in der «commerce clause» verwendet. Diese ermächtigt den Kongress dazu, den Handel sowohl mit anderen Nationen als auch unter den Gliedstaaten und im Verhältnis zur indigenen Bevölkerung «zu regulieren».43 Die Bestimmung der Reichweite der «commerce clause» – und damit einhergehend der Bedeutung des Verbs «to regulate» – zählt auch in der Rechtsprechung des frühen 21. Jahrhunderts zu den zentralen Streitpunkten der Judikatur des United States Supreme Court. So bildete die Fragestellung, ob die «commerce clause» dem Kongress auch die Kompetenz einräumt, Private zur Versicherung von mit Krankheit verbundenen Risiken zu verpflichten, Kern der viel beachteten Entscheidung des Gerichts vom 28. Juni 2012 in Sachen National Federation of Independent Business v. Sebelius zur Verfassungskonformität des Patient Protection and Affordable Care Act («Obamacare»). 44 Die Richterinnen und Richter stellten sich dabei mehrheitlich auf den Standpunkt, «to regulate» setze eine in der sozialen Wirklichkeit vorbestehende menschliche Tätigkeit («activity») voraus, die nur nachträglich durch den Kongress Rechtsnormen unterworfen werden dürfe.45 Mit dem Verb «to regulate» räume die Verfassung dem Kongress demnach keine Befugnis ein, Personen zur Vornahme ökonomisch relevanter Tätigkeiten wie den Abschluss eines Krankenversicherungsvertrags zu verpflichten. 46 In Anlehnung an die Rechtsprechung aus dem frühen 19. Jahrhundert lässt sich «to regulate» daher mit «prescribing rules for something» umschreiben. 47 Die «commerce clause» überträgt dem Kongress demnach die Befugnis, tatsächlich vorbestehende Tätigkeiten wirtschaftlichen Charakters allgemeinen Regeln zu unterwerfen.48
9In der «Progressive Era» – also im Zeitraum zwischen 1890 und 1920 – wurde der Ausdruck «regulation» vornehmlich zur Beschreibung staatlicher Regelwerke und Institutionen verwendet, mit denen Rechtsdurchsetzung, die vormals ausschließlich Privatklägern vorbehalten war (litigation), in wichtigen Wirtschaftszweigen Verwaltungsbehörden (agencies) übertragen wurde.49 Unter geänderten politischen Voraussetzungen setzte sich dieser Paradigmenwechsel von privater hin zu administrativer Rechtsdurchsetzung in der Periode des New Deal fort und wurde förmlich multipliziert.50 Dieses Verständnis von «regulation» als von unmittelbarer staatlicher Leistungserbringung und Güterverteilung unterschiedener, regelhafter administrativer Aufsicht, Rechtsdurchsetzung und Rechtserzeugung prägt schließlich auch die zunächst auf die Vereinigten Staaten, später auf Großbritannien und seit den 1990er-Jahren auch auf die Europäische Union angewendete Figur des «Regulatory State». 51
10Besonders vor dem Hintergrund eines aus der Tradition des Common Law hervorgegangenen Verwaltungsrechts scheint demnach wesentlich, dass «regulation» erstens eine Regelbildung impliziert, die über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung einfordert. In diesem Sinn regelbildend ist nicht nur ein Rechtssatz, sondern auch die Richtlinie bzw. eine «rule» einer Verwaltungsbehörde52 oder derjenige Leitentscheid eines Gerichts, mit dem eine Rechtsfrage oder eine unbestimmte Zahl ähnlich gelagerter Fälle in grundsätzlicher Weise geklärt wird.53 Zweitens transzendiert der Regulierungsbegriff die im kontinentaleuropäischen Rechtskreis maßgebende Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Recht.54
11Der diesem Regulierungsbegriff inhärente Holismus dürfte indessen nicht nur auf die im Rechtssystem verlaufenden Traditionsanschlüsse zurückzuführen sein. Wesentlicher scheint, dass sich die «Regulierungstheorie» besonders im angelsächsischen Raum spätestens ab den 1970er-Jahren als sozialwissenschaftlicher, insbesondere politökonomisch und politikwissenschaftlich ausgerichteter Forschungsansatz etabliert, verselbstständigt und global auszubreiten begann. 55 Der anfänglich skeptische, namentlich durch George Stigler angestimmte Unterton, wonach Regulierung in aller Regel durch den betroffenen Wirtschaftssektor erarbeitet und zu dessen Vorteil konzipiert und angewendet wird (capture-Theorie),56 ist dabei einer deutlich freundlicheren Einschätzung gewichen, wonach sich Regulierung «smart», 57 «responsive»58 und «problem-centered»59 ausgestalten lässt. Parallel dazu hat sich die semantische Extension des sozialwissenschaftlich geprägten Regulierungsbegriffs zusehends erweitert. Noch in den 1990er-Jahren wurde «regulation» – zumeist in Anlehnung an Philip Selznick – als ständige Aufsicht durch eine staatliche Behörde umschrieben. 60 «Regulierung» bildete demgemäß ein Synonym zu sog. «control-and-command-regulations» (CAC) unter Ausschluss des Straf- und Strafprozessrechts.61 Auch wenn diese tendenziell staatszentrierte Begriffsumschreibung von internationalen Organisationen wie der in der Politikberatung wirkungsmächtigen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 62 nach wie vor maßgebend ist, verlegten sich im Wissenschaftskontext angesiedelte Begriffsbestimmungen vermehrt auf eine ausschließlich negative Definition, wonach «Regulierung» im Gegensatz zur staatlichen Leistungserbringung und Güterverteilung (distributive Politik) steht. 63 Bestehen bleibt damit die Differenz zwischen «Regulierung» und «Governance»: «Regulierung» erscheint als Teilmenge64 und – neben redistributiver Politik und direkter Leistungserbringung durch die Verwaltung – als eine von verschiedenen Formen von «Governance».65 Diese Abgrenzung verschwimmt dagegen gemäß einem breiteren Anklang findenden «dezentrierten», vom Subjekt der Steuerung losgelösten Ansatz zusehends:66 Demnach haben sämtliche regelhaften, intentional auf die Verhaltensbeeinflussung und -steuerung gerichteten Handlungen potenzieller Akteure – seien sie nun staatlicher, supranationaler, internationaler, transnationaler oder privater Provenienz – als «Regulierung» zu gelten. 67 In dieser Sichtweise werden etwa Staaten, die auf dem Kapitalmarkt Anleihen ausgeben, durch Ratingagenturen «reguliert». 68
12Auch wenn in der sozialwissenschaftlich dominierten, trans- und interdisziplinären Regulierungsforschung je nach Fragestellung und Fachrichtung mit einem ganz unterschiedlichen Verständnis von «Regulierung» operiert wird,69 und «regulation» daher – ähnlich übrigens wie «governance» – keiner präzisen deutschen Übersetzung zugänglich ist,70 bleibt allen Schattierungen des Begriffs gemeinsam, dass Regeln in einen Wirkungszusammenhang gestellt werden: Mit «Regulierung» sollen Wirkungen erzielt werden. 71 Diese Feststellung ist nur auf den ersten Blick «trivial».72 Recht als Produkt der Politik ist nämlich nicht stets auf die Änderung tatsächlicher Zustände gerichtet, sondern soll sich nach dem Willen der rechtsetzenden Organe zuweilen in der bloßen Demonstration von Gestaltungswillen und damit in politischer Symbolik erschöpfen.73 Von politischen Behörden ausgehende «Regulierungen» sind demgegenüber stets das Produkt instrumenteller Politik.74 Das festgestellte Charakteristikum eines Wirkungszusammenhangs ist aus einer rechtstheoretischen Perspektive insofern ertragreich, als dass das Rechtssystem als am Einzelfall orientierte, gerichtszentrierte Interpretationswissenschaft traditionell nicht auf die erzeugten Folgen hin ausgerichtet ist, sondern sich der nachgelagerten Überprüfung des Vorentschiedenen widmet. Indem der holistische Regulierungsbegriff die traditionelle interne Trennlinie des Rechtssystems überwindet, lässt sich Recht als Steuerungsinstrument im Sinne eines Elements einer an den erzielten oder erzielbaren Wirkungen interessierten Regelungstheorie verstehen.
13Vor diesem Hintergrund soll dann von «Regulierungen» die Rede sein, wenn es um die regelhafte, Folgen intendierende Einwirkung von Akteuren mit Verwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zustände geht. Epistemisch ist mit einer regulierungstheoretischen Sichtweise folglich erstens eine Erweiterung der Perspektive verbunden, die das Recht mit der inhaltlichen Dimension der Politik – der «policy» – verknüpft. Zweitens führt die Ausrichtung auf die Steuerungs- und Wirkungsebene zu einer Aufgabe der überkommenen rechtsaktbezogenen Fixierung und damit zu einem Perspektivenwechsel innerhalb der Verwaltungsrechtswissenschaft. Hierin liegt denn auch die Verbindungslinie zur «Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft», plädiert Letztere doch für eine Abkehr von der «rechtsaktbezogenen Perspektive» der Rechtswissenschaft als Interpretationswissenschaft und für eine Hinwendung zu einer Handlungs-, Entscheidungs- und Wirkungsorientierung. 75
14Zu betonen ist dabei der Stellenwert eines «differenziert-integrativen Ansatzes».76 Der Einbezug einer regulierungstheoretischen, mithin vornehmlich sozialwissenschaftlich informierten Sichtweise verpflichtet in besonderem Maß dazu, Argumente auf ihre normative Begründetheit zu überprüfen. Beispielsweise gehört die Auffassung, dass sich staatliche «Regulierungen» grundsätzlich nur bei Marktversagen oder negativen externen Effekten (Externalitäten) rechtfertigen lassen, zum Standardrepertoire einer ökonomisch informierten Regulierungstheorie.77 Aus rechtlicher Sicht vermag das Argument eines möglicherweise bestehenden Marktversagens hinsichtlich der Produktion eines bestimmten Gutes jedoch nur Indizien dafür zu liefern, ob und in welchem Maß ein öffentliches Interesse daran bestehen könnte, dass das entsprechende Gut durch ein öffentliches Unternehmen bereitgestellt wird. 78 Ob aber Marktversagen und Externalitäten die einzigen Rechtfertigungsgründe für die Existenz eines wirtschaftlich tätigen öffentlichen Unternehmens sind, lässt sich dagegen nur aufgrund der maßgebenden normativen Grundlage entscheiden.79
15Wenn nun also dem Regulierungsbegriff auch im Rechtssystem erkenntnistheoretischer Wert zukommt, folgt daraus nicht notwendig, dass ein bestimmter Teil des Rechtsstoffs über Besonderheiten verfügt, die ihn als wie auch immer definiertes «Regulierungsrecht» ausweisen. Vielmehr besteht die Vermutung, dass die Abschichtung eines besonderen «Regulierungsrechts» in der deutschen Wissenschaft vom Verwaltungsrecht wesentlich auf die legislatorische Zufälligkeit zurückgeht, dass der Regulierungsbegriff in Netzwirtschaften betreffenden Gesetzen (Telekommunikationsgesetz, Postgesetz, Energiewirtschaftsgesetz) umschrieben worden ist.80 Erst aus diesem «genetischen Kern» des Regulierungsrechts81 ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der Liberalisierung vormals staatlicher Monopole durch Aufgabenprivatisierung und einem Verständnis des Regulierungsrechts als «Privatisierungsfolgerecht». 82 Dieser Konnex erscheint indessen mit Blick auf die erstmalige positivrechtliche Verortung des Regulierungsbegriffs im schweizerischen Bundesverwaltungsrecht jenseits des Rechts der Netzwirtschaften – im Finanzmarktrecht nämlich83 – keineswegs zwingend.
16Vor diesem Hintergrund vermag es auch nicht zu erstaunen, dass über den Begriff der Regulierung im regulierungsrechtlichen Sinn Uneinigkeit herrscht:84 Teilweise wird der Begriff für zweckgerichtete, hoheitliche Einwirkungen auf soziale und wirtschaftliche Prozesse reserviert,85 wogegen eine engere Variante den Ausdruck auf die Einwirkung hoheitlichen Handelns auf bestimmte Wirtschaftssektoren oder zumindest «auf den wirtschaftlich geprägten Teil eines Lebensbereichs» reduzieren will.86 Aufgrund der dargestellten Wurzeln des Regulierungsbegriffs im angelsächsischen Rechtskreis drängt sich diese Begriffsverengung indessen nicht auf.87 Folgerichtig wird auch das Umweltrecht, dessen Gehalt sich zumindest nicht durchgehend als «wirtschaftlich» bezeichnen lässt, als «wichtiges Feld» des Regulierungsrechts identifiziert.88
17Die Charakteristiken, die jenen Rechtsgebieten gemeinsam sind, die üblicherweise dem «Regulierungsrecht» zugerechnet werden, 89 scheinen sich ohnehin nicht vollständig und direkt über den unklar konturierten Regulierungsbegriff zu erschließen.90 Kennzeichnend für die verschiedenen Referenzgebiete vom Telekommunikations- bis hin zum Abfallrecht als Teilgebiet des Umweltrechts ist vielmehr, dass sich der Staat seit dem späten 20. Jahrhundert darauf verlegt hat, bloß zu gewährleisten, dass bestimmte Leistungen – etwa im Bereich der Fernmeldedienste oder der Abfallentsorgung – überhaupt erbracht werden (Gewährleistungsverantwortung), er aber davon absieht, die entsprechenden Güter selbst durch eine Verwaltungseinheit bereitzustellen (volle Erfüllungsverantwortung als Verwaltungsaufgabe).91 Dem Regulierungsrecht zuzuordnende Rechtssätze gestalten und strukturieren daher Märkte und sind auf dauerhafte Einwirkung, Einhegung und Begleitung des Marktgeschehens hin ausgerichtet.92 In dieser Perspektive werden denn auch die Verbindungslinien zum sozialwissenschaftlich geprägten Regulierungsbegriff sichtbar: Das Regulierungsrecht adaptiert jene Umschreibung von «Regulation», die für den «Regulatory State» prägend ist (vgl. Ziff. III).
18Demnach lässt sich «Regulierung» im Sinne des Regulierungsrechts als die regelhafte, Folgen intendierende, förmliche oder schlichte, insbesondere informelle, typischerweise dauerhafte und gestaltende Einwirkung von Akteuren mit nationalen, trans-, supra- oder internationalen Verwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zustände, speziell durch Aufsicht, Rechtsdurchsetzung und administrative Rechtserzeugung, nicht aber durch unmittelbare staatliche Leistungserbringung oder Güterverteilung, umschreiben.93 Vom Regulierungsbegriff mitumfasst ist damit auch etwa die «administrative Informationsarbeit»,94 also die im transnationalen und internationalen Kontext zentrale Verhaltensbeeinflussung von Akteuren der Verwaltung, die in Netzwerken verbunden sind, durch Information («regulation by information» 95). In diesem Sinn umschrieben ist das Regulierungsrecht auch einem Verständnis als «Gewährleistungsverwaltungsrecht» zugänglich.96
19«Regulierungsrecht» erweist sich in dieser Perspektive nicht als ein nach durchgängig einheitlichen Kriterien strukturiertes, monolithisches Rechtsgebiet, das sich auf strukturell weitgehend identische Regulierungsgegenstände bezieht. Vielmehr kann «Regulierungsrecht» als heuristisches und analytisches Konzept verstanden, jene Merkmale bündeln, die für jene Rechtsgebiete charakteristisch sind, die vom Rückzug des Staates auf seine Gewährleistungsverantwortung betroffen sind.97 Der regulierungsrechtliche Ansatz bietet demgemäß das Potenzial, für identische Problemlagen im Sinne der verwaltungsrechtlichen Systembildung übergreifende Regelungsmodelle zu entwickeln. 98
20Mit dem Aspekt der Gewährleistungsverantwortung steht auch das Konzept der «regulierten Selbstregulierung» – zuweilen auch als «gesteuerte Selbstregulierung» bezeichnet 99 – in Zusammenhang. Dessen Charakteristikum liegt im Zusammenwirken von hoheitlich ordnender und einhegender Normsetzung einerseits und Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation andererseits. «Essenz des Begriffs» der regulierten Selbstregulierung ist mithin «der Verbund». 100 Hinzu tritt ein weiteres Element: Die Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation sollen durch eine hoheitliche Rahmenordnung zur Verwirklichung von als öffentlich definierten Interessen beitragen. Insofern unterstreicht die Strategie der regulierten Selbstregulierung nicht den grundrechtlich prima facie geschützten «wildwüchsige[n] Freiheitsgebrauch der Grundrechtsberechtigten»,101 sondern versucht, gesellschaftliche Selbstorganisation zur Erreichung von Gemeinwohlzielen zu kanalisieren. Der verfassungsrechtliche Freiheitsgebrauch wird insofern «regulatorisch überformt»102 und für die Verwirklichung öffentlicher Interessen in Dienst genommen. 103 Da sich die regulierte Selbstregulierung dadurch auszeichnet, dass die gesellschaftliche Selbstorganisation mit der planmäßigen hoheitlichen Einwirkung um eine auf höherem Niveau angesiedelte Steuerungsebene ergänzt wird, ist im angelsächsischen Schrifttum die Bezeichnung «meta-regulation» gängig.104 Die Verheißung regulierter Selbstregulierung liegt vor allem darin, dass ein höheres Maß an Expertise, Fachwissen und Sachnähe zu inhaltlich angemesseneren, schneller, flexibler und kostengünstiger durchsetzbaren und bei den Betroffenen auf höhere Akzeptanz stoßenden Regeln führt. 105 Neben der prekären demokratischen Legitimation der Normsetzung im Verfahren regulierter Selbstregulierung sieht sich diese Regulierungsstrategie hauptsächlich den Vorwürfen ausgesetzt, vor allem den Interessen der Regulierten selbst zu dienen (capture-Phänomen)106 und die Komplexität der Steuerung durch undurchsichtige institutionelle Arrangements und Verantwortungszusammenhänge auf ineffiziente Weise zu potenzieren.107
21Vor diesem Hintergrund erhellt sich, dass der im Bereich der «[regulierten] Selbstregulierung» verwendete Regulierungsbegriff weder semantisch noch dogmatisch dem vorstehend unter Ziff. III für das Regulierungsrecht entwickelten Regulierungsbegriff entspricht. «Regulierung» im Sinne der Selbstregulierung ist in der gesellschaftlichen Sphäre beheimatet. Selbstregulierung impliziert gleichwohl keine bloß «spontane Ordnung»,108 sondern verlangt ein Mindestmaß an privaten Absprachen, selbstauferlegten Verhaltenspflichten und organisatorischen Vorkehrungen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks.109 «Selbstregulierung» steht zusammengefasst für durch organisatorische und andere rechtliche und tatsächliche Vorkehrungen relativ stabilisierte Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation.
22Die Verbindungslinie zwischen regulierter Selbstregulierung und Regulierungsrecht liegt in dem für beide Konzepte maßgebenden Staatsmodell: Beide Konzepte beruhen auf der Prämisse einer auf Gewährleistungsverantwortung zurückgenommenen staatlichen Verantwortung (vgl. Ziff. III). Vor diesem Hintergrund kann sich der Verbund gesellschaftlicher Selbstorganisation und hoheitlicher Steuerung als probate Strategie erweisen, die intendierten Gemeinwohlziele mit effizientem Ressourceneinsatz zu erreichen. Die herausgearbeitete, für die regulierte Selbstregulierung charakteristische Möglichkeit des durch hoheitliche Regelungen überformten verfassungsrechtlichen Freiheitsgebrauchs beruht indessen auf einer Reihe historisch kontingenter Faktoren.110 Wie bereits angedeutet, setzte das Konzept der regulierten Selbstregulierung zunächst einen Staat voraus, der eine «virtuelle Allzuständigkeit» beansprucht111 und an der damit verbundenen Verantwortung festhält, sich indessen von der umfassenden und unmittelbaren Aufgabenerfüllung, wie sie für den Leistungsstaat charakteristisch ist, verabschiedet hat. Mithin reduziert der Staat den Grad der durch die Verwaltung selbst erbrachten Leistungen und zieht sich auf die Überwachung und Steuerung von im öffentlichen Interesse liegenden Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation zurück.112 Dieser Rückzug von der unmittelbaren Aufgabenerfüllung auf die Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung ist Ausdruck des als «Gewährleistungsstaat» 113 bezeichneten Staatsmodells.114 Die darin für die gesellschaftliche Selbstorganisation vorgesehenen Gestaltungsräume zur privaten Normsetzung, Selbstkontrolle und Organisation («Selbstregulierung») sind aufgrund hoheitlicher Regulierung von den angesprochenen gesellschaftlichen Akteuren zum Zweck der Verwirklichung öffentlicher Interessen zu nutzen. Sie beruhen mithin auf als Folge der Rücknahme unmittelbar eigener Aufgabenerfüllung rechtlich eingeräumter, nicht auf originärer, gleichsam «vorgefundener» Autonomie.
23Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation während der vermeintlichen oder tatsächlichen Hochblüte des liberalen, durch Distanznahme zur Gesellschaft geprägten Verfassungsstaates des 19. Jahrhunderts oder des diesen ablösenden und sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichtenden Interventionsstaates gründen demgegenüber auf anderen Voraussetzungen: Beide Staatsmodelle beruhen auf einer Konzeption von Freiheit, die bestimmte Aufgaben in der gesellschaftlichen Sphäre belässt und die Übernahme staatlicher Verantwortung in Bereichen vormaliger gesellschaftlicher Selbstorganisation als «Intervention» in vorbestehende Privatautonomie deutet.115 Gesellschaftliche, im öffentlichen Interesse liegende Selbstorganisation basiert in diesem Koordinatensystem daher auf der Wahrnehmung einer als vorgefunden verstandenen Freiheit.
24Diese Wechselwirkungen zwischen verfassungsrechtlicher Zuordnung von Freiheit und Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation lassen sich am Beispiel der Berufsbildung im schweizerischen Bundesstaat illustrieren. 116 Berufsbildung fiel in den meisten schweizerischen Kantonen bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den Bereich der privaten Selbstorganisation, indem sie vornehmlich durch Zünfte gestaltet wurde. Da ein Auszubildender (Geselle) eng und langjährig an den Ausbildner (Meister) gebunden war, bestanden für Letzteren genügend ökonomische Anreize, in die Ausbildung und damit in das Humankapital des Angestellten zu investieren. Mit der 1874 erfolgten Einführung der Wirtschaftsfreiheit als individuelles Grundrecht wurde der Zunftherrschaft in sämtlichen Kantonen ein Ende bereitet und die beschriebene Anreizstruktur fiel dahin. Da Auszubildende nicht mehr langfristig an den Betrieb gebunden werden konnten, lief ein Ausbildungsbetrieb Gefahr, einen Gesellen auszubilden, ohne später von den vermittelten Fähigkeiten profitieren zu können, was sich negativ auf die Qualität der Berufsbildung auswirkte. Entsprechend sah sich der Staat im frühen 20. Jahrhundert genötigt, die Berufsbildung finanziell zu unterstützen und den «Organisationen der Arbeitswelt» – also insbesondere Sozialpartnern und Berufsverbänden – die Kompetenz einzuräumen, Zulassungsbedingungen, Lerninhalte, Qualifikationsverfahren, Ausweise und Titel festzulegen. 117 Ob die Berufsbildung nun von den im 19. Jahrhundert als staatlich protegierte Produktionskartelle in Misskredit gebrachten Zünften118 getragen wurde oder als «gemeinsame Aufgabe» des Staates und der Sozialpartner und Berufsverbände bezeichnet wird119 – in beiden Fällen waren an der Regulierung gesellschaftliche und staatliche Kräfte beteiligt. Indessen hatte sich mit den geänderten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen die Qualität dieses Verbunds von gesellschaftlicher Selbstorganisation und hoheitlicher Steuerung verändert. Rechtshistorische Forschung, die sich dem Untersuchungsgegenstand der «regulierten Selbstregulierung» wörtlich verschreibt, ist daher mit der methodisch kaum zu bewältigenden Herausforderung konfrontiert, unbesehen geänderter staatstheoretischer Ausgangsbedingungen identische Kooperationsformen aufzuspüren.
25Die aufgezeigte Einbettung des verwaltungsrechtlichen Konzepts der regulierten Selbstregulierung in ein bestimmtes, historisch kontingentes, insbesondere verfassungsrechtlich begründetes Staatsmodell weist auf die Notwendigkeit hin, den Untersuchungsgegenstand rechtshistorischer Forschung losgelöst von der verwaltungsrechtlichen Begriffsbildung zu bestimmen. Mit dieser methodischen Problematik sehen sich auch die Beiträge in dem von Peter Collin, Gerd Bender, Stefan Ruppert (alle Frankfurt am Main), Margrit Seckelmann (Speyer) und Michael Stolleis (Frankfurt am Main) gemeinsam herausgegebenen Band zur «Regulierte[n] Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat»121 konfrontiert, dessen Besprechung in diesem Rahmen einen rechtshistorisch informierten Zugang zur Thematik der Regulierung ermöglicht. Peter Collin präsentiert in seinem Aufsatz zu Beginn des ersten Bandes der Reihe, in der das anzuzeigende Werk erschienen ist, methodisch konsequent eine weit ausgreifende Definition der «Regulierten Selbstregulierung»: Er subsumiert jede organisatorisch gefestigte Koordination staatlicher und privater Interessen im Hinblick auf gemeinwohlrelevante Ziele unter den Begriff. 122
26Wird der rechtshistorischen Untersuchung eine derart umfassende Bestimmung ihres Gegenstandes zugrunde gelegt, bleibt die methodisch gebotene disziplinäre Eigenständigkeit der rechtshistorischen Forschung gegenüber der Verwaltungsrechtswissenschaft gewahrt. Ein Phänomen wie dasjenige der Berufsbildung (vgl. Ziff. IV/B) lässt sich dadurch trotz stark gewandelter äußerer Bestimmungsfaktoren über größere Zeiträume beobachten und beschreiben. Die autonome, im Vergleich zur verwaltungsrechtlich geformten Umschreibung deutlich weiter gefasste Begriffsbestimmung dürfte sich für die rechtshistorische Forschung überdies generell als in besonderem Maß ertragreich erweisen, da sie – wie die Beiträge im anzuzeigenden Band unterstreichen – ein differenziertes Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft sichtbar macht, das die in der staats- und verwaltungsrechtlichen Literatur retrospektiv oft suggerierte Vorstellung einer historisch beobachtbaren strikten Sphärentrennung stark relativiert.123 Die Sichtbarmachung vielfältiger Kooperationsformen zwischen der Verwaltung und Privaten könnte zudem die bereits in der wegweisenden verwaltungsrechtlichen Literatur des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts angelegte Tendenz aufbrechen, Verwaltungshandeln auf ein striktes Subordinationsverhältnis – in älterer, noch pointierterer Diktion als «Unterworfensein (…) als Untertan» 124 beschrieben125 – zwischen Staat und Bürger zu reduzieren. Hinsichtlich der Rechtsformen des Verwaltungshandelns ließe sich damit die Verfügung kaum mehr als (alleinige) Vollendung des Rechtsstaates126 feiern und der verwaltungsrechtliche Vertrag als Anomalie beargwöhnen.127
27Gleichwohl lässt sich feststellen, dass diese autonome Definition des Untersuchungsgegenstandes bei den Autorinnen und Autoren des anzuzeigenden Bandes nur auf verhaltenen Widerhall gestoßen ist. Zu groß scheint die Sogwirkung verwaltungsrechtlicher Begriffsbildung. Der Versuch, unmittelbar an den modernen, verwaltungsrechtlichen Begriff anzuschließen, wird gleich in mehreren Beiträgen des anzuzeigenden Bandes unternommen. Dies klingt in Formulierungen an, wonach mit der «regulierten Selbstregulierung» ein «moderner Begriff aus der Politik- und Verwaltungswissenschaft» an das untersuchte historische Phänomen «herangetragen» werde 128 oder dass die im betreffenden Beitrag behandelte Thematik weder «zu den Referenzgebieten» 129 noch «zum Kernbereich regulierter Selbstregulierungs-Praxen» zähle.130 Ähnliche Vorbehalte schimmern im Befund durch, dass autonome Rechtsetzung (nur) dann als Form der «regulierten Selbstregulierung» verstanden werden könne, wenn man in der bloßen staatlichen Beschränkung vorbestehender körperschaftlicher Autonomie bereits «eine Form der staatlichen ‹Regulierung› erblicken» wolle 131 oder dass die behandelte Thematik die regulierte Selbstregulierung nicht «in Reingestalt» abzubilden vermöge. 132 Wäre der übergreifende rechtshistorische Untersuchungsgegenstand im Titel des Sammelwerkes mit einer eigenständigen Umschreibung zum Ausdruck gebracht worden, hätten derartige verzichtbar scheinende Relativierungen wohl vermieden werden können.
28Die zwölf im anzuzeigenden, in drei Kapitel unterteilten Band133 versammelten Beiträge decken ein thematisch heterogenes Feld ab und verdeutlichen damit die Vielfalt der Kooperationsformen über die Trennlinie Staat/Gesellschaft in rechtshistorischer Perspektive. Thematisch erstreckt sich der Band von ideengeschichtlichen Abhandlungen über Fragestellungen des Kommunal-, Steuer-, Versicherungs-, Bahn-, Arbeits- und Lebensmittelrechts bis zur Politikberatung. Keiner der Beiträge ist den klassischen freien Berufen – also etwa dem Beruf des Rechtsanwalts und der Rechtsanwältin, des Arztes und der Ärztin oder des Apothekers und der Apothekerin – gewidmet. Dies, obwohl die entsprechenden Regulierungen verbreitet sowohl historisch als auch gegenwärtig auf Verflechtungen zwischen Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation und hoheitlicher Rechtsetzung beruhen134 und daher ein gewichtiges Beispiel für Varianten «regulierter Selbstregulierung» bilden.135 Ob angesichts der aufgezeigten Themenvielfalt stets ein klarer gemeinsamer Bezugspunkt vorliegt, mag bezweifelt werden. Das gilt besonders für die Politikberatung. Diese lässt sich aus heutiger Sicht zwar als eine Form der Regulierung verstehen (regulation by information).136 Die Verbindungslinie zur gesellschaftlichen Selbstorganisation ist indessen nur sehr undeutlich auszumachen. So erschließt sich nicht unmittelbar, worin das Element der Selbstorganisation zu suchen ist, wenn sich die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes durch einen «Kolonialrat» beraten lässt, der sich aus Personen zusammensetzt, die «Kolonialgesellschaften und -interessen» repräsentieren.137 Diese Konstellation deutet weniger auf Selbstorganisation, als vielmehr auf den Versuch hin, durch die Beeinflussung staatlicher Regulierung im eigenen Interesse finanzielle Vorteile zu erzielen. Bezüge zwischen diesem in der Politischen Ökonomie (public choice theory) als Rentenstreben (rent-seeking) bezeichneten, mit dem capture-Tatbestand verwandten Phänomen 138 und «regulierter Selbstregulierung» bestehen konzeptionell kaum, auch wenn eben diese Regulierungsstrategie in der Praxis für entsprechende volkswirtschaftlich ineffiziente Praktiken missbraucht werden kann (vgl. Ziff. II/C und IV/A).
29In dem unter dem Titel «Autonomie als Rechtsquelle: Die Diskussion über nicht-staatliche Rechtsetzungsbefugnisse» stehenden Beitrag vertritt Carsten Kremer die gut begründete These, wonach der Ausdruck «Autonomie» im Zuge der Herausbildung einer vom Gedanken des Rechtsstaates getragenen Verwaltungsrechtswissenschaft eine andere Bedeutung gewonnen hat: Wurde die Autonomie von Personal- und Gebietskörperschaften (Gemeinden, Universitäten etc.) im früheren 19. Jahrhundert als eigenständige Rechtsquelle verstanden, gelangte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Auffassung zum Durchbruch, dass private Normsetzung eingedenk des als rechtsstaatlich unerlässlich verstandenen staatlichen Rechtsetzungsmonopols nur auf der Grundlage einer staatlichen Delegationsnorm denkbar ist. Diese Akzentverschiebung ist im Staats- und Verwaltungsrecht vor allem mit Paul Laband und Otto Meyer verbunden. Demgegenüber verstand Fritz Fleiner «Autonomie» auch in der letzten Auflage seiner «Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts» von 1928 als «eine vom Staate unabhängige Rechtsquelle», die «den Beweis» liefere, «dass der Staat nicht der einzige Schöpfer des Rechts» sei.139
30 Kathrin Groh untersucht unter dem Titel «Gesellschaftliche Selbststeuerung? Verbändepluralismus und demokratische Staatslehre in der Weimarer Republik» die Einschätzung der Rolle der Verbände durch die Weimarer Staatsrechtswissenschaft. Der Beitrag legt unter Bezugnahme auf prominente demokratisch gesinnte Vertreter (Gerhard Anschütz, Hermann Heller, Hans Kelsen, Hugo Preuss, Richard Thoma) dar, dass die Weimarer Staatsrechtslehre der Interessenvertretung durch Verbände insgesamt wohlwollend gegenübergestanden und erst die Bonner Republik die Weimarer «Parteienprüderie» durch eine «Verbandsprüderie»140 ersetzt habe. Die Schwierigkeiten, die ausgeprägt demokratische Verfasstheit des Staates mit der organisierten Interessenvertretung durch Verbände konzeptionell in Übereinstimmung zu bringen, lassen sich im Übrigen in der Nachkriegszeit auch für die Schweiz beobachten.141
31In seinem Beitrag «Tarifautonomie, Regulierte Selbstregulierung, Korporatismus. Eine Skizze» schildert Gerd Bender das kollektive Arbeitsrecht als «den vielleicht bedeutendsten ‹Fall› der ‹Regulierten Selbstregulierung›, den die Geschichte hervorgebracht hat (…).» 142 Im Kontext der soziologisch verstandenen «Arbeitsverfassung Deutschlands»143 lotet Bender die Interaktion politischer und verbandlicher Positionen auf einer mittleren Abstraktionsebene aus und konstatiert schließlich, dass «[a]m Ende Weimars (…) die Selbstregulierung» im Bereich der kollektiven Arbeitsbedingungen «ganz und gar» geendet habe und verstaatlicht worden sei.144
32 Jürgen Schmidt geht in seinem Aufsatz unter dem Titel «Regulierte Selbstregulierung und Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert in Deutschland» dem Phänomen der Integration privater Selbstorganisation in staatlichen Regulierungsstrategien nach. Deutlich zeigt Schmidt dabei die Wechselwirkungen zwischen privater Binnenorganisation («interne Selbstregulierung») und staatlicher Rechtsetzung auf. Einerseits habe etwa der hohe Grad demokratischer Mitwirkung der Arbeiterbewegung Vorbildcharakter für staatliche Institutionen gewonnen und die den Mitgliedern intern auferlegte Verpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement habe die politische Durchschlagskraft sozialer Ideen erhöht. Andererseits hätten die Erfolge der Arbeiterschaft die Behörden nicht nur zur hoheitlich-imperialen Regulierung gezwungen, sondern auch die Übernahme von Aufgaben wie der Arbeitsvermittlung durch die Verwaltung ermöglicht, nachdem die Kapazitäten der Gewerkschaften zusehends an Grenzen gestoßen seien.
33 Mathias Schmoeckel stellt die Frage, ob es eine «allgemeine Wirtschaftsfreiheit im 19. Jahrhundert je gab»,145 in den Mittelpunkt seiner Untersuchung einer «Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung im 19. Jahrhundert am Beispiel der Bahn». Er kommt dabei zum Schluss, «dass es zumindest in Preußen sehr wohl eine wirtschaftsliberale Epoche gab, in der sich der Staat aus dem Wirtschaftsgeschehen in prononcierter Weise heraushielt.»146 Diesen Umstand bringt Schmoeckel in direkten Bezug zur Staatsauffassung Immanuel Kants, seien doch die preußischen Beamten «von Kant beeinflusst» gewesen und hätten daher «die Freiheit der Wirtschaft zu befördern» versucht.147 Nachdem dieser ideengeschichtliche Rekurs auf an Kant erinnernde Freiheitsvorstellungen auch durch mindestens einen konkreten Textnachweis dokumentiert wird,148 stellt sich indessen die Frage, in welcher Weise und in welchem Maß staatsphilosophische Grundüberzeugungen für Beamte und Politiker im Verhältnis zu gegenläufigen Interessen tatsächlich handlungsleitend gewesen sein können.149 Der ab 1873 einsetzende, auf das «Gründerfieber» folgende «Gründerkrach» mit dem daran anschließenden, zeitgenössisch als «Große Depression» bezeichneten konjunkturellen Einbruch,150 scheint nämlich auch gemäß der Analyse Schmoeckels den Umschwung hin zum Modell der Staatsbahn und damit die Abkehr vom liberalen Staatsmodell energisch beschleunigt zu haben.151 Die Vehemenz und Schnelligkeit, mit der diese «Umwertung» gemäß der Analyse Schmoeckels vollzogen worden ist,152 deutet an, dass politische und staatsphilosophische Grundüberzeugungen nur einen von vielen handlungsleitenden Faktoren politischer Akteure bilden.153
34Der Beitrag von Wolfgang Ayass steht unter dem Titel «Regulierte Selbstregulierung in den Berufsgenossenschaften der gesetzlichen Unfallversicherung». Träger der Unfallversicherung sind seit 1885 die Berufsgenossenschaften als mit Selbstverwaltungsrecht ausgestattete, selbstständige Körperschaften öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft. Im Kontext der Selbstregulierung wesentlich ist dabei der Umstand, dass mit der beschriebenen Ausgestaltung der Berufsgenossenschaften die Senkung der Unfallhäufigkeit intendiert war. 154 Solche Präventionsanstrengungen kommen der Allgemeinheit zugute und stellen daher ökonomisch betrachtet ein öffentliches Gut dar. Wie sich im Zuge der Liberalisierung der staatlichen Gebietsmonopole im Bereich der Gebäudeversicherung gezeigt hat, sind Private ökonomischer Rationalität folgend oft nicht bereit, ausreichend in derartige öffentliche Güter zu investieren. Dies kann zu ineffizienten privatwirtschaftlichen Versicherungsmodellen und damit zu einem insgesamt signifikant höheren Preisniveau führen.155 Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu erstaunen, dass die Analyse von Ayass erhebliche Anstrengungen der Berufsgenossenschaften im Bereich der Prävention nachweisen kann, sei es durch den Erlass entsprechender Vorschriften, sei es durch Kontrollen seitens «Beauftragter».156
35 Peter Collin ordnet in seinem mit «Kommunalrecht unter Regulierungsdruck in der Weimarer Zeit» überschriebenen Aufsatz die kommunale Selbstverwaltung für die Zeit des 19. Jahrhunderts der gesellschaftlichen, nicht der staatlichen Sphäre zu. 157 Er macht mit der Änderung des Finanzrechts, der umfassend verrechtlichten und damit technokratisch ausgestalteten Sozialfürsorge und der Verschärfung des Aufsichtsrechts drei Entwicklungslinien aus, welche die kommunale Autonomie in der Weimarer Republik rechtlich oder faktisch in unterschiedlichem Maß eingeschnürt haben.158 Collin deutet den in der Weimarer Republik als «Krise der Selbstverwaltung» thematisierten Prozess als Übergang der Kommune von einer durch Selbstbestimmung geprägten Korporation zu einer mit der Erfüllung fremder Aufgaben befassten Gebietskörperschaft öffentlichen Rechts.159
36Im abschließenden Beitrag des II. Teils des Bandes widmet sich Andreas Thier dem Thema «Regulierte Selbstregulierung und Steuerrecht im Kaiserreich». Er zeichnet dabei die rasante Zunahme der individuellen Steuerbelastung im Zeitraum zwischen 1850 und 1914 nach und weist darauf hin, dass bereits im 18. Jahrhundert Tendenzen ausgemacht werden können, das Steuerrecht unter Wahrung seines fiskalischen Hauptzwecks zur Verhaltenssteuerung einzusetzen. Steuern sind demnach auch in historischer Perspektive weit mehr als der bloße Preis «we pay for civilized society»,160 der es dem Staat durch die Gewinnung finanzieller Mittel ermöglicht, für Sicherheit, Ordnung und einen gewissen sozialen Ausgleich zu sorgen.161 In seinem Beitrag unterscheidet Thier drei Felder der Einwirkung der Steuergesetzgebung auf Prozesse gesellschaftlicher Selbstorganisation: privatrechtliche Marktordnung, kommunale Ordnungsstrukturen und Wahlrechtsordnung. Hinsichtlich der Wechselwirkung zwischen Steuergesetzgebung und privatrechtlicher Marktordnung stellt Thier fest, dass sich in der Debatte um die preußische Steuergesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einsicht durchgesetzt habe, dass die wachsende Ungleichheit hinsichtlich der Vermögens- und Einkommensverhältnisse eine Neukonzeption des Prinzips der Allgemeinheit und Gleichheit der Besteuerung notwendig mache. Vor dem Hintergrund, dass die Reformbemühungen 1891/92 in höheren Belastungen für bewegliches Kapital und Aktienbesitz mündeten, formuliert Thier die These, wonach das Steuerrecht trotz praktisch fehlender normativer Querverbindungen die Funktion einer Auffangordnung des Privatrechts übernommen habe, indem es mittlere Einkommen entlastete und Gewinne marktwirtschaftlicher Tätigkeiten zwar intensiver abschöpfte, den Kapitalismus aber nicht eigentlich begrenzte.162 Ausgangspunkt der Analyse des Verhältnisses von Steuergesetzgebung und kommunalen Ordnungsstrukturen bildet das gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Preußen konstatierte Missverhältnis zwischen dem Aufgabenwachstum im Bereich der kommunalen Leistungsverwaltung einerseits und der Komplexität der Erhebung der Kommunalsteuern anderseits, die sich wesentlich aus Zuschlägen auf die staatliche Personalsteuer zusammensetzten.163 Weil Grundeigentümer und Gewerbetreibende in besonderem Maß von der kommunalen Investitionstätigkeit profitierten, sollten die staatlichen Realsteuern auf die Kommunen übergehen.164 Da aber die Gutsbezirke aufgrund ihres kommunalrechtlichen Sonderstatus dadurch realsteuerrechtlich privilegiert wurden, fällt die Bilanz der entsprechenden Regulierungsbemühungen nach Einschätzung Thiers gemischt aus.165 Der Wirkungszusammenhang zwischen Steuerrechtsgesetzgebung und Wahlrechtsordnung schließlich, wurde durch das preußische Dreiklassenwahlrecht erzeugt, das auf die geschuldeten direkten Staatsschulden abstellte.166 Thier vermag allerdings nachzuweisen, dass diese Akzessorietät zwischen Steuerrecht und Wahlrechtsordnung im Interesse des Machterhalts der sozialen Eliten begrenzt worden ist.167
37Unter dem Haupttitel «Parität und ‹billiges Ermessen›» untersucht Karl Christian Führer gemäß dem Untertitel seines Beitrags «[d]ie regulierte Selbstregulierung als Mittel der Wohnungs- und Mietenpolitik im späten Kaiserreich und in der jungen Weimarer Republik». Im Mittelpunkt stehen dabei die «Mieteinigungsämter», die für die Entscheidung bestimmter Streitigkeiten zwischen Mietern und Vermietern zuständig waren. Führer stellt die relativ kurze Episode dieses Modells der regulierten Selbstregulierung als Versuch der Politik dar, sich angesichts des überproportional großen politischen Einflusses der Grundeigentümer der Verantwortung für die infolge der Inflation entwerteten Mieten zu entziehen. Dieser politisch motivierte Versuch habe – so die abschließende These Führers – das «Konzept der Selbstregulierung (…) als Mittel der Wohnmarktpolitik (…) auf Dauer diskreditiert (…).»168
38Der Beitrag von Thomas Buchner widmet sich der «Arbeitsvermittlung zwischen Kaiserzeit und Weimarer Republik». Gemäß der Analyse von Buchner galt Arbeitsvermittlung zunächst als Form präventiver Armutsbekämpfung und moralischer Läuterung und wurde daher von philanthropischen Vereinen, später auch von den Kommunen getragen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wandelte sich die Arbeitsvermittlung freilich zur «öffentlichen Aufgabe mit marktregulierenden Funktionen»,169 was wenige Jahre später zu einer Verlagerung der Regulierungsbemühungen auf die Reichsebene führte. Dementsprechend hat im Bereich der Arbeitsvermittlung hoheitliche Regulierung gesellschaftliche Selbstregulierung usurpiert.
39In ihrem mit «Selbstregulierung avant la lettre?» überschriebenen Beitrag zur Nahrungsmittelindustrie im Deutschen Kaiserreich geht Vera Hierholzer zunächst auf die geltenden, wesentlich durch Sekundärrecht der Europäischen Union geformten Vorschriften über die Lebensmittelhygiene ein. Diese Normen nehmen die Produzenten direkt in die Pflicht, da eine umfassende Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit anhand von behördlichen Stichproben nicht zu bewerkstelligen wäre.170 Hierholzer legt in ihrem Beitrag dar, dass sich ähnliche Regulierungsstrategien bereits für das spätere 19. Jahrhundert nachweisen lassen, indem Branchenverbände – etwa der 1876 gegründete Verband Deutscher Schokoladenfabrikanten – für ihre Mitglieder eigene Qualitätsrichtlinien erließen. Das arbeitsteilige Regulierungsregime erhielt im frühen 20. Jahrhundert einen institutionellen, im staatlichen Recht begründeten Rahmen.
40Im letzten Beitrag des anzuzeigenden Bandes untersucht Wilfried Rudloff unter dem Titel «Politikberatung – Politikbeeinflussung – Selbstnormierung?» staatliche Beratungsgremien im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Mit der Errichtung entsprechender Gremien sollte erstens Expertenwissen für die Verwaltung verfügbar gemacht werden, zweitens die Legitimation von Entscheidungen durch den Einbezug der betroffenen Interessengruppen erhöht und drittens berufsständige Ordnungsmodelle verwirklicht werden. 171 Nach Ausführungen zur Einordnung der Politikberatung in die Thematik der Selbstregulierung – ein Zusammenhang, der höchstens schwach ausgeprägt ist (vgl. Ziff. IV/C/2) – und zur Funktion des Beirats als staatliches Beratungsgremium im Interventionsstaat, nimmt der Beitrag fünf Gremien näher in den Blick: Den 1890 begründeten, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes angegliederten «Kolonialrat», den 1897 dem Reichsamt des Inneren zugeordneten «Wirtschaftlichen Ausschuss zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen», den 1900 errichteten «Rechtsgesundheitsrat», den auf das Jahr 1921 zurückgehenden «Preußischen Landesgesundheitsrat» und den 1920 errichteten, berufsständischen «Vorläufigen Reichswirtschaftsrat». Bilanzierend hält Rudloff fest, dass in keinem dieser Fälle «von regulierter Selbstregulierung in Reingestalt» gesprochen werden könne.172
41Im Kontext des schweizerischen Bundesverwaltungsrechts lässt sich feststellen, dass «Regulierung» in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für die Beeinflussung von Naturphänomenen durch direkte, physische Einwirkung, als auch für die normative Steuerung durch den Staat und Private verwendet wurde (Ziff. II/A). Diese bereits früh angelegte Mehrdeutigkeit des Begriffs wird gegenwärtig zusätzlich überlagert durch sowohl transnationale als auch interdisziplinäre Traditionsanschlüsse (vgl. Ziff. II/B und C). Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass «Regulierung» ein holistisches Konzept beschreibt, das traditionelle Demarkationslinien, namentlich jene zwischen Einzelakt und Rechtssatz und jene zwischen öffentlichem und privatem Recht, (Ziff. II/C). Besonders offenkundig ist dieser Holismus im sozialwissenschaftlichen Kontext: Nach einem weiten, dezentrierten Ansatz gelten sämtliche regelhaften, intentional auf die Verhaltensbeeinflussung und -steuerung gerichteten Handlungen sowohl von im weiteren Sinn «staatlichen» als auch von privaten Akteuren als «Regulierungen». Während diese ausgreifende Definition je nach Untersuchungsgegenstand insbesondere für die rechtshistorische Forschung ertragreich sein dürfte, da sie auch Regeln jenseits der Staatlichkeit sichtbar macht, erscheint es im verwaltungsrechtlichen Kontext zielführend, den Regulierungsbegriff von anderen möglichen Formen der Politik oder Governance abzugrenzen. Rechnet man nämlich weder distributive Politik noch direkte Leistungserbringung durch Verwaltungseinheiten dem Regulierungsbegriff zu, werden Verbindungslinien zum Konzept des «Regulatory State» sichtbar, wodurch ein inter- und transnationaler Verständigungshorizont geschaffen wird (vgl. Ziff. II/D).
42 Analytischer Gewinn und rechtsdogmatisches Potenzial des Einbezugs von Regulierung im Sinne von regelhafter, Folgen intendierender Einwirkung von Akteuren mit Verwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zustände sind zum einen darin zu suchen, dass sämtliche Formen der Verhaltensbeeinflussung wie etwa die staatliche Informationstätigkeit als Handlungsform erfasst und bewertet werden können. Zum anderen ergeben sich über den gemeinsamen Untersuchungsgegenstand Querbezüge zur sozialwissenschaftlich informierten Regulierungstheorie. Diese Perspektivenerweiterung macht es jedoch erforderlich, normativ begründete Argumente als solche zu identifizieren und von anderen Topi abzugrenzen (vgl. Ziff. II/D). Der rechtsdogmatische Gewinn des Regulierungsrechts wiederum liegt vornehmlich in dessen Potenzial, zur verwaltungsrechtlichen Systembildung beizutragen (vgl. Ziff. III). Da weder distributive Politik noch direkte Leistungserbringung durch Verwaltungseinheiten unter den Regulierungsbegriff fallen, ist es konsequent, mit der Figur des «Regulierungsrechts» nur jene Teilrechtsgebiete zu erfassen, in denen sich der Staat von der Erfüllungsverantwortung auf die Gewährleistungsverantwortung zurückgezogen hat. Typischerweise ist damit eine dauerhafte und gestaltende Aufgabe der Verwaltung verbunden.
43 «Regulierung» im Sinne des Regulierungsrechts ist also zu definieren als regelhafte, Folgen intendierende, förmliche oder schlichte, typischerweise dauerhafte und gestaltende Einwirkung von Akteuren mit nationalen, trans-, supra- oder internationalen Verwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zustände, speziell durch Aufsicht, Rechtsdurchsetzung und administrative Rechtserzeugung, nicht aber durch unmittelbare staatliche Leistungserbringung oder Güterverteilung. Dieser für das Regulierungsrecht kennzeichnende Regulierungsbegriff vermag Rechtsgebiete, deren Regelungsgegenstände sich strukturell teilweise stark unterscheiden, im Sinne der verwaltungsrechtlichen Systembildung zu bündeln. Der regulierungsrechtliche Ansatz schafft demgemäß Grundlagen, um für identische Problemlagen übergreifende Regelungsmodelle zu entwickeln (vgl. Ziff. III).
44Im Zuge der sich ab dem Jahr 2006 global ausbreitenden Finanzmarktkrise ist die Frage der Möglichkeiten und Grenzen regulierter Selbstregulierung (vgl. Ziff. IV/A und B) wieder stärker in den Fokus wissenschaftlicher und rechtspolitischer Diskussion gerückt. Oft sind gerade Bereiche, die erhebliche volkswirtschaftliche Gefahren und außenpolitische Reputationsrisiken bergen, Varianten regulierter Selbstregulierung unterworfen. Deutlich wird dies am Beispiel der Schweiz, wo nicht nur in wichtigen Bereichen des Finanzmarktrechts173 wie der Effektenbörsen,174 der Einlagesicherung175 oder des öffentlichen Anbietens strukturierter Produkte,176 sondern auch bei der Bekämpfung der Geldwäscherei177 auf die Strategie der regulierten Selbstregulierung vertraut wird.178 Desgleichen will die Schweizer Regierung hinsichtlich der Umsetzung ihrer «Strategie für einen steuerlich konformen und wettbewerbsfähigen Finanzplatz» (sog. «Weißgeldstrategie»), mit welcher die Annahme unversteuerter Gelder durch Banken unterbunden werden soll, auf regulierte Selbstregulierung setzen.179 Schließlich wird auch im Bereich der regelmäßig von medial stark beachteten «Lebensmittelskandalen» erschütterten Nahrungsmittelindustrie180 zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit auf regulierte Selbstregulierung vertraut, indem jedermann, der Lebensmittel, Zusatzstoffe oder Gebrauchsgegenstände herstellt, behandelt, abgibt, einführt oder ausführt, verpflichtet ist, entsprechende Produkte einer Selbstkontrolle zu unterwerfen, die einer «Guten Herstellungspraxis» entspricht.181 Aus diesen Gründen ist es vielversprechend, auch in rechtshistorischer Perspektive erneut nach den Erfahrungen zu möglichen Risiken und Chancen des Zusammenwirkens hoheitlicher Normierung und gesellschaftlicher Selbstorganisation zu fragen. Nach den vorstehend besprochenen versammelten Fallstudien (Ziff. IV/C) und den zur Veröffentlichung in einem weiteren Sammelwerk vorgesehenen rechtsvergleichenden Beiträgen182 dürfte der diesbezügliche Forschungsbedarf vor allem auf einer etwas höheren Abstraktionsebene zu lokalisieren sein, die es ermöglichen könnte, branchenübergreifende Erfolgs- und Risikofaktoren des beschriebenen Zusammenwirkens auszuloten. Auch für eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich als handlungs-, entscheidungs- und wirkungsorientierte Wissenschaft versteht,183 ist es unerlässlich, empirische Möglichkeiten und Grenzen der Indienstnahme privater Selbstorganisation für öffentliche Interessen im Blick zu behalten.