Artikel vom 18. Juni 2013
© 2013 fhi
ISSN 1860-5605
Erstveröffentlichung
Zitiervorschlag/Citation:
http://www.forhistiur.de/zitat/1306decock.htm
1In diesem Beitrag möchten wir anhand von fünfzig Zitaten aus primären Quellen die Ergebnisse einer Recherche über die Veränderung des Vertragsrechts zu Beginn der Frühen Neuzeit präsentieren.1 Zunächst wird gezeigt, wie sich die Theologen auf das Vertragsrecht des gemeinen Rechts (ius commune) bezogen haben um eine christliche Moral zu entwickeln. Indem sie sich ihre Texte von den Zivilrechtlern und den Kanonisten geliehen haben, trugen sie aber auch zu einer Neudefinierung dieser juristischen Tradition bei. Dies möchten wir im zweiten Teil dieses Aufsatzes erläutern. Die Theologen haben die traditionelle Art und Weise der Vertragsbetrachtung grundsätzlich verändert, indem sie das ius commune durch die christliche Moral und das Naturrecht neu definiert haben. Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser moraltheologischen Bereicherung des Vertragsrechts ist die systematische Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Privatautonomie. Dies ist der Grund warum der Jesuit Pedro de Oñate (1568-1646) in der Mitte des 17. Jahrhunderts betonte, dass die christliche Moral den Vertragsschließenden ihre Freiheit zurückgab (contrahentibus libertas restituta).2
2In diesem ersten Abschnitt erlauben wir uns zunächst, einige Gedanken über die grundlegende Struktur der katholischen Moraltheologie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu formulieren. Anschließend werden wir uns im Besonderen mit der Aufmerksamkeit, die die Theologen dem Vertragsrecht zukommen ließen, beschäftigen.
3Die erste Frage, die sich stellt, ist die Frage warum sich die Theologen für das Recht interessiert haben. Für einen Theologen des 16. Jahrhunderts wie den Dominikanermönch Bartholomäus von Medina (1527-1581) erscheint die Antwort auf diese Frage offensichtlich. Das Studium der Rechtswissenschaften war ganz klar die Angelegenheit von Juristen wie auch Theologen. Für die einen dienten die Rechtswissenschaften dazu, Frieden auf der Erde herzustellen, für die anderen diente sie der Suche nach der göttlichen Vision im Jenseits.3
4Eigentlich noch viel mehr als vorher betonte die katholische Kirche in der Epoche der Reformationen, dass sie allein die „Schlüsselgewalt“ (potestas clavium) innehabe, um den Seelen die Himmelspforte öffnen zu können, aber unter der Bedingung, dass die Menschen ihr Leben nach der katholischen Moraltheologie ausrichteten. Der Jesuit Francisco Suárez (1548-1617) erklärt in dem Vorwort seines berühmten Werkes Tractatus de legibus et legislatore Deo, dass die grundlegende Verantwortung eines Theologen darin besteht, auf das Gewissen der Menschen Einfluss zu nehmen und es zu lenken.4 Da die Reinheit des Gewissens von der Betrachtung des Rechts abhängt, müssen die Theologen die Regeln kennen, welche die Menschen zu befolgen haben, um das Jüngste Gericht zu bestehen.
5Die Theologen haben diese Regeln in einer Vielzahl von normativen Quellen gesucht, wie ein Titel eines Werkes andeutet, welches traditionell als ein Monument der Moraltheologie betrachtet wird: Die „Institutiones morales“ des Jesuiten Juan Azor (1536-1603), entworfen nach dem Modell der Institutiones von Justinian.5 Die Vernunft, das Naturrecht, das römische Recht des Mittelalters, das kanonische Recht, die Gesetze der weltlichen Herrscher, Lehrbücher für Beichtväter von mittelalterlichen Autoren, die Bibel, Philosophen wie Aristoteles, klassische Autoren wie Cicero, Historiker wie Valerius Maximus, Kirchenväter wie Augustinus, Theologen wie Thomas von Aquin: aufgrund dieser ganzen Quellen haben die Theologen versucht die Rechte und Pflichten der Menschen in konkreten Situationen zu bestimmen, zum Beispiel: der Verkauf von Schrottkrediten, der Besitz von Geld aus illegalen Wetten, die Unterzeichnung eines Versicherungsvertrages auf der Basis von Insiderhandel.
6Die Dialektik zwischen der Entwicklung allgemeiner Regeln und ihrer konkreten Anwendung war so stark verfeinert, dass der Heilige Alfons von Liguori (1696-1787), der Patron der Moraltheologen, noch im 18. Jahrhundert seine Disziplin als eine Art moralische Jurisprudenz definiert hat.6 Nach seiner Auffassung hing die moralische Jurisprudenz mehr von einer gewissen Virtuosität in der Anwendung als von einem Auswendiglernen der Regeln ab. Diese Kreativität wurde von Theologen und insbesondere von Beichtvätern erfordert. Tatsächlich hatte die Steuerung der Seele durch Regeln mittelbar im „Tribunal des Gewissens“ (forum conscientiae) stattgefunden. Nun waren die Richter dieses Tribunals Beichtväter. Im Gegensatz zu den Richtern der „externen“ Gerichte (forum externum) konnten sie keine Beweise oder Fiktionen berücksichtigen. Die einzigen Urteilskriterien vor dem forum internum waren die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Diese Wahrheit wurde von dem Schuldigen selbst vor dem Beichtvater enthüllt.
7Zu unterstreichen ist der juristische Charakter des Gewissensbegriffs zu dieser Zeit. So kann man beispielsweise das Vorwort des populären Lehrbuchs für Beichtväter des Jesuiten Valère Regnault (1545-1623) heranziehen.7 Inspiriert von dem Modell der Instituten von Justinian erklärt Regnault, dass sich sein dreiteiliges Lehrbuch nachfolgend mit Personen, prozessualen Handlungen und Sachen vor dem Tribunal des Gewissens befasst. Nach seiner Ansicht sind die Sachen im tiefsten Inneren die Sünden, die der Getaufte begangen hat, zum Beispiel die Verletzung eines Vertrages. In Bezug zu den prozessualen Handlungen zählen die Reue aus dem Herzen, das mündliche Geständnis, die Naturalrestitution, darunter fallend der Ersatz einer Sache, die ohne Rechtsgrund besessen wurde, und die Absolution. Die beteiligten Personen sind der Beichtvater und der Beichtende. Der Beichtvater nimmt die Rolle des Richters ein und kann das Bußsakrament und die Absolution erteilen. Die Rollen des Anspruchsstellers, Anspruchsgegners, Zeugen, Anwalts und Anklägers sind alle vereint in der Person des Beichtenden – der Prozess vor dem forum internum wird durch die Selbstanzeige des Beichtenden ausgelöst. Selbst wenn die Wahrheit und das Naturrecht einen zentralen Platz im Urteil einnehmen sollten, war das Ziel sicherlich nicht, dem Gewissen die höchsten christlichen Ideale aufzuzwingen. Die Theologen versuchten eine Art juristische Disziplin zu kreieren, die das Seelenheil garantieren sollte, mehr nicht. Es ist nicht nötig hinzuzufügen, dass diese minimalistische und juristische Annäherung der christlichen Moral ein ernster Kritikpunkt an der katholischen Kirche in den Schriften von Martin Luther (1483-1546) und anderen Reformatoren darstellt.
8Um auf konkrete Fälle, die sich vor dem forum internum abspielten, Einfluss nehmen zu können, integrierten die Theologen diese Fälle in eine allgemeine Theorie der Vertragsgerechtigkeit. Wie es der Dominikanermönch Tomás de Mercado (ca. 1530-1575) bemerkte, machte die aristotelische Tugend der Tauschgerechtigkeit für die Theologen die Summe der drei Rechtsprinzipien nach Ulpian aus: honeste vivere, neminem laedere, ius suum cuique tribuere.8 Anhand der Verträge als juristische Übersetzungen der Austauschbeziehungen, welche zwischen den Personen durch Übereinkunft entstehen, behalfen sich die Theologen, um präzise diejenigen Pflichten zu ermitteln, die jedes Individuum im Ausgleich hat, um seine Seele zu retten. So tauchen bereits im 13. Jahrhundert Abhandlungen auf, die sich speziell mit dem Vertragsrecht auseinandersetzten, wie vom Franziskaner Pierre Jean d’Olivi (1248-1298), der in den Klöstern Montpellier und Narbonne unterrichtete. Diese Lehrbücher wurden in der Tradition von Lehrbüchern für Beichtväter aus dem Mittelalter verfasst, mit dem Unterschied, dass das Vertragsrecht von nun an als ein eigenständiges Thema behandelt wurde. Auf der anderen Seite zeugt das Werk eines Olivi von einer unglaublichen Beherrschung der Vertragsrechtstechnik und einem ungewöhnlich liberalen Geist. Indem Olivi in seiner Vertragslehre von einem starken Eigentumsbegriff ausging, konnte er eine Zahl neuer und liberaler Handelspraktiken rechtfertigen.
9Das Privatrecht und das Vertragsrecht im Besonderen ermöglichte es den Theologen eine juristische Architektur des christlichen Lebens auf der Basis einer Rechtsprechung vor dem forum internum (Beichtjurisprudenz) zu entwickeln. So schrieb der Lyoner Jesuit Joseph Gibalin (1592-1671) in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Abhandlung über die Gerechtigkeit in allen menschlichen Angelegenheiten, indem er sich vom Naturrecht, dem kanonischem Recht, dem Zivilrecht sowie dem römischen und französischen Vertragsrecht inspirieren ließ.9 Diese Abhandlung ist eine Ergänzung eines früheren Traktats über den Wucher, den Handel, die Billigkeit und das Lyoner Gewohnheitsrecht. Gibalin hatte, wie seine spanischen Kollegen, seine Abhandlung an Beichtväter wie auch an Richter der „externen“ Gerichtsbarkeit (forum externum) adressiert. Er berücksichtigte die zwingende Kraft des positiven französischen Vertragsrechts vor dem forum internum und als Konsequenz daraus musste ein Theologe profunde Kenntnisse des geltenden Rechts haben, so wie es bereits Suárez vor ihm gefordert hatte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts haben französische Theologen wie Jean-Paul Lyonnet (1801-1875) aus derselben Perspektive heraus die Übernahme der theologisch-juristischen Tradition in Bezug auf die neuen Privatrechtsnormen des napoleonischen Code civil gefordert. Lyonnet hat uns tatsächlich ein Traktat „De iustitia et iure“ und ein Traktat „De contractibus“ hinterlassen, die gleichzeitig auf Autoren des 16. Jahrhunderts wie Lessius aber auch das von Napoleon kodifizierte französische Recht zurückgreifen.10
10Die Sorge um die Entwicklung einer juristischen Architektur des christlichen Lebens auf der Basis einer Rechtsprechung des Gewissens hat uns nun ein Erbe in Form von mehr als fünf Jahrhunderten mit eigenständigen Abhandlungen von Theologen über das Vertragsrecht hinterlassen. Das Epizentrum dieser Tradition bildet in jedem Fall das Spanische Imperium während seines goldenen Zeitalters (Siglo de oro). Die Rolle des Francisco de Vitoria (1483/1492-1546), ein früherer Schüler des Brüsseler Pierre Crockaert (ca. 1450-1514) in Paris am Kolleg Saint-Jacques, bei der Erneuerung des Thomismus in Spanien zu Beginn des 16. Jahrhunderts kann sicherlich revidiert werden, aber er wird traditionellerweise als Gründer der Schule von Salamanca angesehen – jener Schule, die man hauptsächlich mit der Synthese zwischen Theologie und Recht zu Beginn der Frühen Neuzeit verbindet. Es ist ein Schüler von Vitoria, der Dominikanerbruder Domingo de Soto (1494-1560) – welcher auch einen Teil seines Studium in Paris absolviert hat, vor allem am Kolleg Sainte-Barbe – der die erste Abhandlung „Über Gerechtigkeit und Recht“ (De iustitia et iure) verfasst hat. Die Struktur dieser Abhandlung bleibt seinem Vorbild treu, dem zweiten Teil der zweiten Partie der Summa theologica von Thomas von Aquin. Jedoch sind die Diskussionen von de Soto in Bezug auf das Vertragsrecht viel ausgearbeiteter als jene seines illustren Vorgängers. Die spanischen Theologen waren sich alle einig, dass Thomas den Verträgen wenige Worte gewidmet hat. Als Konsequenz haben sie sich verpflichtet gefühlt, das Thema selbst weiterzuentwickeln.
11Was uns besonders in der Art und Weise, wie die Theologen des 16. Jahrhunderts das Thema des Vertragsrechts angesprochen haben, wichtig erscheint, ist, dass sie die gerade Verbindung zwischen Güterrecht und Vertragsrecht vorausgesetzt haben. Soto bemerkt, dass das Eigentum, das dominium, die Basis und das Fundament für alle Verträge ist.11 Als Konsequenz dessen spiegelt sich die Sorge um den Eigentumsschutz in ihrer Vertragstheorie wider. Als stärkste Ausprägung gehen die individualistische Auffassung und das Eigentum Hand in Hand mit ihrer liberalen Vertragsauffassung. Wir werden in wenigen Augenblicken wieder zu diesem Thema zurückkehren. Die Verbindung zwischen Eigentum und Vertrag wird ausdrücklich von dem Jesuiten Luis de Molina (1535-1600) in seinerAbhandlung „Über Gerechtigkeit und Recht“ unterstrichen. Nachdem er sich mit dem Güterrecht befasst hat, leitet Molina eine ausführliche Diskussion über die unterschiedlichen Formen des Eigentumserwerbs und verschiedene Arten des dominium ein. In diesem Kontext erscheint der Vertrag als eine besondere Art des Eigentumserwerbs kraft Willen des Eigentümers (dominus). Hier fügt Molina hinzu, er verfasse seine Abhandlung in zwei Schritten, zunächst präsentiert er eine allgemeine Vertragstheorie und anschließend konzentriert er sich auf verschiedene spezielle Vertragstypen.12 Man nimmt also eine Systematisierung der Vertragslehre innerhalb des Privatrechts war, welches wiederum selbst als ein logisches Ganzes erscheint. Diese Systematisierung spiegelt sich besonders gut in der Abhandlung „Über Gerechtigkeit und Recht“ des Antwerpener Jesuiten Leonardus Lessius (1554-1623) wider, wo ein Kapitel über Verträge im Allgemeinen vor der Thematisierung von speziellen Verträgen platziert ist.13
12Bevor eine Analyse bezüglich der Veränderung der Vertragslehre in den Werken der Theologen erfolgt, muss bestimmt werden, von welcher Vertragslehre sie ausgingen. Es ist klar, dass die Theologen nicht der Meinung des römischen mittelalterlichen Rechts folgten, welche darin besteht, dass nur die „bekleideten“ Verträge verbindliche Geltung haben, obwohl sie sich ständig von dem Vokabular des Vertragsrechts des ius commune inspirieren ließen. Im Gegensatz dazu bestätigten sie das kanonische Prinzip pacta quantumcumque nuda sunt servanda, obwohl sie nicht damit zögerten hervorzuheben, dass die kanonische Sichtweise nicht völlig mit dem naturrechtlichen Vertragsrecht übereinstimmt. So haben Lessius und Hugo Grotius (1583-1645) aufgezeigt, dass der Ausdruck des Vertragszwecks (causa) im kanonischen Recht erforderlich ist, weil sonst Irrtum oder Betrug fingiert wird, während der Vertragszweck gemäß den Prinzipien des Naturrechts implizit bleiben kann.14 Für die Rechtsprechung des forum internum waren die ultimativen Bewertungskriterien für den Vertragsschluss im Naturrecht zu finden. Gemäß den Aussagen von Lessius entfaltet jeder Vertrag, auch eine bloβe Vereinbarung, eine Naturalobligation, dies bedeutet somit eine Pflicht vor dem inneren Gewissen, unter der Voraussetzung eines Vertragsschlusses unter dem freien Willen und der Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Parteien. Sobald diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann ein Vertrag nur noch dann aufgelöst werden, wenn sich entweder die Parteien über dessen Auflösung einigen, oder wenn der Vertrag nicht gemäß den Formvorgaben des Zivilrechts oder des Kanonischen Rechts geschlossen wurde.15
13Die Theologen fordern, dass die Zivilgesetze und das forum externum sich so stark wie möglich an das Naturrecht und die Rechtsprechung des forum internum anpassen. Dies ist der Grund, warum Molina mit Zufriedenheit feststellt, dass die spanische Zivilgerichtsbarkeit ihre subtilen Unterscheidungskriterien aufgab, etwa die Unterscheidung zwischen „benannten“ und „unbenannten“ Verträgen oder etwa zwischen den „bekleideten“ und „unbekleideten“ Vereinbarungen, um schließlich das kanonische Prinzip, nämlich dass alle Verträge, obgleich „unbekleidet“, einklagbar sind, zu übernehmen. Molina gratuliert seinem Land für diese Anpassung der Zivilgerichtsbarkeit an die kirchliche Jurisdiktion.16 Er hätte auch vielen anderen Ländern im Laufe des 16. Jahrhunderts gratulieren können, die dieses Prinzip übernahmen. Für Frankreich kann man beispielsweise auf die Anordnung von Villers-Côtterets Bezug nehmen oder eine Passage von Charles du Moulin (1500-1566) zitieren, wonach alle Gesetze und Theorien über Formvorgaben bezüglich der Verträge in der Vertragspraxis überflüssig geworden sind.17 Es ist dennoch nötig, die Einwendungen von zahlreichen humanistischen Juristen bezüglich des erfolgreichen Konsensprinzips im Laufe des 16. Jahrhunderts hervorzuheben. So hat Etienne Forcadel (ca. 1519-1578) beispielsweise eine starke Abneigung in Bezug auf das kanonische Recht empfunden und hat für die Wiedereinführung der Digesten (ex nudo pacto actio non oritur) plädiert.
14In dem zweiten Teil dieses Beitrags möchten wir zeigen, dass das römisch-kanonische Vertragsrecht nicht nur für Theologen wertvolle Texte geliefert hat, sondern auch, dass die Theologen gleichzeitig die juristische Tradition dazu veranlasst haben, die Fundamente der bisherigen Vertragsrechtslehre zu überdenken. Zunächst wird erklärt, wie die Theologen eine Vertragslehre auf der Basis der Privatautonomie entwickelt haben. Anschlieβend wird dann kurz auf die Grenzen der Willensfreiheit nach den Vorstellungen der Theologen eingegangen.
15Die römische Auffassung über die Nicht-Einklagbarkeit von „unbekleideten“ Vereinbarungen hatte bereits den Druck der Kanoniker zu spüren bekommen, welche ein klares Prinzip formuliert haben wonach alle vertraglichen Übereinkünfte zwingende Wirkung vor den kirchlichen Gerichten haben sollen. Auf der Basis dieses Prinzips haben dann die Theologen des 16. Jahrhunderts eine allgemeine Vertragslehre herausgebildet. In ihrer Vertragstheorie, so argumentierten die Theologen, fände der Mensch seine natürliche Freiheit wieder (libertas restituta). Aufgrund dieser Vertragsfreiheit könne der Mensch über seine Güter verfügen wie er möchte. Er kann somit seine irdischen Güter auf die gleiche kreative Art und Weise nutzen wie sein Schöpfer. Wenn der Mensch nicht frei sei, Verträge nach seinem Willen abschließen zu können, so Oñate, könne er nicht mehr als der rechtmäßige Eigentümer seiner Güter angesehen werden, was wiederum seiner göttlichen Bestimmung zuwiderlaufe.18 Die Schaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes wurde nicht nur als eine Tatsache, sondern auch als ein Ziel angesehen, welches es zu erreichen galt. Indem der Mensch sein Handeln nach seinem freien Willen ausrichtet, insbesondere Verträge abschließt, könne er sein Eigentumsrecht an den Sachen ausüben.19 In den Augen von Theologen wie Molina führt der freie Wille zum einen zur Befreiung des Individuums und zum anderen zur Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft.20 So haben die Theologen das traditionelle Argument umgekehrt, wonach die Römer das Konsensprinzip aus Angst vor rechtlichem Rückstand, dem Zusammenbruch der Gerichte unter dem Gewicht zu vieler Streits und aus der Angst, den sozialen Frieden aufs Spiel zu setzen, nicht angenommen hätten.
16Das vertiefte Studium des vertraglichen Konsensprinzips führte die Theologen dazu, systematisch zu untersuchen, wie eine Vertragliche Obligation entsteht (so zum Beispiel die Theorie von Angebot und Annahme), wie eine Übereinkunft interpretiert werden soll (so zum Beispiel die Diskussion über den Willen, die Erklärung desselben und das Vertrauen als Grundlage für die Vertragsauslegung, die Konsequenzen von veränderten Umständen, etc.), wie der zwingende Charakter einer Willenserklärung ausgelegt werden soll (so zum Beispiel Vertragspflichten in Form von moralischen oder juristischen Schulden) und welcher der beste Weg sei, das Konsensprinzip nicht nur vor dem forum internum, sondern auch vor dem forum externum durchzusetzen (so zum Beispiel das officium judicis, die denunciatio evangelica, die condictio ex canone iuramenti, etc. ). Aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Aufsatzes werden im Folgenden nur einige von diesen Problematiken besprochen.
17In einer Vielzahl von Fällen legen die zu lösenden Paradoxien eine ultra-voluntaristische Vertragsauffassung frei, nämlich die Kernidee eines Vertrages als privates Gesetz, welches sich die Vertragsparteien selbst auferlegen (lex privata quam promittens sibi imponit). Sicherlich kann man schon vage Andeutungen dieser Idee in den römisch-rechtlichen Diskussionen über locatio-conductio ausmachen, aber Theologen wie Juan de Lugo (1583-1660) machten daraus ein Kernstück ihrer allgemeinen Vertragslehre.21 Daraus entstand eine ganze Kasuistik rund um die Vertragsauslegung. Wie es schon Tomás Sánchez (1550-1610) bemerkt, entsteht ein Gesetz nur durch den Willen und die Absicht des Gesetzgebers.22 Falls also die Pflicht des Vertragsschließenden ein privates Gesetz ist, welches er sich selbst auferlegt, ist es von Nöten zu betonen, dass dieses Gesetz nur innerhalb der Grenzen seines Willens und seiner Absicht zwingende Wirkung entfaltet. In seiner sehr angesehenen Anthologie der Maximen welche vor dem forum internum angewendet werden sollten, fasst der portugiesische Jesuit Manuel de Sá (1528-1596) die herrschende Meinung zusammen, indem er davon ausging, dass der vertraglichen Verpflichtung all dies nicht mehr unterfällt, was man ausgeschlossen hätte, wenn man es vorher gewusst hätte.23 Ebenso folgt die Vertragsauslegung den Regeln der aristotelischen epikeia, weil auch die von den Obrigkeiten erlassenen Gesetze und Rechtsverordnungen einer gerechten und angemessenen Auslegung zugänglich sein sollten. Die Voraussetzungslehre soll also auf alle Verträge Anwendung finden.24 In den Augen von Theologen wie Lessius ist jede vertragliche Verpflichtung durch eine stillschweigende Voraussetzung (conditio tacita) bedingt, wodurch klar wird, dass der Vertragsschließende frei ist, den Vertrag zu kündigen wenn er entdeckt, dass er sich während des Vertragsschlusses geirrt hat.25 Zugleich gehörte Lessius zu denjenigen, die realisierten, dass die Logik der Willensautonomie manchmal auch dem Öffentlichen Interesse zuwiderlaufen konnte. Dies ist auch der Grund, warum er einen Vertragsschließenden, der sich für die einseitige Auflösung des Vertrages auf die Voraussetzunglehre berief , in der Verpflichtung sieht, dem anderen die Kosten des Vertragsrücktritts zu erstatten. Aus denselben Gründen pries er die Theorie des berechtigten Vertrauens bei der Vertragsauslegung an.26 Schließlich gab es auch jene wie Lugo, welche die Voraussetzungslehre kritisierten, indem die Anwendung dieser Lehre die Rechtssicherheit, den Handel und die Praktik des vertraglichen Austauschs stark schädigen würden.27
18Übrigens muss betont werden, dass die Theologen die Interessen des anderen Vertragspartners auch berücksichtigt haben. Ein Verdienst ihrer Vertragslehre nach dem Naturrecht und forum internum bestand hauptsächlich in einer Annäherung welche man als „relativ“ bezeichnen könnte. Dies ist der Grund warum sie die Rechte des Empfängers einer Willenserklärung bzw. eines Angebots sehr ernst nahmen. Folgerichtig bestanden sie auf die Notwendigkeit einer deutlichen Bekanntgabe des vertraglichen Versprechens und der Annahme dieses Angebots, damit es zwingende Wirkung entfalten kann. Im Gegensatz zu Engeln sind Menschen nämlich nicht in der Lage, die Gedanken ihres Nächsten zu erraten. Als Konsequenz konnte selbst vor dem forum internum keine Vertragsverpflichtung aus einer einseitigen und inneren Verpflichtung entstehen. Um die herrschende Meinung zusammen zu fassen, sei der Jesuit Paul Laymann angeführt, welcher sowohl Angebot als auch Annahme für wesentliche Vertragsbestandteile hielt.28 Als Konsequenz verneinte die herrschende Meinung jeden Vertragszwang, selbst beim forum internum, in Bezug auf einseitige, noch nicht vom Vertragspartner akzeptierte Angebote (pollicitationes). Selbst das Naturrecht forderte die Annahme als wesentlichen Bestandteil für das Entstehen einer vertraglichen Verpflichtung.29
19Im Gegensatz zu dem was man erwarten könnte, waren die Theologen nicht einer religiösen Auffassung in Bezug auf die vertragliche Verpflichtung verhaftet. Nach einer herkömmlichen Ansicht verorteten die Theologen die zwingende Wirkung eines Vertrags auf der Idee, dass das Nichteinhalten einer vertraglichen Zusicherung oder Abrede eine Todsünde und Beleidigung Gottes sei. Zudem bemerkt man oft, dass in den Augen der Theologen die Nichtrespektierung eines Vertrages gleichbedeutend zur Sünde gegen das Gebot, stets die Wahrheit zu sagen bzw. ehrlich zu sein, ist. Sicherlich haben die Theologen in dem Bruch einer vertraglichen Zusicherung wie auch in dem Bruch eines Eides gemäß dem Dekret Gratians und insbesondere dem Kanon Iuramenti, eine Sünde gesehen. Jedoch war der fundamentale Grund, seine Versprechen und Zusicherungen einzuhalten ein anderer. Nach einer Vertragsauffassung, die oft mit Hugo Grotius assoziiert wird, haben die Theologen bereits vertreten, dass die vertragliche Zusicherung eine Verpflichtung gegenüber der anderen Vertragspartei beinhalte, welcher wiederum auf der anderen Seite ein Recht zur Vertragsdurchführung zustand. Um Lessius zu zitieren, entsteht durch eine vertragliche Zusicherung ein einklagbarer Anspruch.30 Sie verleiht dem anderen das Recht ihn vor Gericht durchzusetzen. Darin liegt das „relative“ und „humanistische“ Fundament einer vertraglichen Verpflichtung, die losgelöst ist von Gott und von einer moralischen Schuld. Nach Soto kreiert das gesprochene Wort ein Vertrauen zwischen den beiden Parteien, welches von der Tauschgerechtigkeit und nicht nur von der moralischen Verpflichtung abhängt.31
20Bevor wir zu den formellen und materiellen Grenzen kommen, welche die Theologen an die Vertragsfreiheit knüpften, muss die Aufmerksamkeit kurz auf die Entwicklung der Willensmängellehre gelenkt werden. Auf der Basis ihrer Analyse der vertraglichen Verpflichtung, welche wiederum auf dem Naturrecht beruht, verteidigten die Theologen die Auffassung nach welcher alle Einigungen der Parteien bindende Wirkung ab dem Zeitpunkt entfalten, in welchem es einen Konsens zwischen den Parteien gibt. Aber falls der freie Wille auf einem Fehler basiert oder von Gewalt beeinflusst wurde, stellt sich die Frage, ob der Vertrag wirklich gewollt war und ob er sich durchführen lässt. Wie später der niederländische Theologe und Jurist Hugo Grotius bemerkte, hatte diese Frage extrem komplexe Diskussionen in den Schriften der Theologen hervorgerufen. Diese Komplexität ist die Konsequenz einer Gegensätzlichkeit zwischen der neuen Logik der Willensautonomie und der Tradition eines philosophischen und juristischen Gedankens in Bezug auf den Einfluss von Irrtümern und Gewalt auf die Freiheit menschlichen Verhaltens. Eine einheitliche und konsequente Lösung für dieses Problem wurde erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Leonard Lessius entwickelt. Er argumentierte, dass Irrtum und Zwang Raum zu einer Art relativen Nichtigkeit zum Vorteil desjenigen eröffnen würden, der die Arglist oder den Zwang erlitten habe. An dieser Stelle kann nur ein kurzer Überblick über die technischen Probleme gegeben werden, mit denen sich die Theologen auseinander setzen mussten, um ihre Willensmängellehre zu entwickeln.
21Beginnen wir mit dem Problem der (Angst vor) Gewalt oder Drohung. Weder das römische Recht noch die aristotelische Philosophie erkannten unzweideutig an, dass eine willentliche Entscheidung unter Gewalt oder Angst vor derselben unfreiwillig getroffen worden war. Dies ist der Grund warum der Großteil der Theologen der Ansicht war, dass ein Vertrag, der unter Einfluss von Gewalt (oder Angst vor derselben) geschlossen wurde, nicht automatisch nichtig war (irritus). Die herrschende Meinung gelangte zu dem Schluss, dass Zwang zwar zur Nichtigkeitserklärung eines Vertrages führen kann (irritandus), aber nicht zur Nichtigkeit ab initio. Die communis opinio entschied endgültig, dass die unerlaubte Handlung des Beklagten dem Kläger ein Recht zur Nichtigkeitserklärung des Vertrages durch einen Richter einräume. Dennoch gab es Theologen wie Molina oder Fernão Rebelo (1547-1608), die der Ansicht waren, dass schon die geringste Form von Zwang bereits ab initio den erforderlichen Willen zum Vertragsschluss schädige. Sie nahmen eine radikale Sichtweise der Vertragsfreiheit an und waren der Ansicht, dass ein Vertragsschluss, der unter dem Einfluss von Angst oder Gewalt geschlossen wurde von Anfang an nichtig ist (ab initio/ipso iure). Die Frage welcher Grad von Gewalt (oder Angst vor derselben) als ausreichend angesehen werden kann, um eine Nichtigkeit des Vertrages zu bewirken, war Gegenstand einer systematischen Analyse (z.B. das Kriterium der homo constans; der Einfluss von Zwang, der durch Dritte ausgeübt wird; der Einfluss von Zwang, der gegenüber Dritten ausgeübt wird; die Angst vor höher gestellten Personen; etc.) und einer kasuistischen Analyse (z.B. der Missbrauch des Rechts auf einen Prozess).
22Was die Problematik des Irrtums oder der arglistigen Täuschung angeht, verhinderte es die römischrechtliche Tradition, schnell eine einstimmige Antwort zu erreichen. Im römischen Recht ist es vor allen Dingen der Unterschied zwischen den Verträgen stricti iuris und den Verträgen bonae fidei, der Schwierigkeiten bereitete. Die Verträge stricti iuris welche auf einem Mangel basierten, konnten später nichtig erklärt werden, während die Verträge bonae fidei von Anfang an ipso iure nichtig waren, wenn sie einem Mangel unterlagen. Am Rande der Frage bezüglich des Einflusses von Mängeln auf die Wirksamkeit einer vertraglichen Verpflichtng entwickelte sich auch eine Diskussion über die Bedeutung des Begriffs von “Treu und Glauben” (bona fides). Obgleich die Theologen sich unmissverständlich auf die Ansicht Pierre de Belleperches (ca. 1247-1308) einigten, dass alle Verträge gemäß ”Treu und Glauben” ausgeführt werden müssen, war es nicht so einfach, sich von der römischrechtlichen Unterscheidung zwischen Verträgen bonae fidei und stricti iuris zu distanzieren. Zuletzt war es Lessius, der einen Bruch in der Diskussion über die Willensmängellehre herbeiführte. Er setzte der Unterscheidung zwischen den Verträgen bonae fidei und den Verträgen stricti iuris im Hinblick auf die rechtsvernichtenden Konsequenzen eines Willensmangels ein Ende.32 Desweiteren plädierte er für die Aufhebbarkeit (und nicht für die Nichtigkeit ab initio) von Verträgen, die sowohl auf Gewalt (und der Angst davor) als auch auf Irrtum oder Täuschung basieren.33 Es handelt sich hierbei um eine Begriffsentwicklung, die der Umwandlung des ius commune durch die Moraltheologie entstammt und deren Auswirkungen bestehen bleiben.
23Als die Theologen eine auf der Autonomie des freien Willens basierenden Vertragstheorie sowie die Idee eines Vertrags als Gesetz entwickelten, erkannten sie auch an, dass der Vertragsfreiheit gewisse Grenzen zu setzen sind. Um Mercado zu zitieren, verpflichten die Vertreibung Adams aus dem Paradies und die menschliche Schwäche, die daraus resultiert, den Menschen dazu seine Freiheit einzuschränken, indem er seinen Willen den Gesetzen unterwirft.34 Obwohl die vertragsschließenden Parteien im Prinzip frei sind, sind sie jedoch immer noch Bestandteil einer politischen und religiösen Gemeinschaft. Von seiner Natur her ist der Mensch ein soziales Wesen, welches in einer Gemeinschaft nur leben kann, wenn es sich einer öffentlichen Autorität unterwirft, die wiederum Frieden garantiert und Recht spricht. Dieser Gedanke stellt eine Konstante in den politischen Erwägungen der Theologen dar.35 Um den Frieden innerhalb einer Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, können die Autoritäten einen legitimen Grund haben, um die individuelle Vertragsfreiheit gewissen Konditionen zu unterwerfen.36 Um Betrug vorzubeugen oder bestimmte Gruppen zu beschützen, können öffentliche Autoritäten beispielsweise spezielle Formerfordernisse vorschreiben, die im Falle einer Verletzung Nichtigkeit nach sich ziehen. Die Frage, ob diese formellen Grenzen auch gleichzeitig vor dem forum internum Anwendung fanden, ist eine sehr schwierige Frage. Sie berührt Fragen bezüglich einer höheren Ordnung, zum Beispiel die Beziehung zwischen Kirche und Staat, die Rolle der Beichtväter bei der Entwicklung von Zivilgesetzen, die teleologische Interpretation der Gesetze, die Unterschiede zwischen Formvorschriften mit bloβer Beweisfunktion und substanziellen Formerfordernissen, die Beziehung zwischen moralischen Obligationen und juristischen Obligationen, das Verhältnis zwischen der strikten Anwendung von Gesetzesrecht und der Billigkeit, etc. Darüber hinaus respektierten Kanonisten und Theologen nicht unbedingt die Unterscheidung zwischen verschiedenen spezialisierten Rechtsgebieten, welche die heutige Rechtswissenschaft vornimmt. So ging die Diskussion über formelle Beschränkungen in der Vertragsfreiheit einher mit der Frage nach der Wirksamkeit von solchen Testamenten, die den gesetzlichen Formvorschriften nicht entsprachen.
24Im Allgemeinen kann man bestätigen, dass der moralische Druck, den das kanonische Recht und die Theologie auf das ius commune ausübten, zunächst zu einer radikalen Abschwächung in Bezug auf formelle Rechtsvorschriften geführt hat.. So plädierten einige Nachfolger des Abbas Panormitan (1386-1455) für den Vorrang des Willens in Bezug auf Testamente und Verträge sowie Wahlen, welche nicht den gesetzlichen Formvorschriften entsprachen.37 Der aus Löwen stammende zukünftige Papst Adrian von Utrecht (1459-1523) (Hadrian VI.) verteidigte aufgrund einer teleologischen Gesetzesinterpretation die vernünftige Anwendung von Regeln und Formalitäten, die in den Verträgen vorgeschrieben werden.38 Er wollte damit verhindern, dass die strikte Anwendung von Gesetzesrecht zur Ungerechtigkeit und Unbilligkeit führt (summum ius summa iniuria). Jedoch neigten die Theologen zunehmend zur der Idee, dass die von öffentlichen Autoritäten festgeschriebenen Formvorschriften die natürliche Vertragsfreiheit endgültig einschränken können, selbst vor dem forum internum, und sogar wenn der Konsens der Parteien echt war.39 Aus Salamanca wurden Warnungen erhoben, indem man argumentierte, dass der Akzent auf dem Vorrang des Willens zu einem unlösbaren Konflikt zwischen der weltlichen und der kirchlichen Justiz führen würde. Francisco de Vitoria befürchtete unlösbare Gewissenskonflikte und bürgerliche Ungehorsamkeit.40 Er forderte die Beachtung von positivem Gesetzesrecht im Hinblick auf Formvorschriften und der Nichtigkeit als Rechtsfolge ihrer Nichtbeachtung auch vor dem forum internum. Die Jesuiten griffen diese Ansicht im Vertragsrecht wieder auf, jedoch nicht unbedingt im Erbrecht.
25Die Theologen erkannten, dass die Privatautonomie der Parteien auch von anderen Erwägungen gesetzlicher oder moralischer Art eingeschränkt werden kann. Ein Vertrag kann nichtig sein, wenn die Parteien gegen die Gesetze oder gegen die guten Sitten verstoßen.41 Man erwartet eigentlich, dass die Theologen der Vertragsfreiheit ernste moralische Grenzen aufzeigen würden. Die Realität ist jedoch komplexer. Die Frage nach materiellen Grenzen der Vertragsfreiheit berührt schwierige Fragen: das jeweilige Verhältnis zwischen Verbot von Vertragszweck und Vertragsgegenstand, der Unterschied (oder genauer gesagt das Fehlen eines Unterschieds) zwischen dem Fehlen eines „moralischen Wertes“ und der rechtlichen Nichtigkeit, die Grenzen zwischen vertraglichen und quasi-vertraglichen Verpflichtungen, das Verhältnis zwischen den natürlichen guten Sitten und jenen guten Sitten, die politisch korrekt sind, etc.
26Die Theologen einigten sich schnell bezüglich der Tatsache, dass der Vertragszweck stichhaltig sein soll, um den moralischen Wert dieses Vertrages bestimmen zu können, aber kaum um seine rechtliche Wirksamkeit zu beurteilen. So erklärte Oñate beispielsweise, dass ein Kaufvertrag über Waffen mit dem Ziel einen (bestimmten) Menschen zu töten zwar moralisch verwerflich, juristisch jedoch wirksam ist, während ein Vertrag über einen Mord nichtig ist.42 Man betonte, dass das Verbot eines Vertrages sich hauptsächlich auf die Ebene des Vertragsgegenstandes bezöge: z.B. konnte der Vertrag über einen Mord oder ein Vertrag über Prostitution keine zwingende Kraft entfalten, auch wenn darüber Konsens besteht. Die Pflicht eine verwerfliche Handlung vorzunehmen wurde als eine unmögliche Verpflichtung angesehen und war daher eine contradictio in terminis. Falls jedoch eine Vertragspartei ihre Verpflichtung erfüllt, stellt sich die Frage, ob die andere Vertragspartei wiederum auch ihrer Pflicht nachkommen sollte. Angenommen, eine Prostituierte hat ihren Dienst erbracht, kann ihr Freier rechtswirksam verpflichtet sein, die vereinbarte Vergütung zu zahlen? Die Antwort auf diese Frage fiel unterschiedlich aus. Einige waren der Ansicht, dass ein unmoralischer Vertrag keinerlei rechtliche Verpflichtung entfache, welcher Art diese Verpflichtung auch sein mag. Andere behaupteten, dass derjenige, der einen unmoralischen oder illegalen Dienst erbracht habe, das Recht habe dafür bezahlt zu werden, sei es aufgrund ungerechtfertigter Bereicherung oder aufgrund eines gegenseitigen Versprechens, dessen Bedingung in der Vergangenheit oder in der Gegenwart erfüllt wurde bzw. wird. Der Großteil der Theologen einigte sich darauf, dass eine unmoralische Handlung einen Marktpreis habe; so hatten eine Prostituierte oder ein Auftragskiller in jedem Fall ein Recht auf ihre Vergütung und konnten eine Einrede (exceptio) geltend machen, wenn der Klient bzw. Auftraggeber schon gezahlt hatte, aber dann sein Geld zurückforderte.43 Grotius übernahm diese Sichtweise von Theologen wie Molina und wurde in dieser Hinsicht stark von Robert-Joseph Pothier (1699-1772) kritisiert.44
27In Anbetracht, dass die Vertragsfreiheit als eine Art natürliches subjektives Recht angesehen wurde, unterstützte man eine restriktive Auslegung des positiven Rechts, welche gewisse Verhaltensweisen untersagte. Diese Idee ragte klar aus dem Tractatus de legibus et legislatore Deo von Suárez heraus.45 Hier kann hinzugefügt werden, dass die Theologen einen Unterschied zwischen der engeren Kategorie der „guten Sitten gemäß dem Naturrecht“ und der viel weiteren Kategorie der „guten Sitten gemäß dem Zivilrecht“ machten.46 Auf diese Weise konnten sie die Wirksamkeit von einer Anzahl an Verträgen, die nach dem ius commune für nichtig erklärt worden waren, garantieren (z.B. die Schenkung unter Eheleuten und die Schenkung des gesamten Vermögens). Um eine solche Schenkung vorzunehmen, reichte es nach der Meinung der Theologen aus, einen Eid zu erklären. Diese Art von Eid war legitimiert, weil sie nur gegen die guten Sitten des Zivilrechts verstieß, aber nicht gegen die guten Sitten des Naturrrechts. Daher behaupteten die Theologen, dass Verträge dieser Art vor dem forum internum bzw. Gewissen Bestand hätten. Einige, darunter Lessius, warfen darüber hinaus den Zivilrechtlern vor, mit einer zu weiten Auffassung der guten Sitten die Ausübung von Tugenden wie der Groβzügigkeit, der Nächstenliebe und der Armut zu lähmen.47 Die Frage nach den natürlichen Grenzen der Vertragsfreiheit war somit ein politisch sensibler Punkt.
28Die Veränderung des römischen Vertragsrechts durch die Moraltheologie in den Schriften der Theologen wird besonders durch das Prinzip der Tauschgerechtigkeit verdeutlicht – der letzten Grenze der Vertragsfreiheit. Es handelt sich dabei neben dem Prinzip der Privatautonomie um die zweite große Säule auf welche die Theologen das neue Vertragsrecht stellten. Die Theologen stellten den freien Willen der Parteien als Quelle der vertraglichen Verpflichtung nicht in Frage. Aber sie forderten eine Kontrolle des vertraglichen Ausgleichs a posteriori , weil ein Vertrag in dem Interesse beider Parteien geschlossen werden soll. Die Theologen und Kanonisten wie Martín de Azpilcueta (Dr. Navarrus) (1492-1586) verstehen einen Vertrag als ein Rechtsinstitut des ius gentium, welches für das Wohl aller Vertragsschließenden gedacht ist.48 Etwas moderner ausgedrückt, ist der Vertrag als ein Spiel gedacht, bei welchem jeder gewinnt; er soll kein Null-Summen-Spiel sein. Die Kontrolle a posteriori des vertraglichen Ausgleichs kann zu einer Schadensersatzklage wegen einer Vertragsverletzung (laesio) führen. Der Beklagte kann entscheiden, ob er den Vertrag wieder „ins Gleichgewicht bringen“ oder ob er ihn für nichtig erklären und damit eine Verpflichtung zur gegenseitigen Rückgewähr der erbrachten Leistungen herbeiführen möchte. Für die Theologen stammte die Verpflichtung zur Respektierung der Tauschgerechtigkeit direkt von dem Prinzip des Naturrechts ab, wonach niemand sich auf Kosten anderer bereichern sollte.49 Sie schufen eine Verbindung zwischen diesem Prinzip und dem siebten biblischen Gebot (Du sollst nicht stehlen) sowie dem aristotelischen Prinzip der Tauschgerechtigkeit (nach welchem bei einem freiwilligen Austausch ein Gleichgewicht zwischen demjenigen, der gibt, und demjenigen, der empfängt, bestehen soll). Die Theologen sahen dieses Gleichgewicht praktisch in Abhängigkeit vom gerechten Preis. Im Allgemeinen kann man sagen, dass sie diesen Preis als Marktpreis der freien Marktwirtschaft betrachteten, so „verrückt“ (insana), um den Terminus des Kanonisten Diego de Covarruvias y Leyva (1512-1577) zu verwenden, dies auch sein mag.50 Der wirtschaftliche Wert der Leistung wurde deshalb als Nutzwert einer Sache gesehen, welcher ihr auf dem Markt gemäß dem Gesetz von Angebot und Nachfrage verliehen wird. Was die Theologen nicht akzeptierten, war die Ausbeutung von persönlichen Vorzügen und persönlichen Bedürfnissen. Man konnte also nicht den Brotpreis für einen Armen doppelt so hoch anlegen wie für einen Reichen, unter dem Vorwand, dass das Bedürfnis nach diesem Brot bei einem hungrigen Armen doppelt so hoch ist. Der Marktpreis, der von der allgemeinen Berechnung des Nutzwertes abhängt, verhindert genau das Ausnutzen von persönlichen Bedürfnissen dieser Art.
29Indem sie die freie Marktwirtschaft als Garantie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung verteidigten, gingen die Theologen sehr weit – so weit sogar, dass sie in gewissen Diskussionen (z.B. der Handel mit Insiderwissen, das Späkulieren, die Informationspflichten) bestimmte Sichtweisen einnahmen, die man heute als agressiven Liberalismus qualifizieren würde. Einige katholische Juristen wie Arias Piñel (1515-1563) behaupteten, dass sie „christlicher“ dächten als die Theologen. Dies ist offensichtlich ironisch, da die Theologen die Prinzipien der christlichen Moraltheologie bestimmten, auf welchen sie wiederum die Lehre vom gerechten Preis als Gegensatz zur überschwänglichen Willkür gründeten; diese Willkür warfen sie dem römischen Vertragsrecht vor. Die Theologen waren auch der Ansicht, dass sich die Anwendung des Prinzips der Tauschgerechtigkeit vor dem forum internum von der Anwendung vor dem forum externum unterscheide. Um zu verhindern, dass sich der gerichtliche Verzug nicht häuft, erkannten sie das Recht auf einen Prozess aufgrund von einem zugefügten Nachteil im forum externum nur in dem Fall an, in dem dieser Nachteil höher als die Hälfte des gerechten Preises ist (Verkürzung über die Hälfte). Sie verteidigten mit einer gewissen Unermüdlichkeit, dass jede Abweichung in Bezug zum gerechten Preis – der natürlich eine gewisse Spanne hat– im forum internum zur Restitution (restitutio) führen muss. Im Wege der Entschädigung konnte die Tauschgerechtigkeit wieder hergestellt werden und die Seele desjenigen Vertragspartners, der den Nachteil geschaffen hatte, konnte gerettet werden. Die Seele der Individuen war aber nicht das einzige, das auf dem Spiel stand. Wenn die Verträge nicht das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen beachten, ist das Vertrauen (fides), so die Ansicht der Theologen, als Grundpfeiler der Rechtsordnung erschüttert, was wiederum den Frieden innerhalb der Gesellschaft gefährdet. In den Augen der Theologen hing das Seelenheil vom gesellschaftlichen Frieden ab und umgekehrt. Das Vertragsrecht war somit offensichtlich mit der Theologie verwoben, wie auch die Theologie mit dem Vetragsrecht verwoben war.
30Zum Schluss möchten wir die Feststellung von Friedrich Carl von Savigny, einem Vater unserer Disziplin, paraphrasieren, die er in seinem berühmten Werk System des heutigen Römischen Rechts in Bezug auf den Geist, durch welchen die westlichen juristischen Kulturen geprägt wurden, traf:51 Die christliche Religion hat die Welt in der Hinsicht verändert, dass alle unsere Gedanken, so fremd, ja feindlich sie derselben erscheinen mögen, dennoch von ihr beherrscht und durchdrungen sind. Die Geschichte des Vertragsrechts ist nicht anders verlaufen. Es ist eine Geschichte der Umwandlung unseres Vertragsdenkens, das ursprünglich stark vom römischen Recht geprägt war, im Lichte der christlichen Theologie. Dies führt zu der Folgerung, dass ein wichtiger, wenngleich nicht exklusiver Teil der Vertragslehre im Okzident aus der Sorge um das Seelenheil des Individuums vor dem forum internum entstanden ist. Die engen Beziehungen, die die katholische Theologie und die römisch-kanonische Tradition zu Beginn der Frühen Neuzeit unterhielten, führten zu einer Vertragslehre, die die vertragliche Verpflichtung unter dem Gesichtspunkt der Privatautonomie betrachtet, ohne den Bezug auf den politischen, moralischen und spirituellen Zusammenhang, in welchem sich das Leben des Menschen als Pilger auf der Reise zu Gott abspielt, aus dem Auge zu verlieren.