Artikel vom 30. 9. 2010
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ISSN 1860-5605
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Xaver Glass:

Das Gleichnis vom guten und schlechten Richter in Senecas de beneficiis und Ulpians Definition von Gerechtigkeit (D. 1, 1, 10)

Seneca tut in seinem Werk de beneficiis – „über die Wohltaten“ – aus dem 1. Jahrhundert nach Christus etwas für die heutige Zeit nur schwer Begreifliches. So würde es verwundern, wenn der Autor eines Ratgebers oder Lebenshilfebuchs die Zivilprozessordnung bemühte, um der Leserschaft das Verhältnis von Ehe und Liebe zu erklären. Tatsächlich nutzt aber Seneca das Recht und die Gerechtigkeitsvorstelllungen seiner Zeit als Vorlage, um seine Philosophie – warum, wem und wie man Wohltaten zu erweisen hat – zu verdeutlichen. Das Werk enthält hunderte Anspielungen auf das klassische römische Recht. So findet sich auch die Quintessenz seines Werkes in eine rechtliche Metapher gehüllt, die das Bild eines Richter bemüht:


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benef. 4, 11, 4 f.

Quid? cum in ipso uitae fine constitimus, cum testamentum ordinamus, non beneficia nihil nobis profutura diuidimus? [...] Atqui numquam diligentius damus, numquam magis iudicia nostra torquemus, quam ubi remotis utilitatibus solum ante oculos honestum stetit, tam diu officiorum mali iudices, quam diu illa deprauat spes ac metus et inertissimum uitium, uoluptas; ubi mors interclusit omnia et ad ferendam sententiam incorruptum iudicem misit, quaerimus dignissimos, quibus nostra damus.

Was? Wenn wir unmittelbar an unseres Lebens Ende stehen, wenn wir unser Testament verfügen, verteilen wir dann nicht Geschenke, die uns keinen Gewinn bringen können? [...] Und doch geben wir niemals sorgfältiger, martern wir niemals stärker unser Urteilsvermögen, als wenn – ohne Rücksicht auf Nützlichkeitserwägungen – allein das Sittliche uns vor Augen steht – so lange schlechte Richter unserer Pflichten, wie uns die Hoffnung ungünstig beeinflusst und die Furcht sowie die trägste Fehlhaltung, die Genuss sucht; sobald der Tod allem ein Ende gesetzt und einen unbestechlichen Richter aufgefordert hat, sein Urteil abzugeben, suchen wir Menschen; die es am ehesten wert sind, ihnen unseren Besitz zu vermachen.1


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Mittels des Maßstabs eines guten (bonum) Richters bzw. des schlechten (mali iudices) Richters erläutert Seneca also seine Konzeption von Wohltaten.

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Doch zunächst: Was meint Seneca damit, wenn er rhetorisch fragt, cum testamentum ordinamus, non beneficia nihil nobis profotura diuidimus?2. Die hereditas ex testamentu, auf die Seneca in benef. 4, 11, 4 anspielt (testamentum ordinamus3) ist kein Vertrag. Ein Erbvertrag, in dem der Erblasser einem anderen die Erbschaft verspricht (per stipulatio) oder die Erbschaft unmittelbar zuwendet, ist nichtig4. Dies hat zur Konsequenz, dass die Erbschaft (hereditas) zum einen erst nach dem Tod angetreten werden konnte. Zum anderen verhinderte diese Regelung, dass die hereditas ein Verhandlungsgut werden konnte. Die Aussage, dass einem damit beim Testieren solum ante oculos honestum stetit5 und man frei von utilitas, also von Eigennutz, sei, könnten vor diesem Hintergrund verfasst worden sein: Die Vertragsfeindlichkeit verhindert, dass aus dem Testament ein Gewinn gezogen werden kann. Es ist einem also unmöglich, beim Testieren seine utilitas zu verfolgen. Damit ist die vertragsfeindliche hereditas auch „eigennutzfeindlich“ und nur honestum, so Seneca, leite beim Testieren an.

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Honestum und utilitas stehen bei Seneca in einer dichotomen Beziehung: utilitatibus solum ante oculos honestum stetit. Die Abwesenheit von utilitas bedeutet, laut Seneca, nämlich das alleinige (solum) Überwiegen des anderen Teils, des honestum6.

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Wenn Seneca weiter schreibt, [utilitas] stetit ... tam diu officiorum mali iudices quam diu illa deprauat spes ... metus ... voluptam7, bemüht er eine weitere Dichotomie, die des schlechten/bestechlichen Richter (malus iudex) und des guten/unbestechlichen (incorruptus) Richters um das Verhältnis von utilitas und honestum zum beneficium zu erläutern.

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Aufschluss darüber, welches Bild eines guten/schlechten Richters Seneca bzw. dem Leser der damaligen Zeit vorschwebten, könnte Ulpians berühmte Definition von Gerechtigkeit (D. 1, 1, 10) geben. Ulpian spricht zwar nur allgemein von iuris prudentia. Der Richter wird nicht ausdrücklich genannt. Jedoch ist er derjenige, der das Recht zwar nicht gibt, jedoch am Ende zu gewähren hat - ius suum cuique tribuendi. Für ihn haben die Vorstellungen hinter D. 1, 1, 10 also besondere Bedeutung.


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D. 1, 1, 10

Ulpianus libro primo regularum. Iustitia est constans er perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi 1. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. 2. Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia.

Ulpian im 1. Buch der Rechtsregeln. Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren. 1. Die Gebote des Rechts sind folgende: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren. 2. Rechtswissenschaft ist die Kenntnis von den göttlichen und menschlichen Dingen, das Wissen vom Recht und Unrechten.


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Aber darf man überhaupt die Worte eines Juristen, der mehr als hundert Jahre nach dem Tode Senecas geboren wurde, zur Interpretation heranziehen? Zwar ist die Definition tatsächlich jüngeren Datums als Senecas Werk. Jedoch bildet diese ausschließlich Konzeptionen ab, die bei den Juristen Roms spätestens seit der ausgehenden Republik bestanden8, aus der griechischen Philosophie stammen9 und bereits von Cicero10 rezipiert wurden11.

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Die iuris prudentia umfasst dabei nicht nur die (Rechts-) Wissenschaft an sich. Vielmehr ist ihr, als lateinische Übersetzung des griechischen φρόνησις (= Widerpart der eher theoretischen σοφία12) auch ein bedeutendes Moment der Praxis inhärent13 (iuris prudentia = practical wisdom14). So deckt sich Ulpians Definition der iuris prudentia tatsächlich zu einem großen Teil mit der Definition der φρόνησις bei Cicero15. Bei der iuris prudentia der Digestenstelle D. 1, 1,10 handelt es sich also nicht um eine theoretische Wissenschaft (simulata philosophia) die sich mit der Lösung von weltfremden Problemen beschäftigt16.Es handelt sich vielmehr um eine praktische Ethik wie D. 1, 10, 1 ausführt. Man soll honeste vivere, alterum non laedere, suum ciuque tribuere17 (= iuris praecepta). Insbesondere das honeste vivere verweist auf die Verschmelzung von Rechts- und Moralvorschriften18. Die iuris prudentia bildet dabei als vera philosophia die Grundwissenschaft des Lebens überhaupt19. Dabei sind diese nicht schon per se Rechtsnormen sondern vielmehr Grundlage des Rechts20. Aber gerade weil im römischen Recht vieles nicht kodifiziert war und rechtliche Erfindung notwendig wurde, wurde die iuris prudentia im Sinne einer klugen (Cicero übersetzt φρόνησις mit sapientia21) Anwendung der iuris praecepta hoch geschätzt22.

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Da es sich bei D. 1, 1,10 um eine vollständige Ethik handelt, wäre ein Leben, das den Anforderungen von D. 1, 1, 10 genügt, vollkommen23.

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Während der gute Richter sich also den ethischen Anforderungen der D. 1, 1, 10 zumindest annähert, tut dies ex negatione der schlechte, korrupte Richter gerade nicht. Seneca beschreibt mit seiner Trias die Ursache der Korruption also eines vitam inhonestum, des alterum laedere und des alterum suum cuique non tribuere. Genauso, wie metus, spes, voluptas (Trias) den Richter korrumpieren, führen sie zur utilitas, was das beneficium ausschließt24.

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Die Grundlage des honestum, der Antrieb für das benefacere also, erläutert Seneca mittels mehreren rhetorischen Fragen: Qui reddat beneficium? qui reddat iustitia? [...] quicquam preater ipsas, ipsas non petis25. Utilitas befriedigt die menschlichen Bedürfnisse metus, spes, voluptas. Die iustitia hingegen sei nur ein Wert in sich. Dies deckt sich mit den Vorstellungen von iustitia im römischen Recht: Die iustitia wurde, wie D. 1, 1,10 zeigt, nicht aus einer Ethik des „Guten“ oder einer „Gottheit“ hergeleitet.26 Das Streben nach iustitia ist also bereits ein absoluter Wert dem kein Nutzen – utilitas – mehr inhärent ist. So verhielte es sich auch mit dem beneficium, so Seneca – wie die iustitia ist also das beneficium bereits ein absoluter Wert27.

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Mit dem Rückgriff auf den iudex und die iustitia präsentiert Seneca die Kerngedanken seiner Betrachtungen des beneficium. Er legt dar, dass die Konsequenz des nicht korrumpierten Geistes zwangsläufig eine Entscheidung ist, die frei von utilitas getroffen wird, während spes, metus, voluptas zu einem Leben führen, welches die iuris praecepta verletzt, damit korrumpiert ist, und zu utilitas führt. Die Entscheidung die nur anhand des honestum und frei von utilitas getroffen wird, mündet, so Seneca automatisch im beneficium: si non damus beneficia ... intestatis moriendum sit.28

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Die Textstelle kann zudem als Versuch Senecas gedeutet werden, die Praktikabilität seiner Theorien zu belegen. Seneca schreibt nämlich bereits in benef. 2, 26, 2 nemo non benignus in sui iudex. Man könnte benef. 4, 11, 5 als Erläuterung von dieser Textstelle begreifen. Die Zusammenschau dieser Textstellen führt nämlich zu dem Eindruck, Seneca wolle zum Ausdruck bringen, man sei auf Grund der eigenen Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen nicht in der Lage, sich selbst zu (be-) urteilen. Erst wenn diese verschwinden – vor dem Tode (mors interclusit) – und man damit als Richter für sich selbst frei von Bestechung ist (incorruptum) dann richte man auch sich selbst gerecht (aequus). Seneca belegt damit, dass es auch für den homo imperfectus möglich ist, unter bestimmten Vorzeichen seine Philosophie zu befolgen29. Er führt aus, was er an anderer Stelle30 anklingen lässt: non loqui de sapientibus, ... sed de imperfectis hominibus honestam uiam sequi uolentibus.31

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Fußnoten:

1 Diese und folgende Übersetzungen nach: B. Rosenbach, Seneca, Philosophische Schriften: 5 Bände – Band 2 – De Beneficiis, Darmstadt 1999.

2 „Wenn wir unser Testament verfügen, verteilen wir dann nicht Wohltaten, die uns keinen Gewinn mehr bringen können?“

3 „Wir verfügen unseren letzten Willen/das Testament.“

4 M. Kaser/R. Knütel, Römisches Privatrecht – ein Studienbuch, München 2005, S. 349, Y. Stern, The Testamentum. Phenomenon in Ancient Rome, in: Historia 2000, S. 413 ff., hier S. 423.

5 „Es steht uns nur das Sittliche / Ehrenvolle vor Augen.“

6 Auch Cicero beschäftigt sich mit dieser Dichotomie: de off. 1, 153.

7 „Wenn die Nützlichkeit vor Augen steht, sind wir schlechte Richter unserer Pflichten, die von Angst, Hoffnung und Vergnügen ungünstig beeinflusst werden.“

8 W. Waldstein, Ulpians Definition von Gerechtigkeit, in: H-H. Jakobs et al., Festschrift für Werner Flume – Bd. I, Köln 1978, S. 213 ff., 216.

9 Waldstein, Ulpinians Definition (Anm. 8), S. 221.

10 inv. 2, 160 nach: Waldstein, Ulpinians Definition (Anm. 8), S. 214.

11 Waldstein, Ulpinians Definition (Anm. 8), S. 216.

12 vgl. U. Wolf, Aristoteles` Nikomarchische Ethik, Darmstadt 2007, S. 145 f.

13 J. Cairns, Critical Studies in ancient law, comparative law and legal history, Oxford 2001, S. 81.

14 Cairns, Critical Studies (Anm. 13), S. 81.

15 Vgl. de off., 1, 153.

16 So auch: Cic. , de off., 1, 153; U. von Lübtow, De iustitia et iure, in: SZ 66 (1948), S. 458 ff., hier S. 463.

17 „Anderen nicht schaden, ehrenvoll leben und jedem das Seine geben.“

18 Von Lübtow, iustitia et iure (Anm. 16), S. 460.

19 Von Lübtow, iustitia et iure (Anm. 16), S. 460.

20 vgl. Waldstein, Ulpinians Definition (Anm. 8), S. 222; M. Kaser, Das Römisches Privatrecht – Bd. I, 2. Aufl. München 1971, S. (Seitenzahl bitte aktualisieren!); Von Lübtow, iustita et iure (Anm. 17), S. 524, 514.

21 Cic., de off., 1, 153.

22 Von Lübtow, iustita et iure (Anm. 16), S. 462.

23 O. Behrends, Besprechung der Festschrift für Werner Flume, in: SZ 98 (1980), S. 461.

24 Dass utilitas zur Korruption des Menschen führt, erwähnt Seneca darüber auch in, benef. 3, 21, 1 (utilitate corumpi).

25 benef. 4 12, 4: „Was nutzt die Gerechtigkeit? Was nutzt die Wohltat? Nichts außer sich selbst.“

26 Von Lübtow, iustitia et iure (Anm. 16), S. 469.

27 Dies betont Seneca in seinem Werk auch durchgehend mit den Worten: per se res expetenda est – „Es ist eine von sich erstrebenswerte Sache.“

28 benef. 4, XI, 6 Wenn wir keine Wohltat erweisen wollen müssen wir ohne Testament sterben.

29 So auch: B. Inwood, Reading Seneca: Stoic Philosophy at Rome, Oxford 2005, S. 212.

30 benef. 2, 18, 2.

31 „Ich spreche nicht über Philosophen sondern über unvollkommene Menschen und ihren Willen einen sittlichen Weg zu gehen.“




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