Juristischer Wissenstransfer zwischen Deutschland und Ungarn
(Thomas Henne)
Die europäische Rechtskultur, häufig mehr beschworen als
erfaßt, hat jedenfalls eine lange Geschichte. Und es ist eine
europäische Perspektive notwendig, um die Blickverengung auf die
jeweilige Landesjurisprudenz und die Verabsolutierung ihrer Eigenheiten
genauso zu vermeiden wie die Mythologisierung eines angeblich früher
einheitlichen ius commune. Dann aber tritt der Wissenstransfer als jenes
Mittel in den Vordergrund, das die partikularen Rechtskulturen verband.
Damit erfolgt ein Anschluß an andere rechtshistorisch ausgerichtete
Transferforschungen, die in den letzten Jahren zum Beispiel von Mathias
Reimann, Alfons Bürge und Gerhard Schuck durchgeführt wurden.[1]
Im Hinblick auf Deutschland und Ungarn greift diese Fragestellung ein
Projekt auf, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts
für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt/M. und der Universität
Debrecen teilnehmen. Das Projekt, das vom DAAD und dessen ungarischer
Partnerorganisation gefördert wird, begann am 22.-25. März
2002 mit einem Kolloquium in Frankfurt/M., wo erste Ergebnisse zusammengetragen
werden konnten.
I. Theoretische Grundlagen einer Analyse des Wissenstransfers
Vorab war zu klären, ob dem Projekt ein Modernisierungs-/Rückständigkeitsparadigma
zugrundeliegen konnte, wie TOMASZ GIARO (Frankfurt) vorschlug und mit
Beispielen zur "Konservierung von Rechtsfossilien" und zu
"inkompletten Gesellschaften" illustrierte. Die damit verbundene
Dichotomie und auch die normative Aufgeladenheit dieses Ansatzes verstellt
jedoch eher den Blick auf Mittel und Wege des Wissenstransfers, wie
MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt) und BÉLA SZABÓ (Debrecen)
übereinstimmend betonten. Weder eine Kulturträgertheorie noch
die Konstatierung von "Mangelsituationen" (Giaro) schienen
den meisten Tagungsteilnehmern geeignet, die Interdependenz von Eigenständigkeit
und Adaption adäquat zu erfassen.
HOLGER FISCHER (Hamburg) konnte mit seinem Vortrag zudem die dem Rückständigkeitsansatz
inhärente Fixierung allein auf den juristischen Wissenstransfer
auflösen: Ausgehend von einem Zentrum/Peripherie-Modell belegte
Fischer in seinem Überblick zu den deutsch-ungarischen (Natur-)
Wissenschaftsbeziehungen, welche allgemeinen Analysekriterien den Wissenstransfer
in historischer Perspektive erschließen können. Vor dem Hintergrund
dieser Überlegungen, die auf mehreren von Fischer durchgeführten
Projekten zum naturwissenschaftlichen Wissenstransfer beruhen, ließen
sich einige Eigenheiten des juristischen Wissenstransfers relativieren.
Beispielsweise zeigte sich, daß die überwiegende Einseitigkeit
des juristischen Wissenstransfers von Deutschland nach Ungarn eben nicht
mit allgemeiner "Rückständigkeit" der ungarischen
Seite erklärt werden kann, denn Fischer konnte beeindruckende Beispiele
aus den Naturwissenschaften für den Wissenstransfer in die umgekehrte
Richtung präsentieren.
Und auch der Rückgriff auf den Modernisierungsbegriff der historischen
Sozialwissenschaft, den ROLF-ULRICH KUNZE (Karlsruhe) gegen neuere Thesen
der Kulturwissenschaft verteidigte, kann aus der Perspektive des Wissenstransfers
wegen der engen Verwobenheit jenes Modernisierungsbegriffs mit der deutschen
(Sonder-?) Situtation nur begrenzt erfolgen. Als Zugriffsansatz dienten
bei der Tagung daher stärker projektbezogene Kategorisierungen,
indem zum Beispiel von KATALIN FÜZÉR (Philadelphia/Pécs)
die Unterscheidung zwischen Rechts- und Wissenstransfer empfohlen wurde
und HEINZ MOHNHAUPT (Frankfurt) auf die dem Transferbegriff anhaftende
Einseitigkeit des Wissenstransports hinwies und den Wechsel zur "Wissenskommunikation"
vorschlug. Dies bot ein Fundament, um die Einzelbeiträge zu diskutieren.
II. Einzelprojekte von der Frühen Neuzeit bis zum Vormärz
In der neueren ungarischen Literatur wird nicht selten für die
frühe Neuzeit eine Sonderentwicklung Ungarns konstatiert, das nur
wenig an das europäische ius commune angeschlossen gewesen sei.
Doch diese These vernachlässigt, wie BÉLA SZABÓ (Debrecen)
ausführte, den Wissenstransfer durch jene insgesamt mindestens
800 ungarischen Studenten, die in dieser Zeit an deutschen Universitäten
studierten. Das waren zum Beispiel im 18. Jahrhundert immerhin rund
10 % der ungarischen Jurastudenten, die ihr im Ausland erworbenes Wissen
notwendigerweise in die ungarische Rechtspraxis und -wissenschaft einbrachten.
SZABÓ konnte dann im einzelnen zeigen, wie unter anderem die
"Verwissenschaftlichung" der ungarischen Rechtsliteratur im
16./17. Jahrhundert eine direkte Folge des Wissenstransfers war, zumal
die ungarischen Studenten regelmäßig an den zeitgenössisch
"führenden" Universitäten studierten und eine große
Menge an deutscher Literatur von ihrer peregrinatio mitbrachten. Der
Wissenstransfer führte also zu einer Verflechtung, deren Ausmaß
bislang weitgehend zu gering eingeschätzt wird.
Diese These ließ sich für das 19. Jahrhundert noch genauer
belegen. Als Mittel des Wissenstransfers dienten in dieser Zeit vor
allem Briefe, wie LARS HENDRIK RIEMER (Frankfurt) anhand der Korrespondenz
des Heidelberger Straf- und Privatrechtlers K.J.A. Mittermaier zeigen
konnte. Dessen Briefkorpus, nach Umfang und Vielfalt einzigartig innerhalb
der rechtswissenschaftlichen Korrespondenz im 19. Jahrhundert, umfaßt
auch etliche ungarische Briefautoren, wobei Mittermaier im Vormärz
vor allem in die Kodifikation des ungarischen Strafrechts eingebunden
war. Die liberalen ungarischen Kodifikatoren konnten ihre Position durch
Mittermaiers Stellungnahmen wesentlich stärken, und das Ergebnis
des Wissenstransfers hätte fast unmittelbar Gesetzesform erlangt,
wenn nicht das Kodifikationsvorhaben in seiner Gesamtheit gescheitert
wäre. Gleichzeitig präsentierte Mittermaier in seinen rechtsvergleichenden
Studien den ungarischen Entwurf als Beispiel für den rechtlichen
Standard der "zivilisierten Völker" - ein Beleg dafür,
daß Wissenstransfer nicht als "Einbahnstraße",
sondern in dem wie erwähnt von Heinz Mohnhaupt präferierten
Sinne einer Wissenskommunikation zu verstehen ist.
Weitere Mittel des Wissenstransfers waren im Vormärz Fachzeitschriften
und Reisen. KRISZTIÁN TÓTH (Budapest) zeigte, wie beides
vor allem der Rechtsvergleichung diente, die von ihren liberalen Protagonisten
offensiv als Mittel der "Modernisierung" des ungarischen Rechts
vorgeschlagen wurde. Tóth belegte aber zugleich die Wirkungsgrenzen
jener liaisonmen, wie sie von KATALIN GÖNCZI (Frankfurt/Budapest)
bezeichnet wurden. Da die liaisonmen "fremde" Rechtsquellen
in eine dazu nicht passende soziale Wirklichkeit importierten, beschränkte
ein Mangel an Interesse an ihrer kurzlebigen Zeitschrift den Wissenstransfer
im wesentlichen auf die liaisonmen und ihr unmittelbares Umfeld in Pest-Buda.
Nicht zufällig sollte nationalistisch motivierte Kritik ("Phantasten",
"das Ausland nachäffende Doktrinäre") die Befürworter
des Wissenstransfers stigmatisieren. Und - aus deutscher Sicht besonders
bemerkenswert - die einzige ungarische Universität in Pest fiel
schon wegen der Lenkung durch die konservative Regierung als Teilnehmer
am Wissenstransfer aus, der daher auch noch im Vormärz stark von
universitätsfernen Politikern beherrscht war.
III. Einzelprojekte zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Besonders für das spätere 19. Jahrhundert ließ sich
dann eine Unterscheidung fruchtbar machen, die Katalin Gönczi einbrachte:
Die vom Wissenstransfer ausgelösten Rezeptionen verliefen in Ungarn
teils simultan, teils retrospektiv, denn die Ziele "Modernisierung"
und "Selbstbehauptung Ungarns gegenüber Österreich"
widersprachen sich in bestimmten Perioden. Deshalb konnte zum Beispiel
JUDIT BALOGH (Debrecen) eine zeitlich verschobene und inhaltlich sehr
flexible Rezeption der Thesen des Berliner Juristen F. C. v. Savigny
zeigen. Victor Mataja, ein ökonomisch-soziologisch orientierter
Kritiker des deutschen Schadensersatzrechts, erreichte hingegen zeitlich
unmittelbar und auch ohne inhaltliche Verfremdung eine umfassende Aufmerksamkeit
in der ungarischen Rechtswissenschaft, wie VIKTOR WINKLER (Frankfurt)
nachwies. Voraussetzung war aber das nach dem Ausgleich von 1867 entspanntere
Verhältnis zu Österreich, so daß dank des in Wien tätigen
Mataja nahezu erstmals der Wissenstransfer nach Ungarn nicht mehr an
Wien vorbeilief. Auch ansonsten bestanden übrigens mehr Sympathien
für die Interessenjurisprudenz als für die Historische Rechtsschule:
Der Budapester Romanist János Zlinszky hat 1992 den Blick auf
Gusztáv Szászy-Schwarz, den "ungarischen Jhering"
gelenkt, während ein "ungarischer Savigny" auch auf der
jetzigen Tagung nicht benannt werden konnte.
Diese Beeinflussung des Wissenstransfers durch Faktoren, die jenseits
einer schlichten "Modernisierung" liegen, zeigte sich auch
bei der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Ungarn gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, als mit großer Selbstverständlichkeit
das österreichische Modell abgelehnt und stattdessen auf das preußische
System zurückgegriffen wurde. Dieser Wissenstransfer von Preußen
nach Ungarn, dem sich THOMAS HENNE (Frankfurt) widmete, ist schon deshalb
bemerkenswert, weil sich andere mittelosteuropäische Staaten wie
Polen explizit gegen die Übernahme des preußischen Typs der
Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden haben. Die Entscheidung Ungarns
für das preußische Modell beruhte aber nicht nur auf einem
Abgrenzungswunsch Ungarns zu Österreich, sondern vor allem auf
strukturellen Vorzügen, die die preußischen Institutionen
aus ungarischer Sicht besaßen.
Ob der Wissenstransfer auch das ungarische Staatsangehörigkeitsrecht
beeinflußte, mußte hingegen im Vortrag von NORBERT VARGA
(Debrecen) noch weitgehend offenbleiben, und auch die Beeinflussung
des ungarischen Romanisten Géza Kiss durch einen Studienaufenthalt
an der Universität Bonn lieferte bei SÁNDOR MADAI (Debrecen)
vorläufig eher eine Forschungsfrage. Katalin Gönczi konnte
daran anschließend zusammenfassend für das 19. Jahrhundert
eine Periodisierung des Wissenstransfers in Form eines virtuellen Tryptichons
präsentieren: Auf den enthusiastischen Vormärz folgten das
"Wintermezzo" des Neoabsolutismus und die Belle Époque
des Dualismus, als unter anderem viele Institutionen wie Juristenvereinigungen
und die Ungarische Akademie der Wissenschaften in den Wissenstransfer
eingebunden waren.
Bei KATALIN FÜZÉR (Philadelphia/Pécs) zeigte sich
abschließend noch einmal, wie wirkungsmächtig ein Studium
im Ausland auch noch im frühen 20. Jahrhundert war: István
Csekey hatte unter anderem in Straßburg und bei Fritz Fleiner
in Heidelberg studiert, bevor er in der Zwischenkriegszeit zu einem
der wichtigsten ungarischen Staats- und Verwaltungsrechtler wurde. Es
ist nicht nur eine in Pécs aufgefundene Vorlesungsmitschrift
Csekeys von Fleiners Vorlesung, die zur Vermutung für diesen Weg
des Wissenstranfers Anlaß gibt, sondern auch Csekeys umfangreiche
Schriften sind jedenfalls bei einer ersten Analyse von deutschem Rechtsstaatsdenken
geprägt. ROGER MÜLLER (Zürich), z.Zt. Doktorand über
Fleiners Leben und Werk, konnte in der Diskussion die Vermutung für
diese europäische Wirkung von Fleiner untermauern, so daß
für die weiteren Analysen zu diesem Einzelprojekt eine inhaltlich
und personell tragfähige Grundlage besteht.
IV. Ausblick
Die auf der Tagung vorgestellten einzelnen Teilprojekte sollen in den
nächsten Monaten mit Archiv- und Literaturstudien noch weiter vorangetrieben
werden. Die Weiterbewilligung der Projektgelder durch den DAAD und seine
ungarische Partnerorganisaton MÖB vorausgesetzt, werden die Abschlußergebnisse
zum "Juristischen Wissenstransfer zwischen Deutschland und Ungarn"
im September 2003 auf einer Abschlußtagung in Debrecen diskutiert
und anschließend publiziert.
[1] MATHIAS REIMANN, Historische Schule und Common Law, Berlin 1993;
ALFONS BÜRGE, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert,
Frankfurt/M. 1991 und DERS., Ausstrahlungen der historischen Rechtsschule
in Frankreich, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1997,
S. 643-653; GERHARD SCHUCK, Rechtstransfer als Erfolgsgeschichte ? Zur
Zivilrechtskodifikation in Japan in der Meiji-Zeit, in: Heinz Duchhardt
u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd. 2 (2001),
131-146.
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