Bernd Rüthers,
Geschönte Geschichten - geschonte Biographien:
Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen.

Ein Essay, Tübingen: Mohr Siebeck 2001; 168 S.; 24.- Euro.


Rezensiert von: Albrecht Cordes

 
Gibt es ein Grundmuster, dem Autorengenerationen kollektiv folgen, wenn sie nach politischen Umstürzen die eigene Vergangenheit schönschreiben? Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet genug "Wenden", um diese These zu untersuchen; Bernd Rüthers interessiert sich vor allem für zwei von ihnen. Seine These lautet, sowohl nach 1945 als auch nach 1989 hätten juristische und andere intellektuelle "Sozialisationskohorten" - einem Synonym der Soziologen für Seilschaften, das klingt, als hätten es die Soziologen eigens für Rüthers' polemische Zwecke erfunden - Geschichten geschönt, um ihre Biographien zu schonen.

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Die Stilform der Kollektivbiographie nimmt dem Angriff etwas von seiner Schärfe. Jedem Betroffenen steht der Ausweg offen, sich nicht gemeint zu fühlen und für sich zu beanspruchen, bei ihm sei alles anders gewesen. Es ist ohne Frage legitim, die Gemeinsamkeiten der Vergangenheitsbewältigung verschiedener Generationen zu erörtern. Trotzdem wird bei der Lektüre von Rüthers' Essay deutlich, wie wenig dieser Ansatz die biographische Beschäftigung mit dem Individuum ersetzt.

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Die Ziele von Rüthers Angriff sind die beiden Sammelbände "Rechtsordnung der DDR - Anspruch und Wirklichkeit" (1995) und "Deutsche Vergangenheiten - Eine gemeinsame Herausforderung" (1999), die er als verharmlosende Beschönigung beurteilt. Mit ihrer gehörigen Portion DDR-Nostalgie bis hin zur Verklärung der Mangelwirtschaft zu einem Propädeutikum für den schonenden Umgang mit Ressourcen sind sie freilich leichte Beute, die er zudem an dieser Stelle nicht zum ersten Mal zur Strecke bringt. Im Rahmen des ständig präsenten Systemvergleichs zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der DDR wird auch der Historikerstreit um Ernst Noltes Vergleich der totalitären Massenmorde unter Stalin und Hitler wieder einmal aufgerollt, ebenso der treffend beobachtete schonende Umgang, den Noltes Kritiker einige Jahre später ihren eigenen Lehrern zuteil werden ließen, als endlich auch deren NS-Vergangenheit thematisiert wurde. Breiten Raum nimmt natürlich wieder die Auseinandersetzung mit der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus ein, die Rüthers sein ganzes wissenschaftliches Leben lang begleitet hat und über die er kenntnisreich und schonungslos berichtet wie kaum ein anderer. Das ein oder andere Beispiel wird dem Leser freilich inzwischen bekannt vorkommen.

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In dem Gegenstand des Essays spiegelt sich ein wichtiger Teil von Rüthers' eigener Biographie wider. Die objektive Perspektive, die er meistens einnimmt, ist eher eine Stilform; es ist geradezu ein Verfremdungseffekt, dass Rüthers' eigener Name nicht im Personenregister erscheint. Denn den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen die versteckten Passagen, in denen Persönliches preisgegeben wird. Dazu gehört die Andeutung über das Risiko, in den 60er Jahren unter Nennung von
Ross und Reiter eine Habilitationsschrift über die zivilrechtliche Methodenkontinuität von 1923 in die NS-Zeit hinein einzureichen (S. 154). Wieviel Zivilcourage in Rüthers' Buch über "Die unbegrenzte Auslegung" von 1968 steckte, kann man sich heute nur noch schwer vorstellen. Ohne Frage schöpft er daraus den moralischen Anspruch, mit gleicher Entschlossenheit der von ihm wahrgenommenen Verharmlosung der DDR entgegenzutreten. Dazu gehört aber auch der Bericht über ein langes Gespräch mit dem gealterten Karl Larenz im Jahre 1980, der Rüthers bis dahin wegen der "Unbegrenzten Auslegung" gemieden hatte. Aus seinem Gedächtnisprotokoll zitiert Rüthers Larenz' grübelnde Frage: "War ich ein Nazi? - War ich überzeugt von den 'fürchterlichen Sachen', die ich nach 1934 geschrieben habe? - Ich weiß es selbst nicht. Ich hätte ab 1934 schweigen sollen, das wäre klüger gewesen. Aber ich wollte aktiv sein." (S. 120 f.). Ein größeres Maß an Selbstkritik haben nur wenige einem Mitglied der Kieler "Stoßtrupp-Fakultät" entlocken können.

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Rüthers' Essay ist reich an Anregungen, treffenden Beobachtungen und Zitaten, zudem vergnüglich zu lesen - und trotzdem sozusagen auf hohem Niveau misslungen. Denn seine zentrale These vom gleichen Verhalten der ehemals braunen bzw. roten Sozialisationskohorten überzeugt nicht. Das Umfeld, in dem sie sich bewähren mussten, war zu verschieden. Es ist kein Wunder, dass das überzeugendste Beispiel eines Wendehalses nach 1945, das Rüthers zu bieten hat, nur erdacht ist. In einem "Muster für 'die elastische Adaption von diskontinuierlichen Lebensläufen'" formulierte der Volksschullehrer und Kultusbeamte Dr. Haase 1955 die jeweils politisch korrekten Lebensläufe eines fiktiven Glasers des Jahrgangs 1888, der 1912 mit Vorliebe Kaiserbilder einrahmt, 1919 solche von Karl Marx, 1934 natürlich Hitlerbilder und 1946 die des Feldmarschalls Montgomery. 1955 schließlich heißt es: "Das Einrahmen von Porträts bestimmter Persönlichkeiten lehne ich ab. Ich fertige nur noch Wechselrahmen an." (S. 159-161).

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In der realen Welt liegen die Dinge komplizierter. Wer hätte 1947 wem etwas vorlügen sollen? Praktisch das ganze Volk hatte Hitler zugejubelt und - aus Überzeugung oder Angst - bis zuletzt die Treue gehalten. Praktisch das ganze Volk gehörte nun zu den Besiegten. Der Geschichtslehrer, der drei Jahre zuvor den Quartanern beigebracht hatte, dass Cäsar ein Arier war, sah zu, dass er seinen inzwischen die Untersekunda versetzten Schülern nun lieber Karl den Großen als ersten Europäer präsentierte - und dass er seinen Persilschein bekam. Seine Schüler, seine Kollegen wussten ohnehin, wes Geistes Kind er gewesen war. Die Städte waren zerstört, sein Beamtenstatus jedoch unversehrt. Warum hätte er sich exponieren sollen? Es genügte, zu schweigen.

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Auch die Leipziger Schüler des Jahres 1991 kannten die Lehrer noch, von denen sie 1988 erfahren hatten, was für ein typischer Repräsentant der antiken Sklavenhaltergesellschaft Cäsar war. Die "Wessies" in den Abwicklungskommissionen, die dieses Mal für Persilscheine zuständig waren, kannten den real existierenden Sozialismus hingegen nicht aus eigener alltäglicher Anschauung; sie konnten bezirzt, umgarnt oder belogen werden. Genauer gesagt mussten sie es sogar, denn anders als 1945 gab es personelle Alternativen. Eine andere Kohorte, eine junge Generation Westdeutscher mit Pioniergeist oder anderen Motiven dafür, ihr Glück im wilden Osten zu versuchen, stand bereit, um in die Positionen "abgewickelter" Juristen einzurücken. Doch es ging nicht nur um individuelle ökonomische Vernunft. Das Volk der DDR hatte soeben einen historischen Sieg errungen: Die erste erfolgreiche, dazu noch friedliche deutsche Revolution! Anders als nach 1945 gab es keinen Grund, kleinlaut den Mund zu halten. Das Gebot der Stunde war genau das entgegengesetzte: man musste reden, aufklären, sich verteidigen und beweisen, dass man schon früh an den Montagsdemonstrationen teilgenommen hatte. Was adelte nun mehr als eine dicke Stasi-Akte? Das ist, wenn man schon polemische Vergleiche ziehen will, eine Situation, die weniger der von 1945 als vielmehr jener von 1933 ähnelte, als die Mitgliederzahl des NS-Rechtswahrerbundes von 1374 im Januar auf 30.000 im Oktober anstieg (S. 45) und als die "Märzgefallenen" zu Hunderttausenden anstanden, um Parteiausweise der NSDAP mit möglichst niedrigen Mitgliedsnummern zu ergattern.

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Doch da in Deutschland bekanntlich Reden Silber ist, Schweigen hingegen Gold, waren die Sozialisationskohorten von 1945 ökonomisch und politisch erfolgreicher als die von 1989. Rüthers' Hauptgegner, seine eigenen Altersgenossen aus dem Osten der Republik, sind weitgehend marginalisiert. Die PDS ist ein neues Phänomen, das nur noch zum Teil etwas mit den alternden DDR-Nostalgikern zu tun hat.

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Schließlich noch, als polemischer Ergänzungsvorschlag zur zweiten Auflage, der Hinweis auf eine bei Rüthers nicht erwähnte "Wende": Vielleicht fügt er dann ein paar Worte an, wie seine eigene Sozialisationskohorte mit ihrer Vergangenheit umgeht - die westdeutsche Generation der heute Siebzigjährigen mit Kindheitserinnerungen aus den Kriegstagen, denen die "Gnade der späten Geburt" zuteil wurde, nie in ihrem Leben ein Gewehr in die Hand nehmen zu müssen, die sich in Adenauers Bonner Republik als "skeptische Generation" stilisierte, die mit den Revoluzzern von 68 nichts anfangen konnte, deren Mitglied Helmut Kohl vor 20 Jahren antrat, um eine konservative "geistig-moralische Wende" herbeizuführen, und die jene Berliner Republik hinterlassen hat, in der wir heute - bequem wie keine Generation des 20. Jahrhunderts - leben.

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Rüthers schließt, Odo Marquard zitierend, mit einer weiteren persönlichen Bemerkung. Da mit dem Alter die eigene Zukunft gegen Null abnehme, heißt es am Schluss, schrumpfe auch der Konformitätsdruck. Nun könne man "ungehemmt sehen und sagen: So ist es." Ob es nun so war oder nicht - der Historiker ist skeptisch gegenüber dem Versuch, dies zuverlässig zu beurteilen. Bernd Rüthers ist aber jedenfalls eine Lebensspanne zu wünschen, die seinen Gegnern genug Zeit lässt, ihm zu antworten und im Gegenzug ihre Wahrheit zu verkünden. Dass Rüthers daraufhin von seinem dem Lesevergnügen zuträglichen Prinzip "viel Feind, viel Ehr" abrücken könnte, steht nicht zu befürchten. 10

 

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Diese Seite ist vom 5. April, 2003