Methode als Kapital-Verbrechen

Uwe Wesels neues Buch und die materialistische Methode der Rechtsgeschichte


Rezensiert von: Matthias Maetschke

 

I. " 'Herr Wesel, Sie dürfen nicht nach Berlin gehen. Dort müssen Sie sich politisch entscheiden. Und Sie werden sich falsch entscheiden.'" Der gute Rat eines Freundes blieb ungehört. Frisch habilitiert in den Fächern Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht folgte Uwe Wesel 1968 seinem ersten Ruf an die Freie Universität Berlin. Er verließ das noch schlafende München und fand sich unversehens im brodelnden Hexenkessel der 68er Revolution wieder. Das Zitat spiegelt in nuce auch Wesels eigene Wertung über sein linkes Engagement in den kommenden Jahren. Dies lässt sich seinem neuen mit vielen biographischen Einsprengseln versehenen Buch über "Die verspielte Revolution" entnehmen.1 Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück.

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Ein Teil des Schrittes nach vorn bleibt in Wesels Bericht aus konzeptionellen Gründen unerwähnt, verdient aber durchaus der Beachtung. Am 1. Oktober 1974 hielt er auf dem 20. Rechtshistorikertag in Tübingen einen Vortrag "Zur Methode der Rechtsgeschichte".2 Zu Beginn des Vortrags nichts Neues. Die Rechtsgeschichte habe sich von der Erklärung des gegenwärtigen Rechts, also der Rechtsdogmatik, gelöst, also sich historisiert. Kehrseite der Medaille sei, dass das gegenwärtige Recht dadurch enthistorisiert wurde. Dann der Paukenschlag - natürlich ein wissenschaftlich-sachlicher Paukenschlag: "Die Enthistorisierung hat aber noch eine andere, eine ideologische Funktion. Sie dient der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo. Nachdem das Bürgertum seine ökonomische Herrschaft weitgehend durchgesetzt hatte, kompensierte es seit der Mitte des letzten Jahrhunderts seinen Verzicht auf die politische Macht mit der Darstellung der Geschichte. ... Jede Weiterentwicklung wäre eine Bedrohung der bürgerlichen Wirtschaftsform gewesen, eine Bedrohung des endlich allgemein anerkannten freien bürgerlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und des freien Arbeitsvertrages. Also waren die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion im Selbstverständnis der Bürger unabänderlich geworden, bestimmt durch Naturgesetze, unabhängig vom Einfluss der Zeit."3

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Sehr indirekt formuliert, doch die Tendenz ist klar: die Rechtsgeschichte unterstützt mit "apokryphen Legitimationsmustern", wie eine zeitgenössische Kölner Arbeitsgruppe dies formuliert hatte4, die bürgerliche Herrschaft über die Arbeiterklasse, die in der Rechtsordnung ihren Ausdruck findet. Mit diesem Vortrag wird Wesel, als Professor eigentlich Repräsentant der bürgerlichen Ordinarienuniversität, Sprachrohr einer materialistischen, d.h. hier marxistisch-inspirierten, Rechtsgeschichte. Für seine damaligen rechtshistorischen Kollegen musste dies wie ein offenes Fraternisieren mit dem Feind, den linken Studenten, erscheinen. Nicht umsonst war die wissenschaftliche Plattform der materialistischen Methode eine von Studenten gegründete Zeitschrift: die Kritische Justiz.5 Über diese findet Wesel übrigens noch heute lobende Worte: "Sie existiert noch heute auf hohem Niveau am Rande der großen Karawane."6

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Ähnlich exponiert hat sich nur ein weiterer junger Ordinarius in einem sehr lesenswerten persönlichen Bericht, der 1974 in der Zeitschrift der sozialdemokratischen Juristen erschien: Hans Erich Troje aus Frankfurt.7 Troje und Wesel, Frankfurt und Berlin - die Achse der 68er Revolution. Beide waren "Antikrechtler".8 Die Antikrechtler als methodische Avantgarde der Rechtsgeschichte? Ja und Nein. Doch erlaubt diese Episode einen Blick auf das Wesen von Methodendebatten und einen kurzen Blick darüber hinaus, auf das, was man davon lernen kann, wenn man mag.

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II. Methode und Methodenkritik schließt heute wie damals verschiedene Deutungsebenen ein. Prominenz hat für den Rechtshistoriker seit längerem die Frage der Standortbestimmung zwischen Rechtsdogmatik und allgemeiner Geschichtswissenschaft, umständlich formuliert zwischen applikativer und historisierter Rechtsgeschichte.9 Die Diskussion um den "richtigen" Blick auf Vergangenes tritt dagegen zunehmend in den Hintergrund.

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Auch die materialistische Methode hatte hier einiges zu bieten. Die Materialisten wendeten sich vehement gegen die überkommene Ideengeschichte in der Nachfolge von Wieacker und Mitteis.10 Sie selbst mussten sich hingegen die Frage gefallen lassen, ob eine materialistische Rechtsgeschichte überhaupt möglich sei, wo doch nach Marx alles was gedacht wird durch die Wirtschaft, die Produktionsverhältnisse, determiniert ist.11

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Aber das soll nicht vertieft werden, geht es doch im Kern der Methodendiskussion um etwas anderes. Auf den richtigen Weg führt Hans Erich Troje: "Rechtshistoriker alter Schule haben ihre wissenschaftliche Qualifikation und damit ihren Begriff, was wissenschaftliche Qualifikation und folglich Wissenschaft überhaupt sei in autoritärer Einübung von Regeln der Quellenbehandlung, in rigider Konditionierung auf eine ganz bestimmte Frageweise und eine bestimmte Weise, Antworten zu suchen, erworben. In ihren Schulen gibt es einen Kanon der Fragen, die gestellt werden dürfen, und einen Kanon der Fragen, die bei Strafe des Schulverweises nicht gestellt werden dürfen. Es gibt eine Art von Quellen, aus denen Antworten erfragt werden dürfen, und eine Art von Quellen, die bei Strafe des Schulverweises nicht zum Sprechen gebracht werden dürfen. Diese Regeln gelten um so fester, je weniger sie expliziert, benannt, beim Namen genannt sind. Deshalb ist Methodendebatte schon auf dieser anspruchsvollen Stufe Kapitalverbrechen."12

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Der Sprachduktus ist sicherlich zeitgemäß. Augenmerk verdient jedoch die Assoziationskette, die Troje aufbaut: Methode wird identifiziert mit Einübung, Autorität, Strafe, Schule. Damit wird klar, für Troje geht es bei Methodendebatten im Kern um das Lehrer-Schüler-Verhältnis geht. Methodenwahl ist für den einzelnen Autor ein Mittel kritischer Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen, jedoch mit der Tendenz zur Autonomie, zur Emanzipation. Große Methodendebatten, Methodenwechsel werden damit zu aller erst nicht Erkenntnisfortschritt, sondern Ausdruck eines Generationenkonflikts. Das Wort vom "Kapitalverbrechen" verweist auf den vulgärpsychologischen Sachverhalt des "Vatermordes".

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Heute ist die Notwendigkeit des "Vatermordes" entfallen. Methode ist pluralistisch, demokratisch geworden.13 Dies auch ein Verdienst von Wesel, Troje und den 68ern. Rechtshistorische Methodendiskussion heute ist Rechtfertigung des "Lebenswertes"14 der Rechtsgeschichte15, wofür allerdings die materialistische Methode nichts kann. Damals war das anders. Die festgefügten Strukturen in der Rechtsgeschichte, die besonders undurchlässig im römischen Recht erschienen, forderten eine Erneuerungsbewegung geradezu heraus. Und Aufbruchsstimmung lag damals in der Luft. Aber wie führte der Weg von hier zur materialistischen Methode der Rechtsgeschichte?

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Wesel und Troje waren Römischrechtler. Das römische Recht war damals geprägt durch die "Doppelherrschaft der letzten Dynasten Kaser und Kunkel".16 Zwei Schulen und Schule bedeutete noch Schule wie der Bericht von Troje zeigt. Max Kaser, zunächst Münster dann Hamburg, und Wolfgang Kunkel, München, beherrschten Wissenschaft und Lehrstuhlbesetzung. Kunkel war geschickter und besetzte nachher die Lehrstühle nahezu im Alleingang. Auch Wesel wurde von Kunkel vermittelt. Wesel: "Einer seiner Berliner Kollegen hatte ihn Ende 1967 angerufen und gefragt, ob er einen jungen Rechtshistoriker kenne, den sie auf einen freigewordenen Lehrstuhl berufen könnten, wie man das in der alten Ordinarienuniversität noch zutreffend nannte. Wolfgang Kunkel wurde oft angerufen. Und konnte immer einen benennen. Nämlich immer den jeweils Dienstältesten seiner Assistenten, von denen etwa jedes Jahr einer habilitiert wurde. Auf diese Weise hat er damals die meisten deutschen Universitäten der Bundesrepublik mit Professoren des Römischen und Bürgerlichen Rechts beliefert. 1968 war ich an der Reihe ...".17

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Der andere Blickwinkel von Troje beleuchtet dies auf interessante Weise: "Auf der Höhe ihrer Macht hatte die Kunkelschule bisweilen mehr leere Lehrstühle zu besetzen, als 'fertige' Dozenten vorzuweisen. So konnten auch Leute, die noch nicht 'fertig' waren, durchschlüpfen. Auch dieses Faktum hat, neben vielen notorisch schlimmen Seiten, zumindest eine gute Seite. Gerade weil die Karriere eines Kunkelschülers relativ leicht, rasch und sicher gelang, gerade weil einigen Kunkelschülern die jahrelange, zermürbende, ungewisse Prüfungs-, Warte- und Durchhaltezeit erspart blieb, hat die Kunkelschule den einen oder anderen prominenten G e g n e r der Ordinarienherrschaft hervorgebracht. Es ist paradox und folgerichtig in eins: Uwe Wesel, der Berliner Vizepräsident, ist einer der prominentesten Kunkelschüler geworden."18

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Wesel war nicht fertig, keine Warte- und Durchhaltezeit, hatte ein leichtes Leben gehabt in München. Fertig - d.h. er war nicht vollständig sozialisiert zum ordentlichen Professor. Das erklärt, warum Wesel keinen Anschluss fand bei den anderen Juristen in Berlin. Die Einladungen der Kollegen freitags abends zum Essen? "Das war noch schlimmer als die Vorlesung morgens um neun. Dunkle Anzüge, weiß gedeckte Tische mit Kerzenleuchtern, mehrere Damen und Herren, sehr professoral, ernste Gespräche. Das war nicht die Welt für einen, der zehn Jahre in München-Schwabing gelebt hatte ...".19

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Auch Troje blieb Außenseiter. Ihn, den Intellektuellen ärgerte freilich etwas anderes, nämlich die Ignoranz und Elfenbeinturmmentalität der Kollegen, insbesondere am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte, wo er vor seiner Professur gearbeitet hatte.20 Bei beiden resultierte die Außenseiterstellung in einer Hinwendung zu den Studenten. Wesel zog in eine WG mit Studenten, ging mit ihnen in die Eckkneipe, fand Anschluss. Nicht das Unwichtigste vielleicht für Lebemann Wesel: "... links war wirklich schick damals, und auch die schönen jungen Frauen waren da ... Richtig deutlich wurde der Niedergang der APO erst, als sie verschwanden, diese Schönen, und nicht mehr zu sehen waren in der linken Szene ...".21 Das war der Anfang, der Rest folgte fast von selbst. Der Kontakt zu den anderen linksorientierten Professoren, das Amt als Vizepräsident der FU Berlin, über das Wesel eine Vermittlerposition zu den Studenten ausfüllte, die Konflikte gegen den Rest der verknöcherten, überhart gegen die Studenten agitierenden Kollegenschaft. Und dann immer wieder die Faszination über die engagierten, kritisch - und das hieß marxistisch - denkenden Studenten.22 Dieses von messianischer Überzeugung getragene Engagement wirkte anstekcned. Seine eigene Infizierung beschreibt Troje: "Denn auf der anderen Seite stehen in viel größerer Zahl die Repräsentanten dieser beunruhigenden Fragen [die Studenten und Schüler, Verf.]. Sie haben keine Lehrstühle, keine Institute ..., müssen jedes Buch selbst bezahlen, jedes Manuskript selbst schreiben. Sie bekommen weder Vorschuss- noch Nachschusslorbeeren für ihre Forschung. Sie erhalten ihre Sitzungen und Tagungen nicht bezahlt. ... Sie sind zwar viele, aber doch allein gelassen, sie brauchen Anleitung in einem so verwirrend komplizierten und auch für sie schwierigen und neuen Arbeitsfeld, und sie finden sie nicht."23

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vAm Ende also das Zusammengehen mit den Studenten; die materialistische Methode der Rechtsgeschichte. "Vatermord"? Generationenkonflikt? Ja und Nein. Aber weitaus mehr Ja als Nein.

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Ja: Wesel und Troje stellten nicht mehr die Fragen ihrer Lehrer, sie stellten die Fragen der Studenten, damals die Fragen "nach den historischen Erscheinungsformen der Unterdrückung als U n t e r d r ü c k u n g."24 Wesel war nicht mehr Teil der Kunkelschule, hatte die "Restriktion des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs auf einen eng begrenzten Bereich spätrömischer Juristentexte und deren ständig wiederholter Exegese"25 überwunden. Hierhin sollte er auch nie wieder zurückkehren. Symptomatisch auch die notwendige Selbststilisierung als Märtyrer, dem die große universitäre Karriere ausgewiesen durch die Rufe an verschiedene Universitäten, verwehrt bleiben würde.26 Dazu die heftigen Angriffe gegen Franz Wieacker, der zum "Übervater" der Rechtsgeschichte erhoben, symbolisch eliminiert wird27 - wenn eine solche Ausweitung der Metapher noch erlaubt ist.

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Nein: Damalige Professoren konnten eben nicht Teil der Studentenschaft werden. Wesel und Troje saßen zwischen beiden Stühlen. Sie konnten nur Sprachrohr, Wegweiser für die "Jungen Wilden" sein. Es musste ein andauernd zu erprobendes Bündnis bleiben. Wesel jedenfalls hat sich von der materialistischen Methode schnell abgewandt. Schon seiner nächsten bedeutenderen wissenschaftlichen Arbeit stellte er eine lange Auseinandersetzung mit dem Rechtsbegriff voran. Von einer materialistischen Deutung keine Spur.28 Wie er heute über seinen Sprung nach links denkt, wurde zu Beginn bereits angedeutet.

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Dennoch - dass sich die materialistische Methode nicht durchsetzte, ja nicht einmal in der rechtshistorischen Forschung verankerte, ist weniger Problem als Programm gewesen. Das Ziel war nur die Öffnung, die Demokratisierung des Wissenschaftsbetriebs Rechtsgeschichte. So hatte bereits die Arbeitsgruppe 1973 formuliert: "... das oben skizzierte Elend der Rechtsgeschichte entspricht immer noch dem herrschenden Selbstverständnis - und ist damit meilenweit von dem (in aller Bescheidenheit) andernorts bereits zum selbstverständlichen Gerede herabgekommenen Topos der 'Einbeziehung' der Sozialwissenschaften entfernt. ... für das hier interessierende Verhältnis von Recht und Geschichte erscheint es ratsam, die Wartefrist durch den hier vorgelegten Diskussionsbeitrag ein wenig unterhaltsamer zu gestalten."29 Revolution, Provokation als Spaß. Aber Ziel wohl erreicht.30

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Rechtsgeschichte und Generationenkonflikt? Die wohl ausdeutbarste Stelle in Wesels neuem Buch beschreibt ein Treffen mit seinem Lehrer: "Zwei Jahr zuvor [1971, Verf.] hatte die Westdeutsche Rektorenkonferenz ihre Jahrestagung in München. Sie fand statt in der Residenz. Dort ist auch die Bibliothek des großen Wörterbuchs der lateinischen Sprache, das immer noch nicht fertig ist, ein Teil noch in Zettelkästen, sodass man dort arbeiten muss, wenn man Wortforschung betreiben will. Mein alter Lehrer Wolfgang Kunkel arbeitete dort oft. Ich hatte ihn seit 1968 nicht mehr gesehen, ging also in der Pause eine Treppe runter, öffnete leise die Tür zur Bibliothek und tatsächlich, da saß ein einziges Männchen im großen Saal hinter einem Stapel Bücher. Er war's. Wir freuten uns beide, gingen zum Essen, im Lokal sieht er mich an mit seinen kleinen gütigen Augen und fragte: 'Was machen Sie da eigentlich in Berlin?' Hatte meinetwegen schon viele Vorwürfe von seinen Kollegen bekommen. Ich erklärte es ihm, etwa eine halbe Stunde. Dann hat er gesagt: 'Sie werden es schon richtig machen.' Die Sünden waren vergeben, denn er war ein Liberaler und liebte seine Schüler. Damit war für ihn die Sache erledigt."31 In jeder Auflehnung ist der tiefe Wunsch nach Anerkennung versteckt.

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Eine letzte Frage bleibt noch zu beantworten. Das materialistische Denken, und das sollte die bisherige Schilderung deutlich gemacht haben, war nichts anderes als der Ausdruck einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Zeitgeistes. Aber warum musste gerade die Methode die Bühne für den Aufstand des Zeitgeistes hergeben? Die materialistische Durchdringung nur des antiken Rechts war nicht genug. Die Materialisten hatten die ganze Rechtsgeschichte im Visier. In einer hochspezialisierten Wissenschaft aber wie der Rechtsgeschichte ist die Methode das letzte gemeinsame Forum zur Verständigung über das, was alle Fachangehörigen und alle Fachunterworfenen, Studenten wie Rezipienten, angeht. Somit war auch damals die Methode der Ort, die Forderungen des Zeitgeistes, die Forderungen der Fachunterworfenen zu verhandeln. Der kämpferische Ton der materialistischen Texte zeugt denn auch von wenig anderem, als von dem Verlangen, denjenigen, die wie Vogel Strauß den Kopf vor dem Zeitgeist in den Sand steckten, einen Klaps auf den exponierten Hintern zu geben. Anerkennung durch Auflehnung.

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III. Was kann man hieraus mitnehmen, wenn man mag? Die materialistische Methode war nicht nur ein "Kapitalverbrechen" im Rahmen des Generationenkonflikts.32 "Kapital-Verbrechen" auch in dem Sinne, dass sie versuchte Ideen gegen Herrschaftsstrukturen im Kapitalismus, im Wirtschaftssystem, auszuspielen. Die Materialisten hatten verstanden, was wohl verstanden werden muss: It's the economy, stupid! Demokratisierung der Universität gegen die Herrschaft der Ordinarien, wie die 68er forderten?33 Das Konzept der "Wirtschaftsdemokratie" gegen die Herrschaft der Kapitalisten lag da schon seit 40 Jahren in der Schublade.34 Die Unternehmensberatung in der Universität ist nur eine neue Spielart.

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In wirtschaftlicher Hinsicht ist aber eine neue Generation gestartet im Zeichen der Globalisierung. Sie hat bereits Auswirkungen gehabt: Psychologisierung der Wirtschaft, IT-Revolution, non-governmental organizations, Neue Mitte, New Economy, Popliteratur gegen die moralinsaure deutsche Nachkriegsbuchproduktion, Komödien gegen Kunstfilme. Auch Berlin stand kurze Zeit wieder im Mittelpunkt als mögliche Kulturhauptstadt. Doch wo war der Uwe Wesel, der die Globalisierungskritik in eine Methode der Rechtsgeschichte umgesetzt hätte?35

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Der Einwand ist einfach: Kein Bedarf. Die Jurastudenten haben noch keine Fragen gestellt. In Seattle und Genua, da haben sie Fragen gestellt. Aber in den Hörsälen von Bonn, Bochum, Berlin, Bremen, wer von denjenigen, die noch da sitzen, hätte je eine solche Frage gestellt?

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Es sei ein unverdächtiger Zeitgenosse zitiert. Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Ökonomie: "Früher interessierten sich nur wenige für Themen wie Strukturanpassungskredite ... und Bananenquoten ... Heute erregen sich schon 16-jährige Heranwachsende über esoterische Abkommen wie GATT ... und NAFTA ... Fast alle erkennen, dass irgendetwas gründlich schiefgelaufen ist. Praktisch über Nacht ist die Globalisierung zur dringlichsten Frage unserer Zeit geworden, die in Vorstandsetagen, Meinungskolumnen und Schulen auf der ganzen Welt heftig diskutiert wird."36

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Sicher, es gibt Völker- und Europarecht. Von GATT und NAFTA wird dort gesprochen. Aber eine Erklärung für die Bedeutung von Recht in der und für die Globalisierung sind all die Europa- und Völkerrechtsvorlesungen schuldig geblieben. Von Rechtsgeschichtsvorlesungen ganz zu schweigen. Wurden die Fragen nur überhört?

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Man wird die Fragen wohl überhören müssen. Die Berlin-Seiten der Zeitungen sind eingestampft, die IT-Blase ist geplatzt, die Arbeitslosigkeit so hoch wie nie, der DAX lotet immer neue Tiefen aus. Wichtig sind jetzt solide Examina, damit man einen Job bekommt. Keine Zeit für Zeitgeist!

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Fußnoten:

1 Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, München 2002. Das Zitat findet sich auf S. 12.

2 In gedruckter Form: Uwe Wesel, Zur Methode der Rechtsgeschichte, in: Kritische Justiz 1974, 337-368.

3 Wesel, Methode (Fn. 2 ), 337, 338.

4 Arbeitsgruppe, Kritik der bürgerlichen Rechtsgeschichte, in: Kritische Justiz 1973, 109-129, 127.

5 Dort erschien bereits 1973 der besagte Artikel der Kölner Arbeitsgruppe als Manifest zu einzelnen Arbeiten von Autoren der Gruppe in derselben Ausgabe, etwa: Thomas Bark, Die Entstehung des BGB im Spiegel der bürgerlichen Rechtsgeschichte, 158-171; Eberhard Stamm, Frühbürgerliche Revolution und Recht in Deutschland, 130-148; Hans Wrobel, Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte: die Thibaut-Savigny-Kontroverse, 149-157. Teilweise sind die Artikel zu Dissertationen geworden, etwa: Thomas Bark, Vertragsfreiheit und Staat im Kapitalismus, Berlin 1978 (Um die zeitgemäße Atmosphäre in der Rechtsgeschichte zu erahnen, ist insbesondere das Geleitwort von Bernhard Diestelkamp interessant.); Hans Wrobel, Die Kontroverse Thibaut-Savigny in Jahre 1814 und ihre Deutung in der Gegenwart, Bremen 1975, der jedoch weniger materialistisch als ideologiekritisch vorgeht.

6 Wesel, Revolution (Fn. 1 ), 57.

7 Hans Erich Troje, Rechtsgeschichte: Was können wir tun?, in: Recht und Politik 1974, 10-17. Troje hatte bereits die Arbeitsgruppe bei der Ausarbeitung ihres Manifestes unterstützt, siehe Arbeitsgruppe (Fn. 4), 109.

8 Den Ausdruck verwendet etwa Joachim Rückert, Zur Erkenntnisproblematik materialistischer Positionen in der rechtshistorischen Methodendiskussion, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1978, 257-292, 257, wohl um den Begriff vom "Römischrechtler" zu vermeiden, der mit der unerwünschten Trennung der Rechtsgeschichte in eine deutsche und eine römische verbunden ist.

9 Einen Kompromiss sucht Peter Landau, Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1980, 117-131, 126 ff.

10 Durchaus als Ironie der Geschichte kann man werten, dass die erste Diskussion um eine materialistische Rechtsgeschichte nach dem Krieg von Heinrich Mitteis eingeleitet wurde: "Das Ziel aber kann kein anderes sein, als zu zeigen, wie das Recht, von den historischen Bedingtheiten seiner Umwelt, der wirtschaftlichen und sozialen Grundstruktur her geprägt wird, wie es aber auch selbst wieder formend und gestaltend auf diesen seinen Unterbau zurückwirkt." Das Zitat findet sich in dem Artikel Heinrich Mitteis, Rechtsgeschichte und Gegenwart, in: Neue Justiz 1947, 27-29, 28. Die Erwiderung des "Marxisten" Karl Polak, Wesen und Wert der Rechtsgeschichte, in: Neue Justiz 1947, 54-58 erschöpft sich jedoch leider in einer allgemeinen Polemik gegen die Rechtswissenschaft. Zu dieser Kontroverse Horst Schröder, Polak versus Mitteis, in: ders., Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichtswissenschaft in Deutschland 1945-1952, Frankfurt/Main 2001, 4-18; zu Polaks Verständnis von Geschichte und Recht Sonja Ginnow, Karl Polak, in: Horst Schröder, Dieter Simon (Hg.), a. a. O., 19-30. Allgemein zu Polak nun Marcus Howe, Karl Polak. Parteijurist unter Ulbricht, Frankfurt/Main 2002; Nils Reichhelm, Die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie Karl Polaks, Frankfurt/Main 2003.

11 Bejahend Peter Landau, Karl Marx und die Rechtsgeschichte, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 1973, 361-371; ablehnend Rückert (Fn. 8). Zu dieser Problematik auch Wolfgang Voegeli, Probleme einer materialistischen Rechtsgeschichte. Bericht zum Rechtshistorikertag an der Universität Bremen 1976, in: Kritische Justiz 1976, 194-199.

12 Troje (Fn. 7), 10, 15.

13 Sehr deutlich Regina Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik (1945-1990), in: Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, Frankfurt/Main 1994, 12-99, 99.

14 Nach der bekannten Schrift Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, Weimar 1947.

15 Vgl. etwa Mathias Schmoeckel, Rechtsgeschichte im 21. Jahrhundert. Ein Diskussionsbeitrag zur Standortbestimmung, in: forum historiae iuris: www.rewi.hu-berlin.de/online/fhi/index_de.htm unter der Rubrik "Debatte".

16 So die Arbeitsgruppe (Fn. 4 ), 109, 117.

17 Wesel, Revolution (Fn. 1 ), 12.

18 Troje (Fn. 7 ), 10, 17 Fn. 2.

19 Wesel, Revolution (Fn. 1), 101; noch deutlicher S. 180: "die verdammten Abendeinladungen zu den Kollegen am Freitag".

20 Siehe die Schilderung bei Troje (Fn. 7), 10, 13 ff.

21 Wesel, Revolution (Fn. 1), 103.

22 Vgl. die Schilderung in Wesel, Revolution (Fn. 1 ), 177 ff., 203 ff., 216 ff.

23 Troje (Fn. 7 ), 10, 16.

24 Ebenda.

25 So die Charakterisierung der Wissenschaft vom Römischen Recht durch die Arbeitsgruppe (Fn. 4), 109, 114.

26 Siehe Wesel, Revolution (Fn. 1), 180; eindeutig bereits Wesel, Methode (Fn. 2), 337, 360.

27 Vgl. nur Wesel, Methode (Fn. 2 ), 337, 340 ff.

28 Vgl. Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1985. Auf S. 48 bezeichnet Wesel seine Methode zwar noch als "gemäßigten historischen Materialismus", genauer trifft er es aber mit der Bezeichnung "evolutionistische Rechtstheorie" (S. 67 f.). Zu sehr auf dieses Buch orientiert Ogorek (Fn. 13), 12, 95 Fn. 264, die Wesels Vorgehen als "historische Rechtsanthropologie" würdigt. Im Wesentlichen ist Wesel seiner Idee der "evolutionistischen Rechtstheorie" treu geblieben, vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2. Aufl., München 2001, 56 ff., insb. 65 ff. Mit dem Konzept der "Evolution" versucht Wesel den Konflikt zwischen der Dynamik der Geschichte und der Statik des Rechts aufzuheben. Diesen Konflikt treffend erkannt hat Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, Heidelberg 1999, § 11 Fn. 88 (S. 86). Die Abwendung von der materialistischen Rechtsgeschichte kommentiert auch in einer Rezension von Wesels "Geschichte des Rechts" Joachim Rückert, in: Kritische Justiz 1999, 638-643, 638.

29 Arbeitsgruppe (Fn. 4), 109, 113 Fn. 21.

30 Vgl. Ogorek (Fn. 13), 12, 93 ff., die allerdings den Einfluss der Sozialwissenschaften über die "kritische Sozialgeschichte" unterschätzt, der etwa Christof Dipper, Die "Geschichtlichen Grundbegriffe", in: Historische Zeitschrift 2000, 281-308, 282 eine "kulturelle Hegemonie" in wichtigen Bereichen der Geschichtswissenschaft zuspricht. So übernehmen Arbeiten wie Gert Brüggemeier, Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1977; Bd. 2, Frankfurt/Main 1979 oder Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1989, 129-147 direkt Ansätze der kritischen Sozialgeschichte. Zu Entstehen und Kritik des Konzeptes "Organisierter Kapitalismus / Interventionsstaat" als Mittel historischen Verstehens Volker Hentschel, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland: organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat?, Stuttgart 1978, 9-21.

31 Wesel, Revolution (Fn. 1), 214 f.

32 Der Zusammenhang von Methode und Generation lässt sich auch in anderen wissenschaftlichen Bereichen beobachten, sehr schön etwa beim Entstehen des "New Historicism" in den Literaturwissenschaften, von dessen Montagetechnik auch innovative rechtshistorische Arbeiten profitieren könnten. Der Generationenwechsel kann auch erklären, warum eine neue Methode sich durchsetzt, ohne inhaltlich revolutionär Neues zu bieten. Zum "New Historicism" etwa Anton Kaes, New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?, in: Moritz Bassler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/Main 1995, 251-267; Annette Simonis, New Historicism und Poetics of Culture: Renaissance Studies und Shakespeare in neuem Licht, in: Ansgar Nünning (Hg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden, Trier 1995, 153-172.

33 Schöne Darstellung bei Wesel, Revolution (Fn. 1), 169 ff.; letztlich ist aber Wesels Buch in vielen Teilen eine kleine Geschichte der Universität in den 60er und 70er Jahren.

34 Vgl. Fritz Naphtali, Wirtschaftsdemokratie, 4. Aufl., Köln u.a. 1977, 175 ff. zur "Demokratisierung des Bildungswesens".

35 Zu den Ansätzen in der Geschichtswissenschaft vgl. die Beiträge von A. G. Hopkins "Introduction: Globalization - An Agenda for Historians" und "The History of Globalization - and the Globalization of History?" in dem von ihm herausgegebenen Sammelband "Globalization in World History", London 2002, 1-10 und 11-46.

36 Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002, 17 f.

 

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