Isabelle Häner (Hg.),
Nachdenken über den demokratischen Staat und seine Geschichte.
Beiträge für Alfred Kölz, Zürich: Schulthess 2003, 358 Seiten, ISBN: 3 7255 4555 3, CHF 78,00.

Rezensiert von: Michele Luminati - Universität Luzern

 

Mit schönem, liebevollem Gestus haben fünfzehn ehemalige und gegenwärtige Assistentinnen und Assistenten ihrem schwerkranken Lehrer, dem Zürcher Staatsrechtler und Verfassungshistoriker Alfred Kölz, noch 'rechtzeitig' eine umfangreiche Festschrift gewidmet, die inzwischen leider zur Gedächtnisschrift geworden ist. Alfred Kölz ist nach langer, schwerer Krankheit im Mai dieses Jahres im Alter von 59 Jahren gestorben. Die Autorinnen und Autoren haben in ihren Beiträgen bewusst an das Werk ihres Lehrers und Mentors angeknüpft und so ist eine mehr oder weniger gelungene Wieder- bzw. Neubeschäftigung mit den für die wissenschaftliche (und politische) Tätigkeit von Alfred Kölz typischen Themen entstanden.

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Das Schwergewicht seiner Forschungstätigkeit legte Alfred Kölz zunehmend auf die Verfassungsgeschichte und so ist es kaum überraschend, dass mehr als die Hälfte der Beiträge historischen Themen gewidmet sind. Den Aufsatz von Martin Bertschi zur Geschichte der Vizepräsidentschaft in den USA (S. 155-181) ausgenommen, bearbeiten die anderen Autorinnen und Autoren Themen aus der schweizerischen Verfassungsgeschichte. Mit der Zürcher Vergangenheit beschäftigen sich Franz Kessler (S. 131- 153) und Stefan G. Schmid (S. 263-281). Kessler beschreibt die Entwicklung der Gemeindeautonomie im 19. Jahrhundert und verweist dabei auf die Anleihen bei den süddeutschen Nachbarstaaten bei der Verankerung dieses liberalen Postulats in der Zürcher Regenerationsverfassung von 1831. Es handelte sich dabei freilich um eine partielle Autonomie, die durch zentralisierende Bestrebungen und durch die kantonale Gesetzgebung geschmälert wurde und erst durch die sog. Demokratische Bewegung der 1860er Jahre vollumfänglich verwirklicht werden konnte. Stefan G. Schmid geht einer Episode aus dem Leben von Ludwig Snell nach. Alfred Kölz hat sich mit diesem, in der Regenerationszeit in Zürich wirkenden deutschen Staatsdenker verschiedentlich beschäftigt und ihn als eine der prägenden Gestalten für die Verfassungsentwicklung in der Schweiz bezeichnet.1 In seinem Beitrag schildert Schmid, wie es 1832 zur Bürgerrechtsverleihung an Snell durch die Zürcher Gemeinde Küsnacht kam.

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Zu kantonalen Themen äußern sich auch Hans Ulrich Ziswiler (S. 185-214), der die verwirrende Geschichte der Aargauer Verfassungsrevisionen in den Jahren 1848-1852 schildert, und Andrea Marcel Töndury (S. 105-130) mit einem Beitrag zur (Nicht)Gewährleistung der jurassischen Kantonsverfassung durch die Bundesversammlung im Jahre 1977. Stein des Anstoßes war dabei bekanntlich der Wiedervereinigungsartikel, der den Wunsch nach Aufnahme des bei Bern verbliebenen Südjuras in den neuen Kanton auf Verfassungsstufe verankerte. Die Bestimmung wurde von Berner Seite als Provokation empfunden und von Bundesrat und Bundesversammlung abgelehnt. Dieser Entscheid wird von Töndury in Anlehnung an die von Kölz vertretene Auffassung als staatsrechtlich problematisch, aber staatspolitisch notwendig eingestuft. Die Frage der Wiedervereinigung hat trotz diesem negativen Entscheid bis heute ihre Brisanz beibehalten: Die neueste Initiative zur Schaffung einer jurassischen Einheit ist in diesen Tagen eingereicht worden.

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Eine aktuelle staatspolitische Frage historisch reflektierend, beschäftigt sich Moritz von Wyss mit der Namensabstimmung im Ständerat (S. 23-48). Dort kam es im letzten Jahr zu einer aufgeregten Debatte, als im Rahmen der Verhandlungen über das neue Parlamentsgesetz die Transparenz des Stimmenverhaltens aller Mitglieder der Bundesversammlung gefordert wurde. Der Mehrheit der kleinen Kammer gelang es, diesen Angriff auf ihre "besondere Ratskultur" abzuwehren und die Frage einer erhöhten Transparenz bei Abstimmungen auf die Ebene der einzelnen Ratsreglemente auszulagern. von Wyss verfolgt diese Thematik zurück bis in die Anfänge des Bundesstaates und weist nach, dass bis um 1900 Namensabstimmungen häufig, danach nur noch sporadisch und seit 1947 gar nicht mehr stattfanden. Er führt dieses Resultat auf die in etwa auch seit 1900 zunehmende Einbindung der nicht-freisinnigen politischen Parteien in die Landesregierung, was zur Ausbildung einer ständeratsspezifischen kollegial-konzilianten Ratskultur geführt habe. Die Namensabstimmung, als Instrument der Opposition/Minderheit zur Sichtbarmachung politischer Verantwortung einerseits, als Mittel parteipolitischer Disziplinierung anderseits, sei nach und nach tabuisiert worden.

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Weitere zeitgeschichtliche Themen wählen Susanne Kuster Zürcher (S. 49-74), die sich den immer wieder gescheiterten Volksinitiativen zum Recht auf Arbeit widmet, Paola Masoni mit einem fast hagiographischen Portrait des Staatsrechtlers Zaccaria Giacometti (S. 283-296) und Thomas Gächter (S. 75-104), der sich historisch und dogmatisch mit dem Dringlichkeitsrecht auseinandersetzt. Er greift damit einen Gegenstand auf, der auch die Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, die sog. Bergier-Kommission, beschäftigte, denn die bundesrätliche Notrechtspraxis bildete in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg einen der wichtigsten Gegenstände der staatspolitischen und staatsrechtlichen Debatten. Berühmt geworden ist dabei die Kontroverse zwischen dem bereits erwähnten Zaccaria Giacometti, der die Frage nach Legalität und Legitimität des im August 1939 eingeführten Vollmachtenregimes stellte und scharfe Kritik am konkreten Umgang mit dem Notrecht übte, und seinem Kollegen Dietrich Schindler sen., der das Vollmachtenregime als staatsrechtlich zulässig verteidigte. Gächter folgt bei der Würdigung der Haltung von Giacometti dem Urteil von Alfred Kölz, der den Bündner Staatsrechtler als unerschrockenen Kämpfer für Freiheit und Demokratie, als dezidierten Verfassungswächter charakterisierte.2

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Mag dieses Urteil noch weitgehend überzeugen, so erscheint Gächters Behauptung, die damaligen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen und die darauf gestützte Verfassungspraxis seien als "deutliche Absage an jede exekutivlastige und autoritäre Regierungsform" (85) zu deuten, wenig plausibel. Allein die Tatsache, dass der Abbau des Vollmachtenregimes nach 1945 nur zögerlich in Gang kam - die letzten Vollmachterlasse wurden unter starkem Druck liberaler und föderalistischer Kreise erst auf Ende 1952 außer Kraft gesetzt - und die Geschichte der 1946 lancierten, von Regierung und Parlament bekämpften und 1949 äußerst knapp angenommenen Volksinitiative für die "Rückkehr zur direkten Demokratie", für die sich Giacometti aktiv engagierte, sprechen eine andere Sprache.

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Mit Umschreibungen wie "konservative Demokratie"3 oder "helvetischer Totalitarismus"4 hat die neuere schweizerische Geschichtsschreibung versucht, den Grundcharakter der dominanten helvetischen Staatsideologie nach 1900 zu erfassen. Zu ihren Bestandteilen gehört auch der "Vorrang des Politischen vor dem Rechtsgedanken"5. Die mit dem 1. Weltkrieg einsetzenden Bestrebungen um Abschirmung der bundesrätlichen Politik vor der Öffentlichkeit und die von Giacometti gebrandmarkte autoritäre, Demokratie und Grundrechte einengende Handhabung notrechtlicher Instrumente lassen sich eindeutig hier einordnen. Es wäre nun an der Zeit, die Kontroverse Schindler/Giacometti wie auch den gesamten schweizerischen staatsrechtlichen Diskurs und die Verfassungspraxis dieser Periode unter diesem Blickwinkel eingehend zu untersuchen; die Arbeiten der Bergier-Kommission vermögen in dieser Hinsicht nur partiell zu befriedigen.

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Auch unter diesem Gesichtspunkt hinterlässt Alfred Kölz eine große Lücke: Im leider nicht vollendeten zweiten Band seiner monumentalen schweizerischen Verfassungsgeschichte, der die Zeit von 1848 bis 1948 erfassen sollte, hätte er bestimmt zu diesen wie auch zu weiteren anstehenden Forschungsfragen gewichtige und zum Nachdenken anregende Antworten geliefert.

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Fußnoten:

1 Vgl. insbes. Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Bern 1992, 246 ff; ders., Der Weg der Schweiz zum modernen Bundesstaat. 1789-1798-1848-1998. Historische Abhandlungen, Chur/Zürich 1998, 171 ff.

2 Alfred Kölz, Freiheit und Demokratie - Zum hundertsten Geburtstag von Zaccaria Giacometti, in: ders. (Hg.), Zaccaria Giacometti. Ausgewählte Schriften, Zürich 1994, 331 ff.

3 Mario König, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Krisen, Konflikte, Reformen, in: Manfred Hettling et al., Eine kleine Geschichte der Schweiz, Frankfurt M. 1998, 24.

4 Hans-Ulrich Jost, Bedrohung und Enge (1914-1945), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, 2. Aufl., Zürich 1986, 805.

5 Thomas Maissen, Vom Republikanismus zum Liberalismus. Gegensätzliche Traditionen in der Schweizer Geschichte, in: Neue Zürcher Zeitung, 12. März 2001, 98.

 

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Diese Seite ist vom 13 Oktober, 2003