Susanne Lepsius,
Der Richter und die Zeugen.
Eine Untersuchung anhand des Tractatus testimoniorum des Bartolus von Sassoferrato.

Mit Edition. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 158), Frankfurt/Main 2003. XVIII, 439 S., ISBN 3-465-03240-4, Ln einzeln € 78.-, im Abonnement € 70.20

sowie

Von Zweifeln zur Überzeugung.
Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato.

(Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 160), Frankfurt/Main 2003. XXII, 494 S., ISBN 3-465-03265-9, Ln einzeln € 88.-, im Abonnement € 79.20

Rezensiert von: Mathias Schmoeckel

 

Bartolus: die ganze Wahrheit!

I. Einleitung

Bartolus ist einer der ganz Großen der Jurisprudenz, und die Literatur zu ihm und seinem Werk ist nahezu unüberschaubar. Doch trotz des überwältigenden Nachruhms gibt es viele eher wenig beachtete Teile seines Oeuvres wie etwa sein Traktat zum Zeugenbeweis. Die Materie wirkt recht speziell, so dass allgemeinere Themen anderer Traktate eher zur Interpretation einluden. Susanne Lepsius, geb. Degenring, die sich schon durch andere Publikationen als Bartolus-Spezialistin erwiesen hat, hat nun für den Zeugentraktat eine Neuedition1 sowie, in einem zweiten Band2, eine eingehende Interpretation zu diesem Werk vorgelegt.

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Dabei kann man nicht genug die Genauigkeit der Edition, der Interpretation und der bibliographischen Recherche hervorheben. Fast scheint es, Verfasserin habe dem Werk in allen nur erdenklichen Aspekten nachgespürt im Hinblick auf die dogmatische Entwicklung wie hinsichtlich der Sekundärliteratur. Da das Werk weit über die Materie der Zeugen und des Beweisrechts hinausgreift, ist dies eine gewaltige Leistung. Nach der historischen Präzision in der Erfassung des Textes, im Reichtum der von der Verf. behandelten Themen sowie schließlich auch im Hinblick auf den Umfang handelt es sich sicher auch um eine habilitationswürdige Leistung.

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Mit der Entscheidung der Verf., den verschiedenen Passagen Bartolus' Schrift nachzuspüren, geht einher, dass ihr Werk nicht einem Thema, sondern einem Bündel von mehr oder weniger miteinander verbundenen Themen gilt. So wird man mit langen Passagen zur Geschichte des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit, zur Erkenntnislehre oder zum Staats- und Wissenschaftsverständnis in der Zeit des Bartolus zunächst nicht rechnen. Dennoch handelt es sich um wichtige Ausführungen, die endlich die Behandlung des dolus im Jus Commune aufzuklären vermögen.

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Eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Werk muss sich auf einige wenige Aspekte beschränken. Von grundsätzlicher Bedeutung erscheint zunächst die Frage nach der Bedeutung einer Neuedition für den künftigen wissenschaftlichen Umgang mit Bartolus-Texten (dazu II). Was bedeutet eine verlässliche Textfassung für einen Autor des 14. Jahrhunderts? In besonderer Weise beschäftigen sich Bartolus und Verf. mit dem Beweisrecht des Ius Commune. Hier gilt es, die Thesen der Verf. zu schildern und nachzuprüfen (dazu III.). Schließlich ist die Bedeutung von Bartolus' Traktat in die Entwicklung des Gemeinen Rechts einzubetten (dazu IV.) Wenn dabei nicht nur gelobt, sondern auch kritisch gefragt wird, soll dies den Rang der vorzustellenden Arbeit nicht schmälern.

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II. Die Wahrheit des Textes

Wie alle bekannteren Werke großer Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts wurde auch der Zeugentraktat des Bartolus häufig abgeschrieben und später oft ediert. Er ist also kein unbekannter Text. Dennoch gilt hier, wie bei den meisten Werken des Ius Commune, dass jeder Wissenschaftler froh ist, überhaupt einen Text verfügbar zu haben. Bei den großen Werken anderer Epochen gibt es längst eine Editio stereotypa, welche Maßstäbe setzt, oder Großunternehmen wie die MGH haben maßgebliche Fassungen geschaffen. Eine andere Ausgabe zu nutzen verriete in diesen Fällen grobe Unkenntnis. Doch für die Autoren des Ius Commune ist es schiere Willkür, welcher Druck oder welche Handschrift verwendet und zitiert wird. Während also selbst die inzwischen kritisierte Edition Gratians durch Emil Friedberg in Ermangelung einer neuen und besseren zwingend vorgegeben ist, hat man bei Huguccio die Qual der Wahl zwischen den Handschriften und bei Panormitanus zwischen den Druckausgaben, die nun teilweise auch elektronisch verfügbar sind3. Theologen und Philosophen des 13. und 14. Jahrhunderts wurden dagegen durch das Corpus Christianorum und andere Projekte neu ediert. Gesetze, Briefe und "Staatsschriftsteller" finden sich bei den MGH herausgegeben. Bei den Juristen scheint dagegen hinsichtlich der Wahl der alten oder nachgedruckten Ausgabe eher Beliebigkeit und Chaos zu herrschen.

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Wenn man in den vergangenen Jahren das Werk von Bartolus verfügbar machen wollte, wurde die Wahl der Drucke nach besonderen Kriterien vorgenommen. Interessant galt dabei nicht ein besonders früher Druck, sondern eine Ausgabe, die etwa durch handschriftliche Zusätze eines Lesers besonders bereichert war4. Ohnehin musste man bei der Vervielfältigung ein Exemplar finden, das nicht nur greifbar war, sondern sich auch in einem hinreichend guten Zustand befand.

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Die Edition des Zeugentraktats scheint daher nun Sicherheit und Ordnung hinsichtlich der Textfassung einzuführen: Endlich liegt ein nach den neuen Kriterien wissenschaftlicher Editionen wahrer bartolinischer Text vor, ohne dass Verfälschungen der Schreiber und Drucker zu befürchten sind. Verf. hat die verschiedenen erhaltenen Handschriften und Drucke konsultiert und verglichen. Desgleichen hat sie ein Stemma der Handschriften angefertigt, um die Abweichungen zu erklären. Löst man alles in Abstammungsverhältnisse auf, ergeben sich Rückschlüsse auf die mehr oder weniger originalen Fassungen Bartolus'. Das hier nach den historischen Prinzipien korrekt durchgeführte Verfahren kann dann zum echten, originalen Wort des Meisters führen.

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Dabei zeigt sich, dass es keine vollständige Handschrift5 gibt, vielmehr lassen sich sowohl eine Kurz- als auch eine Langform des Textes erkennen, welche beide mehrfach überliefert sind. Verf. nimmt an, dass die abgekürzte Fassung zunächst geschrieben wurde, allerdings von Beginn eine ausführlichere Behandlung avisiert wurde, welche Bartolus durch seinen frühen Tod nicht mehr beenden konnte. Der Edition wird eine besonders vollständige und als ursprünglich angenommene Handschrift der Langfassung zugrunde gelegt, welche auch deswegen überzeugt, weil sein Schreiber behauptet, das Original eingesehen zu haben6. Indem die Allegationen noch nachgetragen werden, wird der Text insgesamt nicht schon fast zu schön, um wahr zu sein?

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Gibt es mehr als nur eine bartolinische Fassung, existiert auch nicht "der" Traktat schlechthin. Verf. selbst stellt eine "Mannigfaltigkeit des Textes" fest7 und deutet an, dass dies Aussagen zur Überlieferungsgeschichte und zum Publikum des Traktats erlaubt8: Welche Passagen sowie Fragen interessierten und welche inhaltliche Abweichungen wurden vorgenommen? Doch nach der Edition folgt ein dogmenhistorischer zweiter Band, der sich eigentlich nicht mit den unterschiedlichen Fassungen auseinandersetzt. Das Fortleben des Textes wird in den Randglossen, den Zusammenstellungen mit anderen Texten und späteren Werken gesucht9. Das angedeutete, sehr originelle Thema wird also nicht ausgeführt.

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Angesichts der vielfältigen Überlieferung stellt sich weiter die Frage, ob man überhaupt von der Existenz eines echten Textes ausgehen kann. Sicherlich hat Bartolus Texte selbst geschrieben, die von späteren Juristen eingesehen werden konnten. Doch die Vorstellung eines echten Textes geht von einer definitiven, originalen Fassung aus. Im 14. Jahrhundert war der Wert der Originalität allerdings gering. Ging es vor allem um die Wahrheit, konnte man selbst den Text der größten Texte emendieren. Für Schreibversehen galt das ebenso wie für unverständliche inhaltliche Abweichungen.

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Gab es verschieden ausführliche Fassungen, kann die Vollständigkeit auch kein Kriterium für den echten Text bilden. Sicherlich ist es interessant, möglichst viel Text zu sammeln, der sich Bartolus zuschreiben lässt. Doch entsteht dadurch nur eine weitere Fassung, die längst nicht den Intentionen des Autors entsprechen muss; der längstmögliche Text ist keineswegs immer und automatisch der richtige. Dabei kann es sogar sein, dass Verf. den Text etwa durch die Einfügung und Erklärung der Allegationen "verbessert" hat. Aber wird das dergestalt vervollständigte und abgerundete Werk dann nicht zu einer Gemeinschaftsproduktion von Autor und Editor?

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Die vorliegende Edition gibt also wichtige Aufschlüsse über die Aufnahme und Behandlung eines Bartolus-Textes in der gemeinrechtlichen Wissenschaft. Aber es verbleiben Zweifel, ob diese Fassung als die maßgebliche angesehen werden muss. Die Abweichungen der nachfolgenden Manuskripte und Drucke beruhen zwar auf dem Verständnis der Schreiber bzw. Editoren. Doch lag auch ihnen das Bemühen um das richtige Verständnis und nicht die Suche nach Originalität zugrunde. Gerade bei einem unfertig gelassenen Text, den Bartolus zudem in verschiedenen Fassungen gestaltete und indem er die Allegationen teilweise ausließ, also die spätere Bearbeitung einkalkulierte, verbleiben Fragen, ob es überhaupt nur einen maßgeblichen Text des Werkes geben kann.

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Eine kritische Gesamtausgabe der Werke Bartolus', wenn sie geschaffen werden könnte, würde sicherlich wichtige Einblicke in sein Schaffen und die Jurisprudenz seiner Zeit vermitteln. Auch die Abweichungen der nachfolgenden Bearbeitungen ließen sich erst dann beurteilen, wenn der Weg zurück zur Quelle gefunden ist. Doch kommt der kritischen Ausgabe eines Bartolus nicht der Anspruch einer künftig ausschließlichen Nutzung zu wie dem Editionsprojekt eines neuzeitlichen Autors.

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Die Edition stellt damit unzweifelhaft einen erheblichen Erkenntnisgewinn dar. Nun kann man durch Vergleich der verschiedenen Fassungen sehen, ob Verfälschungen durch spätere Bearbeiter zu erkennen sind. Doch solange dies nicht geschehen ist, können noch die übrigen Editionen und Handschriften zum Beleg für bartolinische Jurisprudenz herangezogen werden.

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III. Die Wahrheit des Beweisrechts

Verf. weist auf die Probleme übergreifender Darstellungen des Beweisrechts hin und greift den Altmeister Jean-Philippe Lévy z.T. recht scharf, wenn auch nicht ohne Grund, an. Das Problem synthetischer Darstellungen ist, dass ihre Zusammenstellungen, die Werke und Generationen übergreifend sind, nicht für jeden Autor und jede Zeit gelten. Beim Leser hingegen entsteht der Eindruck, das dort konstruierte Gedankengebäude habe umfassend gegolten. Es ist daher leicht, einer solchen Darstellung durch Verweise auf einen speziellen Autor zu widersprechen, und die Abweichung des einzelnen Autors bedeutet allein noch nicht zwingend, dass die Synthese falsch sei.

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Konzentriert man sich nur auf einen Autor, wird das Substrat der Arbeit vielleicht konkreter, doch stellen sich die Probleme der Einordnung von Bartolus' Gedanken in seine Zeit. Man wird versucht, über das angemessene Maß hinaus Originalität zu finden. Warum muss Bartolus ausgerechnet der erste sein, der im Streit der Mütter vor König Salomo den mütterlichen Affekt als Vermutung für die Mutterschaft ansah10? Canon Afferte (X 2,23,2) im Abschnitt "De praesumptionibus" bildete für die Kanonisten einen der maßgeblichen Ausgangspunkte zur Behandlung der Vermutungsregeln in unklaren und unsicheren Beweislagen11. Dies zeigt sich vor allem in der Genese des Kapitels "de praesumptionibus" im Rahmen der Quinque Compilationes Antiquae, da Canon Afferte mit am Anfang des Kapitels der I Compilatio steht12.

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Ebenso wird Bartolus als derjenige gesehen, der den Begriff der coniectura für die Mutmaßungen eingeführt habe13. Dabei stammt der Begriff aus der römischen Jurisprudenz (vgl. D. 6,2,8; 23,4,30; 24,1,47) und wurde eindeutig auch im beweisrechtlichen Kontext etwa im IV Lateranum von 1215 (X 4,3,3 pr) genutzt14. Das Lob der Originalität Bartolus' kann daher nicht immer überzeugen.

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In der Auslassung der Lehre der Notorietät im Zeugentraktat sieht Verf. eine spezifische Ablehnung Bartolus' der der Notorietät zugrunde liegenden Idee; anstatt auf die Ermittlung des Beweises zu verzichten, habe Bartolus konkret die Wahrheit ergründen wollen15. Die Frage ist jedoch zunächst, ob die Notorietät überhaupt im Zeugenrecht auftauchen musste. Notorisch waren Sachlagen, die allgemein bekannt waren. Zeugen waren dann nicht mehr nötig, es sei denn, gerade die Tatsache der allgemeinen Kenntnis wäre zu beweisen. Allerdings war die Lehre der Notorietät durch die Mindestanforderungen an den Prozess, welche durch Canon Saepe (Clem. 5,11,2) präzisiert worden waren, in Frage gestellt und tatsächlich allmählich im Rückzug begriffen. Daher war Bartolus auch skeptisch gegenüber der Notorietät eingestellt, die er allein als kanonistische Lehre begreifen wollte.

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Verf. diagnostiziert bei Bartolus ein wirklich modernes Verständnis der Wahrheit. Für ihn habe nur das als Wahrheit gegolten, was sich im Prozess dargestellt habe16. Dem Richter sei es unmöglich gewesen, die Wahrheit zu wissen, allenfalls habe er eine Überzeugung gewinnen können (ad fidem adducitur)17. Verf. erscheint der Richter u.a. deswegen nicht als aktiver Sucher nach der Wahrheit18, weil das Problem der Lüge und Folter im Zeugentraktat nicht angesprochen wird. Dies wird als Zurückhaltung gegenüber der Möglichkeit objektiver Erkenntnis aufgrund der Schwäche des menschlichen Verstandes gedeutet19. Die inhaltliche Zurückhaltung kann aber auch daran gelegen haben, dass Bartolus offenbar eher an der Bewertung von Aussagen als an deren Erzielung interessiert war und wegen eines solchen materiellen Grundes die weitere Rechtsfrage der Zulässigkeit der Zeugenfolter nicht anschnitt.

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Wenn Verf. aus Bartolus' Fixierung auf "fides" und nicht "veritas" schließt, es habe für verschiedene Richter mehrere Wahrheiten geben können, weckt sie das Erstaunen der Leser. Bartolus müsste dann mit einer der Grundannahmen seiner Gesellschaft gebrochen haben, dass es nur eine Wahrheit geben könne, und hätte geradezu gerechter Weise als Ketzer verurteilt werden müssen.

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Beruhigend kann man weiter darauf hinweisen, dass es die eine veritas selbstverständlich auch bei Bartolus gab. Sie war mehr als eine Meinung20 und auch als die allgemeine Meinung, sondern eben die tatsächliche Lage, welche als Faktum auch bekannt sein konnte21. Es spricht für die Exaktheit der bartolinischen Untersuchung, dass nicht das Faktum, als die wahre Lage, sondern Kenntnis dieser Umstände, also die richterliche Überzeugung, Ziel seiner Untersuchung bildete. Nur der Schluss der Verf. von mehreren möglichen Überzeugungen auf mehrere mögliche Wahrheiten überzeugt nicht.

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Als besondere Leistung Bartolus' wird es angesehen, dass die fides vom Zeugen zum Richter verschoben worden sei22. Er habe der Beweiswürdigung durch den Richter einen hervorgehobenen Platz eingeräumt, indem er fides nicht mehr als ein Attribut der Zeugen, also gedeutet als "Glaubwürdigkeit", sondern als Einstellung des Richters, folglich als richterliche Überzeugung, verstand. Doch ist es kaum eine Neuerung, von der fides des Richters zu sprechen. Schon bei Gratian kam es auf die fides an, welche durch die Beweise entstünden23. Auch in der Praxis kam es auf die Meinung an, die sich der Richter von den Personen bilden konnte24.

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Da Bartolus bei einem Schluss auf den Vorsatz vom dolus manifestus, nicht aber von indicia indubitata spricht, geht Verf. davon aus, er habe an dieser Stelle die Lehre der indicia und praesumptiones verfeinert25. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die Situation der indicia indubitata, auf Grund derer selbst eine poena ordinaria ergehen konnte, nicht so einfach angenommen werden konnte. Die Behandlung dieser Situation war sehr strittig. Thomas de Piperata hatte vorgeschlagen, allgemein solche Indizienlagen als ausreichend für Kapitalurteile anzusehen, und war damit auf herbe Kritik gestoßen, die zur offiziell herrschenden Ansicht wurde. Der Theorie nach sollte der Richter eben nicht willkürlich die Indizien als ausreichend für eine poena ordinaria ansehen können. Die herrschende Lehre behielt die Kategorie der indicia indubitata vor allem deswegen bei, weil einige Gesetze solch eindeutige Beweislagen definierten, welche die Todesfolge rechtfertigten26. Bartolus' Zurückhaltung bei der Annahme unbezweifelbarer Indizien entspricht also der damals vorherrschenden Vorsicht.

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Der Schluss nur aus einem Werk heraus wirft daher ebenso Probleme auf wie eine Synthese aus mehreren Jahrhunderten. Die Einzelanalyse verkennt das Umfeld, etwa wenn der einst als skandalös behandelte Außenseiter Thomas de Piperata nun als Autorität27 und der bedeutendste Beweisrechtler der Zeit des Bartolus, also der von Baldus immer wieder zitierte und erst von Manlio Bellomo wieder entdeckte Nicolaus de Mattarellis, nicht erwähnt werden.

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Aufgrund solcher Annahmen gelangt Verf. zu ihrer großen These über die Entwicklung des Beweisrechts. Sie wendet sich vehement gegen die verbreitete Annahme einer als ganz fixiert verstandenen "gesetzlichen Beweistheorie" und weist auf die Freiheit hin, welche Bartolus dem Richter in seinem Traktat zuweist28. Die Beweiswürdigung geschehe nach Bartolus 'rational'29. Dieser zunächst kritisch betrachtete Begriff, der in der rechtshistorischen Literatur meist zur Abwertung früherer Zeiten genutzt wurde, wird hier nicht weiter erklärt30. Im Ergebnis wird der Ausdruck gegen die übliche Abwertung gekehrt und soll besagen, dass Bartolus die Beweise so vernünftig und aufgeklärt wertete, wie es auch heute geschehen könnte, indem er die Aussagen auf ihre Plausibilität hin untersuchte, die Sicherheit der Sinneswahrnehmungen eruierte und die möglichen Motive der Aussagen in seine Überlegungen mit einbezog. Dabei habe es kein schematisches Rechnen in der Bewertung der Beweismittel gegeben, sondern eine kritische Würdigung jedes einzelnen Beweisinstruments. Im Ergebnis habe der Richter auch Zeugen als unglaubwürdig ablehnen können. Nach Verf. stand ihm nach der Auffassung Bartolus' damit eine "negative Beweiswürdigungsfreiheit" zu31.

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Unter der "negativen Beweiswürdigungsfreiheit" versteht man eine in den 1830er von Mittermaier entwickelte Theorie, wonach der Richter die Freiheit erhielt, selbst nach der gesetzlichen Beweistheorie ordentlich erbrachte Beweise als unglaubwürdig abzulehnen32. Unter Beibehaltung der "gesetzlichen Beweistheorie" und der strikten Definition gültiger Beweise wurde dem Richter damit aufgrund seiner inneren Überzeugung die Kompetenz gegeben, Beweise jedenfalls zu verwerfen, wenn auch noch nicht frei aus den Indizien auf eine glaubwürdige Überführung des Angeklagten zu schließen.

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Die Möglichkeit, Beweise abzulehnen, bestand bei Bartolus ebenso wie bei Mittermaier. Doch ist diese Gemeinsamkeit gering, denn selbstverständlich hat man immer schon Zeugen ablehnen können, von deren Lügen der Richter überzeugt sein konnte33. Die Besonderheit der Lehre im 19. Jahrhundert ist die Vorbereitung der richterlichen Beweiswürdigungsfreiheit. Zwar hatte auch der Richter des Ius Commune schon Freiheiten (arbitrium iudicis), die vielleicht sogar weiter reichten als die des Richters im reformierten Strafprozeß34, doch agierte er innerhalb einer anderen Verfassung. Mittermaier und seine Nachfolger schrieben für eine gewaltenteilende Verfassung und waren mit dem Problem beschäftigt, die Grenzen der Legislative und der Judikative zu bestimmen. Wie konnte der Richter frei sein, wenn an sich der Gesetzgeber die Strafe bestimmen sollte?

27

Der Richter des Ius Commune war dagegen ein Vertreter der unumschränkt herrschenden Obrigkeit. Dementsprechend gab es für das richterliche Ermessen auch nur Grenzen im Hinblick auf die höheren Gerichte und die Regierung. Die Regeln, denen er bei der Beweiswürdigung unterworfen war, dienten vor allem der Nachprüfbarkeit des Urteils durch eine höhere Instanz. Angesichts der Verschiedenartigkeit der juristischen Problemsituation sollte die an sich schon fast selbstverständliche Gemeinsamkeit, unglaubwürdige Zeugen ausschließen zu können, weniger stark wiegen. Hinzu kommt, dass es sich auch bei dieser Möglichkeit der Zurückweisung von Zeugen nicht um eine originäre Erfindung Bartolus' handelt, sondern um eines der wesentlichen Themen bei der Entwicklung des römisch-kanonischen Verfahrensrechts. Allerdings wurde dabei zunächst viel weniger von der Überzeugung des Richters als von scheinbar objektiven Ausschlussgründen gehandelt ("qui et qualis esse possint")35.

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IV. Die Wahrheit der Wissenschaft

Es ist daher besonders beeindruckend, wie fein Bartolus die Probleme aufgliederte und allen Verallgemeinerungen, wie "zwei Zeugen ergeben einen vollständigen Beweis", widersprach. Es war eine seiner besonderen Leistungen, eine Skala vom Nichtwissen (nescentia) über die verschiedenen Grade des Zweifels (dubitatio, suspicatio, opinio) bis hin zur Überzeugung (creduliatas, fides) zu beschreiben36. Gerade wegen dieser feinen Differenzierungen ragt seine Stimme aus der großen Zahl der Schriften zum Beweisrecht heraus. Daraus ergibt sich die Frage nach der Bedeutung einer derartig herausragenden wissenschaftlichen Leistung für die Zeit des Bartolus und danach.

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Verf. ist in dieser Hinsicht eher skeptisch. In einer genauen und detaillierten Suche nach Spuren von Bartolus' Argumentation im Schrifttum und der Praxis kommt sie zu einem wirklich ernüchternden negativen Ergebnis. Weder dominiert Bartolus in der Literatur noch wird er später in großem Maße zitiert. Zwar wird der Traktat oft gedruckt, meist mit anderen Werken entweder Bartolus' oder beweisrechtlichen Werken zusammengestellt; all dies wird beeindruckend genau von Verf. dargestellt. In der übrigen Literatur sei Mascardus einer der wenigen gewesen, die Bartolus zitiert und seine Bedeutung erkannt hätten37. In der Praxis fänden sich hingegen keinerlei Anzeichen einer Wahrnehmung des Zeugentraktats38. Dieser scheint, insbesondere in der Langfassung, daher fast schon umsonst geschrieben worden zu sein.

30

Doch auch diesbezüglich kann man Zweifel äußern. Die Praxis brauchte keine offizielle Urteilsbegründung, schon aus diesem Grund wurden im Prozess wenig wissenschaftliche Referenzen dokumentiert. Für die Literatur darf man nicht nur die Zahl der Zitate zählen, um die Wirkung von Bartolus zu ermessen, auch das Schweigen kann als Referenz auf Bartolus angesehen werden: Kommentierte Bartholomäus Soccini etwa genau die für das Zeugenrecht maßgeblichen Stellen nicht39, kann dies dafür sprechen, dass er diesen Bereich als durch Bartolus abschließend behandelt ansah.

31

Schließlich stellt sich die Frage, ob die breite, wesentlich einfacher gehaltene Literatur Bartolus verdrängte. Dafür muss man zunächst konzedieren, dass es für die simpel gehaltenen Leitfäden auch Bedarf gab. Im Syndikatsprozess und am Ende der Amtszeit der Richter in den oberitalienischen Städten wurden die Richter kontrolliert. Die Bewertungsmaßstäbe mussten dabei einfach in der Handhabung und objektiv deutlich sein. Wieweit ein arbitrium iudicis wahrgenommen wurde, ließ sich dabei kaum nachprüfen, wohl hingegen die Tatsache, ob das Urteil, das eine Todesstrafe aussprach, sich jedenfalls auf zwei als glaubwürdig erachtete Zeugen stützte. Auch für den Einstieg in diese Rechtsmaterie waren die kurzen Leitfäden bis hin zum Merkvers des Johannes Andreae in wenigen Zeilen hilfreich. Nur wenige sind aufgrund ihrer Bildung und ihres Einsatzes in der Lage, herausragende wissenschaftliche Leistungen wahrzunehmen.

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Das bedeutet jedoch nicht, dass solche Werke kein Nachleben hatten. Auch in der Praxis werden immer wieder Fragen virulent, die sich nicht mit den einfachen Leitfäden beantworten lassen. Immer wieder suchen Juristen im Dickicht der Regeln nach Autoren, die hierfür ein Verständnis schaffen und erklären, inwieweit Gerechtigkeit erreicht werden kann. Für solche Fälle stand Bartolus bis ins 18. Jahrhunderte wie wenig andere Autoren prominent und in vielen Bibliotheken präsent zur Verfügung. Seine Autorität war so selbstverständlich, dass er gar nicht mehr zitiert werden musste. Wenn gerade Mascardus ihn zitierte, bestätigt das eigentlich nur den Eindruck, dass dieser in seinem riesigen Werk über eine doch eher überschaubare Rechtsmaterie wirklich alles niederschrieb, was er erwähnen konnte.

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Ganz allgemein stellt sich die Frage, wie man die Autorität wissenschaftlicher Werke des Ius Commune bemessen will. Große Autoren späterer Zeiten nutzten viel Literatur, andere hatten offenbar nur wenig zur Hand und es gibt zahlreiche Werke, welche die Regeln auf einfachem Niveau ohne viele Nachweise erklärten. Vielleicht wären Bibliothekskataloge ein aussagekräftigeres Kriterium, wenn hier überhaupt statistische Angaben als aussagekräftig angesehen werden können.

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Aber alle diese Zweifel an den Schlüssen der Verf. können nicht den Wert der von ihr zusammengetragenen Beobachtungen in Zweifel ziehen. Meine Überlegungen sollen vielmehr anzeigen, dass hier endlich wieder eine gehaltvolle und anregende Darstellung zum Ius Commune vorliegt, die in der genauen Erfassung des bartolinischen Textes Maßstäbe setzen kann.

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Fußnoten:

1 SUSANNE LEPSIUS, Der Richter und die Zeugen. Eine Untersuchung anhand des Tractatus testimoniorum des Bartolus von Sassoferrato (Studien zu Europäischen Rechtsgeschichte, 158), Frankfurt a.M. 2003.

2 SUSANNE LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato (Studien zu Europäischen Rechtsgeschichte, 160), Frankfurt a.M. 2003.

3 Zu den Problemen der Editionstätigkeit vgl. WILFRIED HARTMANN, Schwierigkeiten beim Edieren, in: ders./ G. Schmitz (Eds.), Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen, (MGH., Studien und Texte, 319), Hannover 2002, 211-226.

4 So die römische Edition des Gesamtwerks durch den Verlag Il Cigno: Bartolus de Saxoferrato, Commentaria, Venetiis 1526 ND Rom 1996, mit zahlreichen handschriftlichen Zusätzen.

5 LEPSIUS, Der Richter und die Zeugen (Fn. 1), 103.

6 Vat. Barb. lat. 1398, fol.132r-155, vgl. LEPSIUS, Der Richter und die Zeugen (Fn. 1), 202.

7 LEPSIUS, Der Richter und die Zeugen (Fn. 1), 101.

8 LEPSIUS, Der Richter und die Zeugen (Fn. 1), 103.

9 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 325 ff.

10 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 211.

11 Dazu vgl. MEINE Arbeit "Humanität und Staatsraison", Köln u.a. 2000, 322 ff. und öfter.

12 I Comp 16,2, vgl. AEMILIUS FRIEDBERG, Quinque Compilationes Antiquae, Leipzig 1882 ND Graz 1956, 18.

13 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 38.

14 Für die Verwendung in der Praxis s. ALBERTUS GANDINUS, Tractatus de maleficiis, ed. H. Kantorowicz, Berlin/ Leipzig 1926, c. De presumptionibus et indiciis dubitatis, 75 Z.17.

15 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 38, 51.

16 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 142 f.

17 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 18.

18 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 156.

19 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 428.

20 BARTOLUS, Commentaria zu D. 29,2,15 n.3, Venetiis 1528 ND Roma 1998, fol. 173 ra, D. 47,2,22 n.1, Venetiis 1526 ND Roma 1996, fol.131 rb.

21 BARTOLUS, Commentaria zu D. 29,2,30,1 n.6, Venetiis 1528 ND Roma 1998, fol.178 rb.

22 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 180 ff., 317.

23 Etwa DG post C.30 q.5 c.11.

24 ALBERTUS GANDINUS, Tractatus de maleficiis (Fn. 14), c. De presumptionibus et indiciis dubitatis, 75 n.2 Z.14-16.

25 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 288.

26 Näher MEIN "Humanität und Staatsraison" (Fn. 11), 216 ff.

27 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 195.

28 So bereits PAUL HINSCHUIS, Lehre von der Eidesdelegation, Berlin 1860, 82 ff, 92, 102; MEIN "Humanität und Staatsraison" (Fn. 11), 275 ff.; insoweit gegen Lévy.

29 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 83 ff.

30 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 81 f.; kritisch aber DIES., Der Richter und die Zeugen (Fn. 1), 30 ff.

31 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 195.

32 KURT MICHELS, Der Indizienbeweis im Übergang vom Inquisitionsprozeß zum reformierten Strafverfahren, Diss.jur. Tübingen 2000, 139; JOACHIM SCHULZ, Mittermaier und die freie richterliche Beweiswürdigung, in: W. Krüger (Ed.), Carl Joseph Anton Mittermaier (Heidelberger Forum, 58), Heidelberg 1988, 139-148; zum Zivilrecht vgl. CHRISTIAN PATERMANN, Die Entwicklung des Prinzips der freien Beweiswürdigung im ordentlichen deutschen Zivilprozess in Gesetzgebung und Lehre, Diss.jur.Bonn 1970, 117 ff.

33 Vgl. etwa PILLIUS, De ordine iudiciorum, ed. Bergfeld, Göttingen 1842 ND Aalen 1965, 3.11, 70 Z.36; mit eigenem Kapitel "De reprobatione testium" TANCRED VON BOLOGNA, Ordo iudiciarius, tit 6, ed. F. C. Bergmann, wie eben, 3.11, 243 ss.

34 Dazu grundlegend MASSIMO MECCARELLI, Arbitrium. Un aspetto sistematico degli ordinamenti giuridici in età di diritto comune, (Università di Macerata, pubblicazioni della facoltà di giurisprudenza, 93), Mailand 1998; DERS., Arbitrium iudicis und officialis im Ius commune, ZRG GA 115 (1998), 552-565.

35 Für "suspecti" und "inimici" etwa TANCRED VON BOLOGNA, Ordo iudiciarius, ed. F. C. Bergmann (Fn. 33), 3.6, 228 Z.4-10; aber: quibus testibus fides sit adhibenda et quanta, 3.12, 245 ss.

36 Beschrieben und analysiert von ISABELLA ROSONI, Quae singula non prosunt collecta iuvant. La teoria della prova indiziaria nell'età medievale e moderna (Università di Macerata, pubblicazioni della facoltà di giurisprudenza, 84), Milano 1995, 235 ff.

37 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 394.

38 LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 397 ff., 406.

39 Vgl. LEPSIUS, Von Zweifeln zur Überzeugung (Fn. 2), 366.

 

 

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