Stefan Chr. Saar,Ehe - Scheidung - Wiederheirat.
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In jüngster Zeit ist die Geschichte des Ehe- und Familienrechts unter einem neuen Blickwinkel zusehends wieder ins Zentrum rechtshistorischer Forschungsbemühungen gerückt: Ehe- und Familienrecht sind die zentralen Schauplätze der Frauenrechtsgeschichte. Führt man die neuen Fragestellungen der Frauenforschung und die neuesten Fragestellungen der Gender-Forschung bzw. Geschlechterforschung in die Rechtsgeschichte ein, so ist das Familienrecht mit Sicherheit der erstrangige Untersuchungsgegenstand. |
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Zu den in unserer Zeit erst wenig untersuchten Perioden des Familienrechts gehört das Frühe Mittelalter. Gerade hier ist eine bedauerliche Forschungslücke feststellbar. Die neuere Forschung neigt bisher oft dazu, sich auf Vorgänge aus der Neuzeit zu beschränken. Symptomatisch dafür ist die Zusammenstellung im einschlägigen Sammelband Gerhards (Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997), welcher der Gliederung nach ausschließlich Aufsätze zum 16.-20. Jahrhundert enthält. Doch schon hier wird deutlich, dass Gegenwart und neuere Geschichte nicht losgelöst von ihren älteren Wurzeln betrachtet werden können: gerade in einigen der wertvollsten Beiträge des Sammelbandes, wie denjenigen Holthöfers zur Geschlechtsvormundschaft oder Ramings über Stellung und Wertung der Frau im kanonischen Recht werden gezielt auch Antike und Mittelalter behandelt. |
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Und gerade das Frühe Mittelalter bietet aus frauenrechtsgeschichtlicher Perspektive genügend Anlass dazu. So liegt es nahe, die unterschiedlichen Ehearten des damaligen Rechtslebens speziell unter dem Gesichtspunkt weiblicher Rechtspositionen zu untersuchen: gab es gar im modernen Sinne "frauenfreundliche" Gegenformen der Ehe, welche dann später nach der kanonisch-rechtlichen Vereinheitlichung des personenrechtlichen Eheverhältnisses entfielen? Oder handelte es sich dabei lediglich um Eheformen minderen Rechts? Die sog. Friedelehe, um die es in diesem Zusammenhang in erster Linie geht, wird tatsächlich oft mit der Gleichberechtigung der Geschlechter in Verbindung gebracht. Anknüpfend an ältere Darlegungen (wie Meyer, Friedelehe und Mutterrecht, SavZRG (GA) 47 (1927), 198-286) erscheint es hier lohnend, gezielt der Frage nach Frauenrechten nachzugehen. |
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Traditionelle Rechtshistoriker haben bereits - oft unbewusst - viele Fragen dieser Art aufgeworfen, ohne sie ausdrücklich zu stellen. So fällt es auf, dass Conrad (Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, 2. Aufl., Karlsruhe 1962, S. 153-155) den weiblichen Eheschließungspartner damaliger Ehen nicht als "die Frau", sondern als "das Mädchen" bezeichnet, wohl anknüpfend an den in einigen Quellen verwendeten Begriff der "puella" (für Braut). Folgerungen zur mangelnden Selbständigkeit der Frau bei der Eheschließung und im ehelichen Leben liegen dann nahe. Und im führenden Nachschlagewerk unseres Faches, dem Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), führt die Suche nach dem Stichwort "Frau" zu einem merkwürdigen Fund: weder dieses Stichwort noch die vielen anderen hiermit zusammengesetzten Begriffe sind dort einer Erwähnung für würdig gehalten worden, mit der einzigen Ausnahme ausgerechnet des Schlagworts "Frauenraub (raptus)" (HRG I, 1210-1214), welches wiederum aufs engste mit dem frühmittelalterlichen Straf- und Eherecht verknüpft ist. |
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So ist es ein verdienstvolles Unternehmen, dass Saar in seinem neuen Werk versucht, eine in letzter Zeit zu wenig beachtete Periode der Familienrechtsgeschichte zu beleuchten, hierbei insbesondere für die notwendigen zukünftigen Arbeiten zu Einzelfragen einen detaillierten systematischen Überblick über das verstreute Quellenmaterial zu bieten und diesen mit umfassenden Hinweisen auf die ältere deutschsprachige und neue in- und ausländische Literatur zu ergänzen. Der immense Wert dieser Arbeit als Wegweiser und weiterführendes Nachschlagewerk wird deutlich, wenn man das Verhältnis von Haupttext zu Fußnotennachweisen betrachtet: die Anmerkungen machen bereits räumlich etwa die Hälfte der Arbeit aus. |
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Was den inhaltlichen Gang seiner Untersuchung betrifft, beschreibt Saar zunächst in einer Kurzdarstellung (S. 1-86) das "antike Erbe", welches als Grundlage der frühmittelalterlichen Rechtsanwendung gesehen wird. Dieses antike Erbe umfasst nach Saar zunächst das alttestamentarisch-jüdische Recht, dann das altgriechische und vor allem römische Recht, die Zeugnisse des Neuen Testaments und der frühen christlichen Kirche, schließlich die nachklassische römische Scheidungsgesetzgebung. |
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Der einleitende Teil ist über weite Strecken in erster Linie deskriptiv, bisweilen geht er darüber hinaus und kommt zu einer detaillierten historisch-systematischen Darstellung, so z.B. im Abschnitt zur antiken Kirchengeschichte. Ein an verschiedenen Quellengattungen dargestellter Streitpunkt ist dabei namentlich die Anerkennung der Verbindungen unfreier Personen als Ehe. In die Deskription werden bereits im einleitenden Teil immer wieder kurze Ansätze zur Interpretation eingefügt, besonders gelungen ist dies beispielsweise im gut recherchierten Abschnitt zur Auslegung alttestamentarischer Sätze. Die einleitende Darstellung wird abgeschlossen mit einer Untersuchung zum Geist des nachklassischen römischen Scheidungsrechts. Dort wird mit nachvollziehbaren Argumenten kurz dargelegt, dass die betreffenden Gesetze eher nicht als Ausdruck einer spezifisch christlichen Eheethik zu verstehen seien. |
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Der zweite und zugleich abschließende Teil (S. 87-440) stellt das eigentliche Hauptwerk Saars dar, seine Überschrift "Ehe und Ehescheidung im Recht des Frühmittelalters (6.-10. Jahrhundert)" ist teilidentisch mit dem Gesamttitel des Buches. Es wäre gliederungstechnisch sinnvoll gewesen, diesen zweiten Teil in mehrere selbständige Teile aufzulösen, und es wäre zudem wünschenswert gewesen, das Buch durch ein Resümee in Form einer zusammenfassenden Würdigung abzuschließen, was leider unterblieben ist. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die Untersuchung als erster Teil einer zweibändigen Darstellung angelegt ist. Ein zweiter Band, welcher das Hoch- und Spätmittelalter bis zum Beginn der Reformationszeit umfassen soll, wird im Vorwort Saars angekündigt. |
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Kurz gefasst besteht der Hauptteil Saars aus zwei großen Unterabschnitten: "Wege in die Ehe" (S. 100-263; Eheschließung, in diesem Zusammenhang auch das Personen- und Vermögensrecht der wesentlichen Ehearten sowie einige Exkurse u.a. zu standesungleichen Ehen, Erbrecht, raptus) sowie "Wege aus der Ehe" (S. 263-440; Ehebeendigung und Wiederheirat). Vorangestellt ist auf S. 87-99 eine kurze Einführung zu religionsgeschichtlichen Vorfragen und zu den benutzten Quellengattungen: in erster Linie leges (sog. Volksrechte), daneben auch Kapitularien und Konstitutionen, Formelsammlungen, Bußbücher, erzählende Quellen und literarische Zeugnisse, auch die teils in der weltlichen Rechtssetzung rezipierten Beschlüsse von Kirchenversammlungen. |
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Die auf S. 100-263 folgenden "Wege in die Ehe" sind von meiner Person im Sommersemester 2003 unter ausdrücklichem Bezug auf das Werk Saars zum Gegenstand zweier Unterrichtseinheiten eines Kurses zur Frauenrechtsgeschichte an der Universität Hannover gemacht worden. Dieser wertvolle und zentrale Abschnitt der Untersuchung lässt sich alles in allem deutlich positiv bewerten und ist in der Lehrveranstaltung von allen Beteiligten außerordentlich erfreut aufgenommen worden. Eheschließungsrecht, Ehearten und die daraus folgenden personen- und güterrechtlichen Konsequenzen werden materialreich, detailliert und dennoch prägnant herausgearbeitet, wobei der umfangreichste Abschnitt (S. 101-163) sich mit der Muntehe befasst. |
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Zur Muntehe werden zunächst personenrechtliche (S. 101-116), dann (S. 117-127) vermögensrechtliche Aspekte erläutert. Eine unter frauenrechtlichen Gesichtspunkten ganz zentrale Frage ist hier diejenige nach der Beteiligung der Frau (bzw. "des Mädchens") an der eigenen Eheschließung. Dass hier in der Muntehe die Rolle der Frau passiv war, gewissermaßen als Vertragspartner des Mannes nicht die Frau, sondern die Familie der Frau auftrat, mag eingeräumt werden. Doch bedeutet dies noch nicht von vornherein, dass die Frau in dieser Eheform ein bloßes Handelsobjekt war und wie eine verkaufte Sklavin gegen ihren Willen einem ungeliebten Mann unterworfen wurde. Eine Eheschließung ohne den formal ausdrücklich erklärten Willen der Frau ist nämlich nicht mit einer Eheschließung gegen ihren Willen gleichzusetzen. Hier ist die zusätzliche Untersuchung notwendig, was in solchen Fällen geschah, in denen die Frau sich mit einer arrangierten Ehe nicht schweigend abfand, sondern ausdrücklich gegen die Eheschließung sträubte. Kommt es auch dann zu einer Ehe? Ist nicht, wie bereits Scherer 1879 anmerkte, eine Ehe wider Willen ein Widerspruch mit sich selbst? Saar (S. 104-107) arbeitet kenntnisreich die damit zusammenhängenden Fragen heraus, lässt aber deren Lösung im Ergebnis bewusst offen, wobei er auf die regional uneinheitlichen Vorgaben der Quellen verweist. Allerdings deutet er an, dass es zu jeder Zeit und an jedem Ort ein Gebot der Klugheit zur Vermeidung desaströser Ehen gewesen sein muss, eine Frau nicht gegen ihren begründeten Widerspruch zu verheiraten, selbst wenn eine solche "Ehe" mancherorts rechtlich anerkannt worden wäre. |
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Eine weitere frauenrechtlich höchst bedeutsame Frage ist die nach Charakter und Umfang der ehremännlichen Muht. Das sog. mundium wird auf S. 104 kurz im Zusammenhang der Eheschließung angesprochen, hätte jedoch an dieser Stelle sicherlich noch eine vertiefende Untersuchung verdient gehabt. Sehr beachtlich sind dann die Ausführungen zur Ungleichheit der Geschlechter in einer Reihe unterschiedlicher persönlicher Rechtspositionen, aus denen sich grundsätzliche Prinzipien zur gegenüber dem Mann geminderten Rechtsstellung der Frau ableiten lassen: Ungleichheit der sexuellen Treuepflicht, ungleiche Erwartungen an sexuelle Unberührtheit vor der Eheschließung, Ungleichheit des Heiratsalters - der Mann soll bei der ersten Verheiratung durchschnittlich acht bis zehn Jahre älter gewesen sein als die Frau (vgl. S. 113-115) -, Anknüpfung des Frauenschutzes in Wergeldkatalogen an die Erwartung der Geburt eines männlichen Erben. |
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Bei den güterrechtlichen Wirkungen der Muntehe steht die deutschrechtliche Form der dos (Brautschatz, Brautgabe, vgl. S. 117-125) im Vordergrund. Dabei handelt es sich idealtypisch um eine vereinbarte Leistung des Mannes oder seiner Familie an die Familie der Frau, wobei das geleistete Gut oft von dort teilweise oder ganz an die Frau selbst weitergegeben wird. In einigen Rechten erfolgt die güterrechtliche Leistung direkt vom Mann an die Frau, diese Art der Dotalabrede habe sich in der Zeit der leges immer weiter durchgesetzt. Folgt man der Annahme Saars (S. 121), so sollte mit dieser Ausstattung der Frau in erster Linie ihre Versorgung bei Verwitwung und Scheidung abgesichert werden, nicht aber ihre wirtschaftliche Selbständigkeit während der Ehe, denn der Mann habe ein Verwaltungs- und Nutzungsrecht am Gut der Frau gehabt, so dass die Frau in der Regel ohne seine Zustimmung nicht habe wirtschaften können. Wenngleich nicht jede Ehe dotiert gewesen sein muss, war doch die Dotalvereinbarung eine ganz typische Abrede bei Schließung einer Muntehe. Als weitere Gütermassen (S. 125-127) finden kurz Erwähnung die Morgengabe als Zuwendung des Mannes an die Frau nach Vollzug der Ehe, die Aussteuer als Abfindung für entfallende Erbansprüche und die Gerade als Gut der Frau zu ihrer freien Verwaltung und Verfügung. Namentlich die Gerade (leider nur kurz auf S. 127 mit Verweis auf Hübner abgehandelt), welche oft aus kulturell "weiblich" zugeordneten Gegenständen wie Kleidung, Schmuck, Hausrat bestand, hätte gleich unter mehreren Aspekten der rechtshistorischen Frauenforschung eine detailliertere Untersuchung verdient: einerseits, weil sie den güterrechtlichen Ansatzpunkt für eine Selbständigkeit der Ehefrau bildet, zum zweiten, weil hier die rechtliche und sachkulturelle Belegung und Zuweisung ganz bestimmter Gegenstände und Haushaltstätigkeiten als typisch "weiblich" erfolgt und zum dritten, weil in einigen Varianten des Erbgangs spezielle rein weibliche Vererbungslinien nachweisbar sind. Die Gerade steht so zweifellos in einem Spannungsverhältnis zur männlich bestimmten personenrechtlichen Munt. |
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Im nun folgenden noch der Muntehe zugeordneten Abschnitt über "unerwünschte Geschlechtsverbindungen" (S. 128-163) untersucht Saar in erster Linie die Ehebeschränkungen wegen Verwandtschaft und Schwägerschaft (S. 132-162), daneben polygyne Verbindungen sowie stammesverschiedene Ehen. In der sehr schön entwickelten Schilderung der Inzestverbote wird detailliert der Konflikt zwischen älteren germanischen Prinzipien und im Vordringen befindlichen Einflüssen insbesondere des Kirchenrechts geschildert. Namentlich am Beispiel Frankens wird dabei die Durchsetzung der recht weitgehenden kirchlichen Ehebeschränkungen in Mitteleuropa beschrieben. |
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Es folgt ein Abschnitt über kirchliche "Instrumente zur Beeinflussung des Heiratsverhaltens" (S. 163-207). Dies umfasst namentlich die kirchliche Beteiligung am Heiratsgeschehen, die Bußdisziplin und das Zusammenspiel der geistlichen mit der weltlichen Gerichtsbarkeit. Zweifellos bedeutet dies einen für die Entwicklung und Durchsetzung der späteren christlichen Eheschließungsform und Eheform ganz entscheidenden Faktor. Hier wird der Weg dargestellt, auf dem sich später im Hochmittelalter eine vereinheitlichte Eheform durchsetzen konnte, die ihrerseits wieder zum Vorläufer der rechtsverbindlich gestalteten bürgerlichen Ehe des heutigen Rechts wurde. Hinzu kommt, dass mit der Bußpraxis der Kirche ein machtvolles Instrument in die Hand gegeben war, auf die Entwicklung persönlicher Ehepflichten - wie z.B. der Treuepflicht - und auf persönliches Wohlverhalten in der Ehe Einfluss zu nehmen. |
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Die im Anschluss (S. 207-228) behandelten "Formen des Zusammenlebens jenseits der Muntehe" behandeln neben der Friedelehe auch Kebsehe, Polygynie und Konkubinat. Aus moderner Sicht besonders aufschlussreich erscheint hier die Fragestellung, ob und inwieweit die Friedelehe als freie Konsensehe zweier selbstbestimmter Menschen aufgrund der gesteigerten persönlichen Freiheit der Frau als eine alternative freie Eheform oder gar als Ansatzpunkt einer germanistischen frauenfreundlichen Rechtsutopie geeignet sei. Saar (S. 210f.) schildert hierzu die 1927 begründeten Positionen Meyers. Er zieht diese Positionen deutlich in Zweifel und neigt eher dazu, die Friedelehen ähnlich wie Kebsverbindungen zu behandeln und als "minderrechtliche Verbindungen mit meist sozial wenig gut gestellten Frauen" (S. 213) zu bezeichnen. Dabei legt er zumindest nahe, auch in Friedelehen hätten umfangreiche Herrschaftsrechte der Männer bestanden (S. 215f.). |
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In den drei hierauf folgenden Exkursen (S. 228-263) werden zunächst der Zusammenhang von Eheform und erbrechtlicher Stellung der Kinder, dann standesungleiche Verbindungen und schließlich Ehe und crimen raptus abgehandelt. Während bei den standesungleichen Verbindungen insbesondere die Frage der Ehen freier Frauen mit unfreien Männern sehr gut aufgeschlossen wird, verdient auch der Abschnitt zum raptus besondere Beachtung. Unter raptus ist Frauenraub gegen den Willen der Frau oder Entführung mit ihrem Willen zu verstehen, der Begriff ist allerdings auch mit dem Tatbestand der Vergewaltigung (englisch: rape) zumindest verwandt. Ursprünglich - so Saar (S. 252 m.w.N.) - habe es einen einheitlichen Tatbestand gegeben, in welchem der Willen der Frau keine Rolle gespielt habe. Eherechtlich interessant ist am raptus, ob und unter welchen Umständen dieser in eine legitime Ehe münden konnte und welche Rolle bei der Begründung solch einer Ehe der freie Wille der Frau gespielt haben mag (vgl. namentlich S. 256-262). |
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Der nächste große Themenkomplex der Arbeit (S. 263-440) betrifft "Wege aus der Ehe", also die Ehescheidung, nebst Anmerkungen zur Wiederheirat. Das einleitende Kapitel berichtet vom Heirats- und Scheidungsverhalten fränkischer Herrscher im 6.-9. Jahrhundert. Dabei ist sich Saar der Gefahren seiner Quellenauswahl bewusst: u.a. sind die meisten Mitteilungen auf eine dünne Oberschicht beschränkt (S. 263f.), während das Leben des Volkes kaum ausreichend überliefert ist. Aufgrund dieser Überlieferungslücke ist man mitunter gezwungen, auf die wenigen überhaupt vorliegenden und keinesfalls repräsentativen Quellen zurückzugreifen, Überlieferungen, in denen u.a. durchweg vom Mann die Initiative zur Ehebeendigung ausging (S. 265) - aber hätte sich das Aufzeichnen abweichender Vorgänge mit der männlichen Würde der beteiligten Adligen vertragen? Überliefert ist im übrigen ein ungebremst patriarchales Geschlechtsverhalten merowingischer Könige, die nahezu nach Belieben Frauen heirateten und verstießen. |
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Die Scheidung ist im Frühen Mittelalter in zwei Arten praktiziert worden: als einseitige Scheidung (Verstoßung der Frau durch den Mann, in späterer Zeit in einigen Gebieten auch Scheidungsbegehren der Frau, vgl. S. 302-306) und als einvernehmliche Scheidung. Hinsichtlich der einseitigen Scheidung stellt sich insbesondere die Frage, ob eine unbegrenzte Scheidungsfreiheit des Mannes bestand oder bestimmte Schranken beachtet werden mussten. Saar (S. 299f.) verweist zutreffend darauf, dass auch bei einem theoretisch freien Verstoßungsrecht zwei ganz empfindliche Einschränkungen dieser vermeintlichen Freiheit zu beachten waren. Die erste Schranke ist tatsächlicher Natur (drohende Feindschaft des Verwandtschaftsverbandes der Frau), die zweite Schranke güterrechtlicher Art, in Gestalt umfangreicher Vermögensnachteile für den Mann im Falle einer grundlosen Scheidung. Solche Vermögensnachteile finden sich nicht nur im spätrömischen Recht, sondern auch in vielen leges. |
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Bei einer Übersicht über vorfindbare Scheidungsgründe werden extreme Ungleichheiten zu Lasten der Frau deutlich, die im kanonischen Scheidungsrecht der christlichen Ehe so nicht mehr auftauchen werden. So wird sexuelle Treue nur von der Frau verlangt, diese muss aber für Treueverstöße mit härtesten Sanktionen rechnen. Und in Fällen von Unfruchtbarkeit (S. 315) wurde die Ursache regelmäßig in der Frau und nicht beim Mann vermutet. |
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Im Zusammenhang zwischen Eheart und Scheidung nimmt Saar (S. 317) an, Muntehen seien an sich wohl nicht schwerer scheidbar gewesen als Friedelehen, nur hätten die indirekten - z.B. güterrechtlichen - Sanktionen bei letzterer Eheform oft weniger schwerwiegende Folgen gehabt. Sehr fruchtbar erscheint sodann Saars Ansatz einer vergleichenden gemeineuropäischen Untersuchung, in welcher in einem Exkurs (S. 320-330) kurz die Scheidung in angelsächsischen, altirischen und isländischen Quellen behandelt wird. Hierauf folgen (S. 330-339) Ausführungen zum Hergang der einseitigen Ehescheidung. Während die personenrechtliche Scheidung als außergerichtlicher Akt charakterisiert wird, wurden sowohl das Vorliegen strafwürdiger Scheidungsgründe als auch die vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen oft von Richtern beurteilt. Die Wiederheirat Geschiedener (S. 357-362) ist im Gegensatz zur Wiederheirat der Witwen (S. 339-357) im damaligen Recht nur selten ausdrücklich geregelt. Was die einverständliche Ehebeendigung betrifft (S. 362-370), so neigt Saar (S. 370) zu der Ansicht, dass hier bereits "seit jeher" eine eigenständige germanische Tradition existiert haben müsse, da es ein Bedürfnis des Mannes nach friedlicher sippenvertraglicher Regelung von Eheauflösungen gegeben habe. Ein zeitlich gestaffelter Überblick über Ehescheidung und Wiederheirat in fränkischen Kapitularien und weiteren Quellen des 8.-10. Jahrhunderts (S. 370-440) führt die Untersuchung bis an die Schwelle des 2. Jahrtausends fort. |
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Abgeschlossen wird die Arbeit durch sehr ausführliche und gewissenhaft geführte Register sowie Quellen- und Literaturübersichten. |
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Insgesamt kann die Veröffentlichung als ein sehr ordentliches, materialreiches, mit einer höchst beachtlichen Untersuchungstiefe aus Quellen und Literatur erarbeitetes und zudem auch gut lesbares Werk bezeichnet werden. Gerade weil es an einer neuen umfassenden Einführung in das Eherecht des Frühen Mittelalters bisher fehlte, wird die vorliegende Arbeit schnell ihren Platz als Standardwerk gewinnen und auch längere Zeit behaupten können. Selbst wer nicht mit allen dort vertretenen sachlichen Positionen übereinstimmt, wird an Untersuchungsgang und Quellenzusammenstellung der Arbeit nicht mehr vorbei können. |
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Sie hätte, wie oben in Einzelheiten erwähnt, vielleicht noch besser gestaltet werden können durch einen veränderten Aufbau der Gliederung, vor allem aber durch Einfügen von Zwischenergebnissen sowie eines abschließenden Resümees in Form einer zusammenfassenden Würdigung. Hinzu kommt, dass der eine oder andere recht lange Abschnitt (wie S. 132ff., 263ff., 404ff.) noch leserfreundlich in Unterabschnitte hätte aufgespalten werden können. |
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In der Auswahl der Fragestellungen handelt es sich um eine vergleichsweise traditionell orientierte Arbeit. Dies ist in mancher Hinsicht auch als eine Stärke zu verstehen, so sind eine Vielzahl von Kontroversen der älteren und neueren Literatur präsent und werden eingehend referiert und, soweit sie entschieden werden, durchweg vertretbar und nachvollziehbar entschieden, bisweilen unterbleibt auch eine deutliche eigene Stellungnahme. Die Arbeit verkörpert einen Grad an Quellenkenntnis und Belesenheit, wie er leider auch in rechtshistorischen Arbeiten immer seltener zu finden ist. Andererseits fehlt etwas die eigenständige Entwicklung sehr naheliegender neuer Fragestellungen, namentlich solcher zu Möglichkeiten und Grenzen einer selbstbestimmten weiblichen Lebensgestaltung in anderen Zeitaltern. Dass im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aus dem historischen Recht heraus mehr solche Fragen hätten gestellt werden können, ohne ahistorisch Vorstellungen der Gegenwart auf die Vergangenheit zu übertragen, wurde beispielhaft am Recht der Gerade (S. 127) verdeutlicht, vgl. auch die nur sehr kurzen Ausführungen zum männlichen mundium auf S. 104. |
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Ein spezieller Bereich, in dem dagegen geradezu vorbildlich neue Fragestellungen herausgearbeitet und alte Quellen unter moderner - aber vielleicht eben doch auch zeitübergreifend humaner - Perspektive neu gelesen und interpretiert worden sind, ist das Eherecht der Unfreien (vgl. hierzu neben den bereits oben besprochenen Stellen auch die umfangreichen Nachweise im Register unter "Sklaverei, Sklavenehe"). |
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Die graphische und bibliographische Ausstattung des Bandes ist weitgehend gut gelungen und nur in einigen Details verbesserungsbedürftig. So sollten die Jahrgangsangabe und detaillierte bibliographische Angaben auch im Buch selber enthalten sein, ein bloßer Verweis auf die Deutsche Nationalbibliographie im Internet erscheint hier nicht ausreichend. Ein sehr gründliches Lektorat hätte zudem vor Drucklegung noch einige letzte Tippfehler und graphische Unregelmäßigkeiten ausmerzen können, wie z.B. die dunklen bzw. verwischten Vorlagen von S. 136 und 255, kleine Uneinheitlichkeiten in der Überschriftenformatierung (wie S. 130 im Vergleich zu S. 132) oder kleine Textfehler wie die Wortdoppelung des Wortes "nicht" im Satz zur Aussteuer auf S. 127 und ähnliche Tippfehler am Anfang von S. 306. |
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Insgesamt halte ich die Neuerscheinung für eine wichtige und empfehlenswerte Standardlektüre für alle im Bereich der Familienrechtsgeschichte interessierten.
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Betreut vom ![]() Diese Seite ist vom 27. Januar, 2004 |