Zitiervorschlag / Citation:

Ylva Greve,

http://www.forhistiur.de/zitat/0511gschwend.htm

Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der «Criminalpsychologie» im 19. Jahrhundert.


Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2004, 463 S.; ISBN 3-412-06404-1; € 49.90

 

Rezensiert von: Lukas Gschwend (St. Gallen)

 

Die von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Giessen abgenommene Dissertation behandelt die Entstehungsbedingungen der «Criminalpsychologie», die Inhalte und praktischen Anwendungsbereiche derselben sowie deren Auswirkungen auf die Strafgesetzgebung. Gleich vorweg ist festzuhalten, dass Greve die «Criminalpsychologie» als forensischen Interdisziplinarismus im Schnittbereich von Strafrecht, Medizin, Philosophie und Psychologie begreift und sich auf die Untersuchung des Zeitraumes zwischen 1780 und 1850 konzentriert. Im Vordergrund steht in Übereinstimmung mit der Fragestellung die Analyse der «criminalpsychologischen Bearbeitung von Grundfragen des Strafrechts» (S. 3). Es geht also nicht um die Kriminalpsychologie als strafprozessrechtliche und kriminalpolizeiliche Hilfswissenschaft, wie sie im deutschen Wissenschaftsraum insbesondere der Grazer Kriminalist, Hans Gross, Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und in welchem Sinn sie bis heute gepflegt wird. Als Untersuchungsmaterial finden zahlreiche gedruckte Quellen, d. h. wissenschaftliche Publikationen zum Themenkreis aus dem Untersuchungszeitraum, Verwendung. Da die «Criminalpsychologie» damals nicht als eigene Wissenschaftsdisziplin in Erscheinung trat, hatte die Autorin ihr Material nicht nur nach formalen Zuordnungskriterien zusammenzutragen, sondern sich massgeblich mit Inhalten zu befassen. So bilden zahlreiche juristische und medizinische Beiträge zur Lehre von der Zurechnungsfähigkeit sowie anderweitig forensisch ausgerichtete psychiatrische und psychologische Literatur aus dem Untersuchungszeitraum Gegenstand der Untersuchung. Das Quellenverzeichnis erweist sich denn auch als reicher Fundus. Dagegen erscheint das dritte Kapitel der Einleitung mit dem Titel «Literatur» (S. 6–10) als fragmentarische und einseitige Beschreibung der Forschungsdiskussion, welche auch eine beklagenswerte Schwäche der Untersuchung andeutet, auf welche im Folgenden zurückzukommen sein wird.

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Im ersten Teil erläutert Greve die wissenschaftsgeschichtliche Ausgangslage Ende des 18. Jahrhunderts: Durch ein «Zusammenwirken von Naturrecht und Aufklärung» sei ein Prozess initiiert worden, der auch die Strafrechtswissenschaft erfasst habe und sich mit den Begriffen «Säkularisierung», «Rationalisierung», «Liberalisierung» und «Humanisierung», aber auch «Individualisierung» und «Psychologisierung» umschreiben lasse. Durch diese grundlegenden Neuerungen habe die strafrechtliche Untersuchung – im Gegensatz zu früher – den Täter und nicht mehr die Tat in den Mittelpunkt gestellt (S. 24). Dadurch sei auch das Interesse an psychologischen Hintergründen der Straftat erwacht. Hält man sich den aufklärerischen Entwicklungsstrang von Montesquieu über Cesare Beccaria hin zu Karl Ferdinand Hommel vor Augen, so trifft dies sicher zu. Andererseits legen Immanuel Kant 1797 mit der «Metaphysik der Sitten» und Georg Friedrich Hegel 1820 mit seinen «Grundlinien der Philosophie des Rechts» die Grundlagen für eine bis ins 20. Jahrhundert nachwirkende, die Dogmatik gleichermassen wie die Kriminalpolitik beeinflussende absolute Straftheorie, welche primär einem Tatstrafrecht Vorschub leistet. Da ein philosophisch begriffenes Tatstrafrecht i. d. R. auch ein Schuldstrafrecht ist, kommt jedoch der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit als Voraussetzung der Strafbegründungsschuld eine Schlüsselfunktion zu, welche wiederum Raum für eine Aufklärung des individualpsychologischen Hintergrunds sowie des Motivationsgefüges einer Straftat schafft und ein entsprechendes Interesse weckt.

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Als wesentlicher Grundpfeiler der «Criminalpsychologie» erscheint die sich als eigene Wissenschaft allmählich etablierende Psychologie des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die empirische Verankerung der jedenfalls ansatzweise bereits von John Locke im 17. Jahrhundert begründeten «Erfahrungsseelenlehre», welche in Deutschland von Christian Wolff aufgegriffen, anfangs des 19. Jahrhunderts durch die Romantik weiterentwickelt wird, schafft den Boden für eine Emanzipation von der in Metaphysik und Theologie beheimateten Seelenlehre früherer Zeiten. Die empirisch ausgerichtete Seelenkunde arbeitet statt mit metaphysischen Konzeptionen der menschlichen Seele gestützt auf Selbstbeobachtung und interessiert sich besonders für psychische Ausnahmezustände. Viel Material dazu liefert das von Carl Philipp Moritz 1782 begründete «Magazin der Erfahrungsseelenlehre». Mit der Hinwendung zum Psychopathologischen entwickelt die Erfahrungsseelenlehre einen Ast zur «Criminalpsychologie». Es entsteht die literarische Gattung der «merkwürdigen Criminalfälle», welche sich im ganzen 19. Jahrhundert grosser Beliebtheit erfreut. Die Erfahrungsseelenlehre dient dem Strafrecht zunehmend als Hilfswissenschaft für das Verständnis und die Beurteilung der subjektiven Tatseite (S. 65).

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Es folgen in Greves Darstellung etwas breit angelegte, inhaltlich durchaus gelungene Übersichtsdarstellungen der Geschichte der Psychiatrie und der «gerichtlichen Arzneywissenschaft», welche die übrigen Säulen der «Criminalpsychologie» bilden. Die Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts kennt in der Schule der «Psychiker» eine enge Berührung mit der Psychologie, welche mit dem Siegeszug der «Somatiker» weitgehend verloren geht, was zu einer Grabenbildung zwischen den beiden Disziplinen führt, die bis heute spürbar ist. Greve verwischt diese Berührungsfläche allerdings durch die Feststellung, viele «Psychiker» seien keine Psychologen gewesen, weil sie, wie etwa Johann Christian August Heinroth, moralisch argumentierten. Auch die zeitgenössische Psychologie, selbst wenn sie über ein empirisches Selbstverständnis verfügte, war keineswegs immun gegen moralische Imprägnierung. Greves Behauptung, die Zurechnungsfähigkeit des Straftäters, welche sie an dieser Stelle mit der Zahl der sogenannten «zweifelhaften Gemütszustände» identifiziert, habe vor 1800 in Strafprozessen «nur recht selten entscheidende Bedeutung» erlangt (S. 111), trifft zwar dem Grundsatz nach zu, doch wäre hier etwa zu erwähnen, dass bereits der praxisorientierte Carolina-Kommentar von Johann Paul Kress von 1736 (2. A. Hannover) sehr ausführlich und sogar mit einem medizinischen Mustergutachten angereichert die ausserordentlichen psychischen Zustände und ihre strafrechtlichen Konsequenzen im Sinn von Art. 179 CCC erklärt.

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Im zweiten und umfangreichsten Teil widmet sich die Autorin der Disziplinbildung und Konzeption der «Criminalpsychologie». Aus einer Feststellung Christoph Karl Stübels, wonach diese jene Psychologie sei, welche sich auf «die Natur des Verbrechens» beziehe, schliesst die Autorin, die «Criminalpsychologie» habe im 19. Jahrhundert im Spektrum der Wissenschaftsdisziplinen «als ein Teil des Naturrechts bzw. der Psychologie» gegolten (S. 117). Die ideengeschichtliche Genealogie der «Criminalpsychologie» bleibt dabei etwas unpräzis. Gerade zu dieser Zeit bedarf der Begriff des Naturrechts einer genaueren, kontextbezogenen inhaltlichen Analyse.

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Es folgen zur Konkretisierung der Inhalte der «Criminalpsychologie» informative Werkdarstellungen früher criminalpsychologischer Schriftsteller (Karl von Eckartshausen (1783), Johann Gottlieb Münch (1799) und Johann Christian Gottlieb Schaumann (1792)). In einer erweiterten Betrachtung werden zahlreiche weitere strafrechtliche Autoren des 19. Jahrhunderts berücksichtigt, so nebst anderen auch Berner, Feuerbach, Grohmann, Henke und Mittermaier. «Diese juristischen Autoren widmeten sich vor allem der Untersuchung unterschiedlicher Tatmotive, die der Verbrechensbegehung zugrunde lagen sowie der psychischen Verfassung von Straftätern bei der Tatbegehung.» (S. 134). Die «Criminalpsychologie» befasst sich demnach mit der Motivation des Täters, mit dem psychischen Zustand des Täters zur Tatzeit unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit sowie mit dem Strafzweck insbesondere hinsichtlich der Wirksamkeit präventiver Konzepte (S. 135). Diese Aspekte werden in den folgenden Kapiteln mit teilweise bemerkenswertem Erkenntnisgewinn untersucht. Manche «Criminalpsychologen» sensibilisieren für die Problematik der Todesstrafe, welche von diesen gestützt auf eine deterministische Argumentation teilweise entschieden abgelehnt wird. Eine Vertiefung der Wechselwirkung von «Criminalpsychologie» und deterministischer Strafrechtslehre im Kontext des damaligen Schulddiskurses über die Ausführungen betreffend «Die Zurechnung als Grundelement strafrechtlicher Verantwortung» auf S. 218ff. hinaus, wäre hier wünschbar. Die Autorin zeigt auf, dass die «Criminalpsychologie» den Weg zur modernen Freiheitsstrafe ebnete und jedenfalls partiell eine Abkehr von absoluten und ausschliesslich negativ generalpräventiven Strafzwecklehren bewirkte. Die leitende Argumentation erinnert sehr stark an Beccaria. Weiterführend wäre eine klare Abgrenzung zwischen dem Strafrechtsdiskurs des aufgeklärten Absolutismus und der Innovation der «Criminalpsychologie» des 19. Jahrhunderts oder aber die Darlegung, dass eine solche Abgrenzung kaum möglich sei.

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Die Summe der Arbeit findet sich im Kapitel über die criminalpsychologischen Theorien der Zurechnungsfähigkeit. Obschon Begriff und Idee der Willensfreiheit kaum entwickelt werden, kommen die notwendigen inhaltlichen Zusammenhänge von Prävention und Zurechnung sowie Besserung recht klar zum Ausdruck. Die Autorin präsentiert «Fallgruppen der Unzurechnungsfähigkeit». Dabei imponiert als besonderes Merkmal der «Criminalpsychologie», dass Juristen und Mediziner sich gleichermassen um Aspekte der Psychopathologie wie auch der Zurechnungsfähigkeit kümmern. Ein weiteres Augenmerk gilt dem Einfluss «gerichtsmedizinischer Gutachten» auf die Strafrechtspraxis vor dem Hintergrund wachsender Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ärzten und Juristen. Es wird aufgezeigt, wie gegenseitiges Misstrauen – namentlich die Vorbehalte der Juristen gegenüber der psychiatrischen Nosologie – die konstruktive Zusammenarbeit erschwerte. Bei den Medizinern fehlte weitgehend das Bewusstsein für die rechtsbegriffliche Entität und Qualität der Zurechnungsfähigkeit. Vermutlich hätte eine Erklärung dieses Defizits auf der Basis der damals üblichen psychologischen Definition der Zurechnungsfähigkeit wertvolle Vertiefungsmöglichkeiten eröffnet. Auch diente es der wissenschaftsgeschichtlichen Ausrichtung der Arbeit, die Skepsis der Juristen gegenüber der medizinischen Terminologie und Diagnostizierungsmethoden vor dem Hintergrund eines erstarkenden juristischen Begriffspositivismus zu analysieren.

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In einem dritten Teil werden die Auswirkungen der Criminalpsychologie auf die Strafgesetzgebung untersucht, wodurch die vielschichtige Analyse ihren Abschluss findet. Die «Criminalpsychologie» fördert die Weiterentwicklung des Strafrechts insbesondere durch ihre Forderungen nach einer psychiatrisch-psychologischen Durchwirkung von Strafrecht und Gerichtswesen. Diese Forderung hat ihre Aktualität bis heute behalten, denn nur psychiatrisch-psychologisch einigermassen verständige Richter sind in der Lage, Expertengutachten umfassend und korrekt zu würdigen, deren Erkenntnisse kritisch zu reflektieren und in die Rechtsfindung zu übernehmen. Die Wirkungsgeschichte dieser Forderungen wird freilich nur fragmentarisch und oberflächlich im Hinblick auf Zurechnungsfähigkeit und Strafmass untersucht, weshalb konkrete Folgerungen hinsichtlich des faktischen Einflusses auf die Gesetzgebung im deutschsprachigen Rechtsraum kaum gezogen werden können.

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Greves Untersuchung zeichnet sich aus durch eine breite Berücksichtigung der zeitgenössischen Literatur, die zum grossen Teil jedenfalls auszugsweise als Quellenmaterial eingearbeitet wird. Sodann überzeugt die Studie durch ihre klare Sprache. Es gelingt der Autorin, theoretisch anspruchsvolle Zusammenhänge in ihrer Komplexität sinnvoll zu reduzieren. Das Buch ist auch Lesern ausserhalb der research community, ja selbst einem nicht akademisch gebildeten Publikum, verständlich.

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Diesen Stärken stehen leider gewichtige Schwächen gegenüber: Über die jedenfalls teilweise wenig ausdifferenzierte Gliederung der Arbeit kann man geteilter Meinung sein. Immerhin ist eine Kapitelstruktur, welche eine identische Bezeichnung von Ober- und Unterkapiteln zulässt («Verbrechen und Krankheit», S. 242 und 245), wenig geeignet, eine Gedankenhierarchie als Ordnungsprinzip zu vermitteln. Eine bessere Gliederung hätte vermutlich auch dazu verholfen, die zahlreichen Redundanzen der Arbeit zu reduzieren. Sodann ist die unvollständige Zitierung gewisser Quellen bedauerlich. Dadurch werden weiterführende Nachforschungen unnötig erschwert. So wird etwa aus einer Schrift Johann Zacharias Platners zitiert und der Titel in der Fussnote unvollständig aufgeführt, doch fehlt ein Eintrag im Quellenverzeichnis, und es wird auch nicht ersichtlich, woher die zitierte Information stammt. Ebenso bedauerlich sind andere handwerkliche Unsauberkeiten. Die Abgrenzung von Quellen und Sekundärliteratur ist nicht immer geglückt. Es ist nicht plausibel, weshalb Albert Friedrich Berners Lehrbuch des Deutschen Strafrechts von 1868 im Quellenverzeichnis auftaucht, um dann wiederum unter der Sekundärliteratur aufgeführt zu werden (S. 444, 457). Schade auch, dass Hermann Wilhelm Eduard Henkes Lehrbuch des Strafrechts im Text seinem Bruder, dem Gerichtsmediziner Adolph Henke, zugeschrieben wird (S. 150), obschon die Autorin im Quellenverzeichnis eine richtige Zuordnung vornimmt. Das sind störende Flüchtigkeiten. Schwer nachvollziehbar ist sodann, weshalb das gebundene und laminierte Buch nicht über ein Personenregister verfügt, zumal eine Vielzahl damaliger «Criminalpsychologen» behandelt werden. Angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten ist die Erstellung eines Index ohne weiteres zu bewerkstelligen und gehört bei einer solchen Publikation zur notwendigen Ausstattung.

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Aufschlussreich wäre sodann eine qualitative Analyse von Urteilen gewesen, um die tatsächliche Auswirkungen der «Criminalpsychologie», also das Ergebnis der Interaktion von medizinisch-psychiatrisch-psychologischen Experten mit den Gerichten auf die Urteilspraxis, inhaltlich konkreter zu erfassen und aus dem rein wissenschaftstheoretischen Diskurs etwas weiter zu entwickeln. Zwar sind Ansätze zu einer solchen Analyse vorhanden, indem einige Fälle aus den von Eduard Hitzig herausgegebenen «Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege» quantitativ erfasst werden, doch fehlt eine inhaltliche Auswertung. Obschon Kapitel 8 den Titel «Die Bedeutung der Criminalpsychologischen Zurechnungslehre in der Strafpraxis» trägt, beschränken sich auch hier die Ausführungen weitgehend auf die theoretische Ebene. Ganz allgemein begnügt sich die Darstellung mit einem deskriptiven Anspruch. Der Leser sucht oft vergeblich nach kontextualisierender Vernetzung und Erklärung.

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All diese Mängel lassen sich verschmerzen. Wirklich bedenklich ist aber, dass Greve die Forschungsdiskussion – soweit überhaupt – nur sehr einseitig integriert. Man mag es ihr als Juristin verzeihen, dass sie die einschlägigen Forschungsergebnisse und Methodenansätze der seit den 1990er Jahren entwickelten Kriminalitätsgeschichte ignoriert. Freilich erstaunt dies insofern, als die Autorin bereits 1999 wesentliche Erkenntnisse ihrer Dissertation im von Helmut Berding, Diethelm Klippel und Günther Lottes herausgegebenen Sammelband «Kriminalität und abweichendes Verhalten» (Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht) in einem dieser Art der modernen Strafrechtsgeschichtsforschung aufgeschlossenen Umfeld publiziert hat. Auch dass sie ihrer Arbeit kein theoriegestütztes Konzept sozialhistorischer bzw. herrschaftstheoretischer Ausrichtung zugrunde legt, lässt sich verschmerzen. Ebenso kann der wohlwollende Leser damit leben, dass der für die alte «Criminalpsychologie» geradezu charakteristische gender-Aspekt ausgeblendet wird. Allerdings befassen sich zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen jener Zeit mit weiblicher Kriminalität und mit deren medizinischer und psychologischer Erklärung auf der Basis geschlechtsspezifischer Eigenheiten (Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett) und deren Auswirkungen auf die weibliche Psyche. Völlig inakzeptabel ist jedoch, dass die durchaus überschaubare, einschlägige neuere rechtshistorische Literatur zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit zu einem wesentlichen Teil unterschlagen wird. Es fehlen insbesondere Adrian Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldfähigkeit. Psychowissenschaftliche Konzepte zur Beurteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2000 sowie Lukas Gschwend, Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Ein Beitrag insbesondere zur Regelung im Schweizerischen Strafrecht, Zürich: Schulthess, 1996. Im knapp 40 Seiten umfassenden Kapitel «Romantik, Gehirnpsychiatrie, moral insanity und geborene Verbrecher – zur forensischen Psychiatrie im 19. Jh.» behandelt Schmidt-Recla diverse Fragen, auf die auch Greve eingeht. Gschwend analysiert auf insgesamt etwa 130 Seiten psychiatrie- und schuldstrafrechtsgeschichtliche Aspekte, die auch Gegenstand von Greves Abhandlung bilden. Inhaltlich bestehen zahlreiche Überschneidungen. Auch die neueren Werke zur Geschichte der Kriminologie, Gerichtsmedizin und Psychiatrie etwa von Peter Becker ( Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2002) oder Maren Lorenz ( Kriminelle Körper – gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg: Hamburger Edition, 1999) finden keine Erwähnung. Ob all diese Werke überhaupt nicht konsultiert wurden oder ob einfach auf Zitierung verzichtet wurde, lässt sich nicht ohne weiteres feststellen. Beides steht in klarem Widerspruch zu einem ernsthaften wissenschaftlichen Selbstverständnis. Jedenfalls ist es sehr enttäuschend, wenn innerhalb einer derart überschaubaren research community keine Auseinandersetzung mit den aktuellen Forschungsergebnissen stattfindet. Das ist geradezu eine Absage an die Wissenschaft und daher für eine Dissertation unverständlich und unverzeihlich. Dass dieses Buch mit Unterstützung der DFG gedruckt wurde, stimmt insofern sehr nachdenklich.

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Diese Seite ist vom 15. November 2005