Artikel vom 11. Dezember 2000 Stefan Braun: Die Geschichte des Öffentlichkeitsgrundsatzes im deutschen Strafprozeß
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A) Einführung |
Die Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren ergibt sich nach heutiger Rechtslage grundsätzlich aus § 169 S. 1 GVG. Zu beachten ist jedoch schon hier, dass sich diese Norm nicht auf das gesamte Strafverfahren (etwa vom Beginn der Ermittlungsmaßnahmen über das weitere Ermittlungs- und Zwischenverfahren) sondern nur auf die Öffentlichkeit der Verhandlung bezieht. Weiterhin sind auch gem. §§ 170 ff GVG Beschränkungen der Öffentlichkeit aus bestimmten Gründen möglich. | 1 |
Auch normiert Art. 6 I MRK im Grundsatz die Öffentlichkeit der Verhandlung. Zwar ist danach unbedingt nur das Urteil öffentlich zu verkünden, jedoch haben die zugelassenen Einschränkungen (wie Ausschluß der Öffentlichkeit z.B. wegen Belangen der nationalen Sicherheit, der Interessen von Jugendlichen usw.) im Grundsatz lediglich Ausnahmecharakter.1) | 2 |
Öffentlichkeit bedeutet nun nach h.M., dass jedermann die Möglichkeit haben muß, sich über Ort und Zeit der Verhandlung zu unterrichten und dass ihm im Rahmen der zur Verfügung stehenden räumlichen Möglichkeiten ohne persönliche Rücksichten der Zutritt zum Gerichtssaal gewährt werden muß.2) | 3 |
Um die Bedeutung dieses, nach heutigem Verständnis grundlegenden Prinzips der Rechtspflege besser ermessen zu können, soll hier eine skizzierte Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieses Grundsatzes bezüglich des Gebietes der heutigen Bundesrepublik Deutschland erfolgen. | 4 |
In diesem Zusammenhang soll nur die Öffentlichkeit im Allgemeinen bzw. im grundsätzlich generellen Sinne untersucht werden. D.h. es soll keine Differenzierung erfolgen etwa hinsichtlich des "wer Zutritt zum Verfahren hatte (etwa nur die wehrfähigen Männer bei den Germanen3)) oder des Abschnitts des Verfahrens in dem die Öffentlichkeit gegeben war (also keine Differenzierung nach Öffentlichkeit der Voruntersuchung, des Zwischenverfahrens oder der Hauptverhandlung). Auch soll nicht nach den einzelnen Einschränkungsmöglichkeiten des Öffentlichkeitsprinzips (heute etwa nach § 169 S. 2, § 170 b GVG) unterschieden werden. | 5 |
B) Geschichtliche Entwicklung des Öffentlichkeitsgrundsatzes im Strafprozeß |
1) Die germanische Zeit |
Überliefert sind die Rechtsverhältnisse dieser Zeit insbesondere durch den römischen Autor Tacitus in dessen Schrift " Germania " (98 n. Ch.). Da Tacitus selbst aber wohl nie in Germanien war 4)und darüber hinaus diese Schrift wahrscheinlich auch gutteils dazu bestimmt war den politischen Zielen des Tacitus in Rom zu dienen, ist die Glaubwürdigkeit dieser Schrift in Frage zu stellen.5) | 6 |
Angesichts dieser Unsicheren Quellenlage ist eine Darstellung dieses Zeitraums vor 500 n. Ch. nur grob und unter Vorbehalt möglich6) Tendenziell kann jedoch festgestellt werden, dass das Recht für die Menschen in Frühzeit und Mittelalter etwas Vorgegebenes, Ungesetztes und Ungeschriebenes war. Es konnte als gutes altes Recht gefunden werden und zwar im Gesamtwissen des Volkes, im Rechtsgefühl der Volksgemeinde, ihrer Vertrauensmänner und in alten Überlieferungen7) | 7 |
Da also die Findung des Rechts die Teilnahme des Volkes voraussetzte, war der Rechtsgang notwendigerweise öffentlich in dem Sinne, dass alle, die mitzusprechen hatten anwesend sein durften und sogar mußten (sog. Thingpflicht).8) Die Funktion der Gerichte wurde hier nun vom Thing ausgeübt. Dies war eine Versammlung der wehrfähigen Männer, die in bestimmten Abständen zusammentrat9) und die, wie schon erwähnt, zwangsläufig durch ihre Zusammensetzung öffentlich war. Die Gemeinde der Rechtsgenossen nahm sozusagen aktiv an der Rechtsfindung teil.10) | 8 |
Den Vorsitz beim Thing hatte ein Stammesführer. Dieser machte einen Urteilsvorschlag der durch Zustimmung der sogenannten Thinggenossen, dem "Umstand zum Urteil wurde.11) Die Zustimmung wurde dabei von den im Kreis stehenden Teilnehmern durch zusammenschlagen der Waffen gegeben. Eine Ablehnung erfolgte durch "Murren der Versammlung.12) | 9 |
Unabhängig von der Anrufung des Things bestand bei schweren Taten (Tötung etc.) auch noch die Möglichkeit der Blutrache durch die übrigen Sippengenossen.13) Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass hier eine aktive, notwendige Öffentlichkeit im Verfahren bestand. | 10 |
Im Gegensatz dazu steht der moderne Begriff der Öffentlichkeit der Gerichte. Dieser geht von einer Trennung von Gericht und Publikum aus, d.h. die Öffentlichkeit ist hier passiv und fakultativ.14) Die umfassende Öffentlichkeit in germanischer Zeit umfaßte weiter auch nicht nur die Urteilsfindung sondern erstreckte sich teilweise (bei schweren Fällen von allgemeinem Interesse) noch darüber hinaus auf eine öffentliche Vollstreckung durch die Gesamtheit15)selbst. | 11 |
2) Zeit nach der Völkerwanderung (375-568 n. Ch.16)) d.h. nach 568 n.Ch. |
In dieser Zeit entwickelte sich nun allmählich das Stammeskönigtum und der König wurde oberster Gerichtsherr. Jetzt wurden zunehmend Zwischenglieder zwischen Gerichtshalter und Volk geschoben. Dies geschah in Form einer Art Schöffen. Damit wandelte sich die Rolle der Gemeindemitglieder von Rechtsfindern zur passiven Menge.17) | 12 |
Karl der Große (768-81418)) führte die Schöffenverfassung ein, in der die Thingpflicht der Untertanen auf wenige "echte Thinge beschränkt wurde. Die Gerichtsstätte insgesamt blieb jedoch öffentlich, d.h. jeder Freie hatte Zutritt, aber eben nur als passiver Zuhörer.19) | 13 |
3) Mittelalter |
Rein äußerlich, d.h. in seiner Form, ruhte der Strafprozeß auf den alten Grundlagen. Der innere Gehalt der Verfahrensöffentlichkeit ging jedoch durch die Sonderstellung der Schöffen zunehmend verloren.20) | 14 |
Ab dem 13. Jahrhundert führten Veränderungen der Sozialstruktur und die zunehmende Komplexität ständischer Gliederungen den allmählichen Untergang des öffentlichen Rechtsganges herbei.21) Dabei gehörte der um 1275 abgefaßte Schwabenspiegel zu den frühesten Quellen eines nichtöffentlichen Strafverfahrens.22) | 15 |
Es entstanden eine Vielzahl von Gerichten wie Fürsten-, Stadt-, Dorf-, Markt-, und geistliche Gerichte sowie vielen anderen mehr.23) Hierbei entwickelte sich die Gewohnheit, nur eigenen Gruppenangehörigen, die auch stimm- und zeugnisfähig waren, den Zutritt zu gestatten.24) Damit, wie auch durch die kaiserlichen Privilegien, waren die Ansätze zur Beschränkung der Öffentlichkeit gegeben. | 16 |
Die zunehmende Macht der Territorialherren ertrotzte nicht selten das Recht, " jr gericht mit beschlossenener thür (zu) halten ".25) Folgend bürgerte es sich auch zunehmend ein, die Gerichtsverhandlung nicht mehr im Freien, sondern in speziellen Gebäuden (Rathäusern oder Thinghäusern) stattfinden zu lassen, wodurch, auch wenn zunächst Fenster und Türen offen waren, doch eine (Scheide-) Wand zwischen Gericht und Volk geschoben war.26) | 17 |
Das Vordringen des geheimen Rechtsganges wurde aber vor allem durch die Entwicklung des inquisitorischen Verfahrens begünstigt.27) Die wirren politischen und sozialen Verhältnisse hatten einen Anstieg der Kriminalität zur Folge. Diesem Umstand war mit den alten Verfahren nicht mehr beizukommen. Die Wahrung des Landfriedens erforderte amtliche Initiative bei der Verbrechensverfolgung und der Ermittlung der materiellen Wahrheit.28) | 18 |
Im Inquisitionsprozess29) fanden die entscheidenden Ermittlungen und vor allem die Vernehmung des Beschuldigten (wozu auch u.U. die Folter gehörte) in verschlossenen Amtsstuben und Gefängnissen statt.30) War ein Geständnis erlangt, fand noch ein öffentlicher gerichtlicher Termin, der sogenannte "endliche Reichstag statt. In diesem Termin wurde dann das Urteil gesprochen.31) Sein praktischer Gehalt war jedoch nur der eines Schauspiels mit dem die Obrigkeit eine abschreckende Wirkung auf das Volk ausüben wollte.32) Somit hatte dies nur eine formale Bedeutung, so dass hier von Öffentlichkeit nicht mehr gesprochen werden kann. | 19 |
Das hier angewandte, weitgehend formlose Verfahren fand durch die Übernahme des kanonischen-italienischen Prozeßrechts seine wesentliche Ausgestaltung. Dabei brachte die Rezeption des fremden Rechts durch den Umstand, dass die mitwirkenden Schöffen meist nicht in der Lage waren die Verfahrensordnung zu verstehen und durch die Schriftlichkeit des Verfahrens - Viele konnten nicht lesen. - weitere öffentlichkeitsfeindliche Elemente ins Verfahren ein.33) | 20 |
Durch das Aufkommen des Inquisitionsprozesses war es vielfach zu einem verworrenen Nebeneinander von alten, im Niedergang begriffenen Verfahrensformen und neuen Verfahrensweisen gekommen. Dadurch wurde der "Gesetzgeber zum Handeln veranlaßt. Da in dieser Zeit staatsorganisatorisch die deutschen Territorialstaaten existierten34) wurde auch auf dieser Ebene für die einzelnen Gebiete nach Lösungen gesucht. | 21 |
Grundlegend für die Rechtsentwicklung war hier die Bamberger Halsgerichtsordnung (1507) die sogenannte "Bambergensis, aus der viele Bestimmungen fast unverändert in die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (CCC), d.h. die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. übernommen wurden.35) In der Bambergensis (dort Art. 81, 84 (nichtöffentliche Vernehmung der Zeugen), 91,94 (geheime Beratung), Art. 95 (lediglich Scheinverhandlung nach gefundenem Urteil)), wie in der CCC (dort entsprechende Regelungen in Art, 70, 81, 82), war das Verfahren in seinen wesentlichen Teilen heimlich, d.h. nichtöffentlich ausgestaltet. | 22 |
Mit dem Aufkommen des politischen Absolutismus vollzog sich die völlige Bürokratisierung der Strafrechts- pflege. Die Urteilsverkündung im öffentlichen Rahmen stelle nur noch eine leere Form dar und selbst dieser letzte Rest von Öffentlichkeit verschwand nach und nach im Zeitalter des Absolutismus.36) | 23 |
Lediglich in einzelnen Territorien wie z.B. Hessen fand noch ein teilweise öffentlicher Rechtsgang nach den peinlichen Gerichtsordnungen von Darmstatt und Kassel (1726 bzw. 1748) statt.37) | 24 |
4) Zeit der Aufklärung (17./18 Jh.)38) und der französischen Revolution (1789-1792)39) |
Der Entscheidende Anstoß zur Wiedereinführung des öffentlichen Verfahrens ging von der Aufklärung aus. Diese hatte ihre Grundlage in der Vorstellung, dass die Vernunft das Wesen des Menschen darstelle, wodurch alle Menschen gleich seien und die Vernunft als einzige und letzte Instanz befähigt sei über Wahrheit und Falschheit zu entscheiden und die in ihrer Gesamtheit vernünftig angelegte Welt zu erkennen.40) Diese neuen Ideen wirkten sich auch nachhaltig im Bereich der Strafrechtspflege aus indem sie eine weitgehende Säkularisierung und Humanisierung des Rechtslebens in Gang setzten. | 25 |
Im Gegensatz zum materiellen Strafrecht, wo erhebliche Fortschritte erzielt wurden, gelang im Strafprozeß zunächst als bedeutender Fortschritt nur die allmähliche Beseitigung der Folter. Jedoch waren in den Denkansätzen der neuen Bewegung die geistigen Grundlagen einer Verfahrensreform gelegt. Dies vor allem in den Werken von Montesquieu (Del-esprit des lois, 1748), Voltaire und Beccaria (Dei delitti e delle pene, 1764). | 26 |
Insbesondere Beccaria forderte als erster unumwunden die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung. Diese rechtspolitische Forderung fand auch in den deutschen Gebieten lebhaften Widerhall.41) Auch erschienen um 1778/79 Übersetzungen von Schriften ausländischer, vor allem französischer Autoren wie Voltaire, de la Croix und Severin, in welchen ebenfalls die Publizität der Verhandlung gefordert und verfochten wurde.42) | 27 |
Die erste ausführliche Erörterung der Gerichtsöffentlichkeit und ihrer Vor- und Nachteile stammt von Ernst Ferdinant Klein, der später dann den strafrechtlichen Teil des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 ( ALR )43) verfaßte. Im Anschluß hieran wurden die Stimmen für ein öffentliches Verfahren immer lauter. Jetzt setzte man sich auch intensiv mit dem Für und Wider der Öffentlichkeit auseinander. Den Bedenken, die Richter seien dann der Rache der Angehörigen ausgesetzt wurde entgegengehalten, dass ein gerechter Richter der Ehrerbietung des Volkes sicher sein könne. Auch Argumente wie insbesondere, dass die Öffentlichkeit die Gewissenhaftigkeit der Richter erhöhe, dass das Vertrauen des Volkes in die Gerichte gestärkt und dass das Recht so öffentlich bekannt gemacht würde, wurden angeführt. | 28 |
Weiterhin beeinflußte auch die französische Revolution (1789-1792) das Voranschreiten der Öffentlichkeit des Prozesses in den deutschen Gebieten. In Frankreich war schon 1789 die Gerichtsöffentlichkeit eingeführt worden.44) Auch Carl Gottlieb Svarez (1746-1798), der Schöpfer des Allgemeinen Preußischen Landrechts45) wurde von den französischen Reformideen beeinflußt. 1796 entwarf er eine neue Verfahrensordnung, in der die Hauptverhandlung öffentlich ausgestaltet war.46) | 29 |
Schließlich räumte auch Immanuel Kant (1724-1804) gegen Ende des Jahrhunderts der Öffentlichkeit in seiner Staatstheorie hohen Rang ein.47) Solange freilich die Staatspraxis des Absolutismus dominierte, konnten diese Reformgedanken keinen legislatorischen Niederschlag finden.48) | 30 |
Die Entwicklung in deutschen Gebieten kann nun aber - schon wegen der damaligen Staatsgebietsverschiebungen - nicht völlig losgelöst von der Entwicklung in Frankreich betrachtet werden. Auch in Frankreich herrschte seit ca. dem 13. Jahrhundert bis Mitte des 18 Jh. der geheime Inquisitionsprozeß.49) | 31 |
Montesquieu lenkte in Frankreich schließlich das Interesse auf die englischen Rechtsverhältnisse, wo der Parteiprozeß mit öffentlicher, mündlicher Verhandlung erhalten geblieben war.50) | 32 |
Die Reformbewegung im Bereich des Strafrechts wurde in der Folge nun auch in Frankreich insbesondere durch Rousseau, Voltaire und durch die Werke des Italieners Beccaria vorangetrieben. | 33 |
1789 wurde der Nationalversammlung ein "Bericht über die künftige Organisation der rechtsprechenden Gewalt vorgetragen. In diesem wurde als wichtigster Grund für die Öffentlichkeit des Verfahrens die Kontrolle der Richter durch das Publikum angeführt.51) | 34 |
Erneut proklamiert wurde die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung dann im Gerichtsverfassungsgesetz von 1790. Die Voruntersuchung dagegen blieb heimlich. Schließlich wurde die Gerichtsöffentlichkeit auch als wichtige Errungenschaft der Französischen Revolution in die Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793 aufgenommen.52) | 35 |
Im Gefolge der siegreichen französischen Armeen gelangte das Prinzip der Öffentlichkeit des Rechtsganges ab 1798 nun auch in die deutschen Gebiete. Neben den von Frankreich annektierten Gebieten übernahmen auch die Rheinstaaten Westfahlen, Berg und Frankfurt das öffentliche Prozeßprinzip als Bestandteil ihres Staatslebens. | 36 |
Auch nach den Freiheitskriegen (1813-1815) und dem Sturz Napoleons konnte sich das öffentliche Verfahren in den linksrheinischen Gebieten behaupten.53) | 37 |
5) Zeit der Restauration und Revolution (1815-184754)) |
Wie gezeigt, war die Öffentlichkeit des Verfahrens und insbesondere des Strafverfahrens zunehmend zur politischen Frage geworden. Hierbei steht der politische Liberalismus und Konstitutionalismus für ein öffentliches Verfahren, dem die Restauration und Reaktion gegenübersteht. | 38 |
In diesem gesellschaftlichen Spannungsverhältnis wurde das Jahr 1819 zu einem Meilenstein in der Entwicklung der Öffentlichkeit des Verfahrens. Mit ihren Verfassungen stellten Bayern (1818) Baden (1818) und Württemberg (1819) den Höhepunkt des deutschen Frühkonstitutionalismus dar. | 39 |
In diesen Verfassungen wurde versucht monarchistische Herrschaftsgewalt mit bürgerlichen Freiheits- und Mitbestimmungsrechten zu vereinen. Diese Verfassungen sahen jeweils für die 2. Kammer die Öffentlichkeit der Beratung vor. Damit war der Grundstock dafür gelegt, dass dann auch die Ausführung der dort beschlossenen Gesetze öffentlich erfolgen sollte.55) | 40 |
Soweit, die Öffentlichkeit des Strafverfahrens einzuführen, war man jedoch noch nicht gegangen. Auch blieben derartige Bemühungen angesichts der einsetzenden Restauration erfolglos, so dass es in den 20-iger Jahren stiller um die Bemühungen der Einführung der Öffentlichkeit wurde.56) | 41 |
Die Julirevolution von 183057) in Frankreich brachte denn auch die politischen Auseinandersetzungen zu diesem Thema in den deutschen Gebieten wieder in Gang.58) Zu dieser Zeit verfaßte auch Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833) seine "Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, das vielfach als sein gelungenstes Werk angesehen wird. In diesem Werk sind die grundlegenden Leitlinien der dann einsetzenden Prozeßreform, insbesondere aber die Öffentlichkeit des Verfahrens vorweggenommen.59) | 42 |
Seit 1835 wurde insbesondere in Baden, Württemberg und in Hessen-Darmstadt die Umgestaltung des Strafverfahrens vorangetrieben. Aufgrund dieser Bemühungen erhielten Baden und Württemberg noch vor der Revolution von 1848 einen im Ansatz öffentlichen Rechtsgang.60) | 43 |
Auch in Preußen kam Einiges in Bewegung. Friedrich Carl von Savigny (1779-186161)) wurde 1842 durch Friedrich Wilhelm IV. zum Staats- und Justizminister ernannt, wobei ihm auch das Gebiet der Gesetzesrevision übertragen wurde.62) Er sollte die Frage der Öffentlichkeit des Verfahrens zu einer definitiven Entscheidung bringen. | 44 |
Der Landtag der rheinischen Provinz empfahl 1843 der Regierung die öffentliche, mündliche Verhandlung auch in rechtsrheinischen Teilen Preußens einzuführen. 1846 erging dann ein Gesetz das für die Berliner Gerichte eine öffentliche Schlußverhandlung vorschrieb.63) Somit nahm die Ersetzung des Inquisitionsprozeßes durch den reformierten Strafprozeß ihren Lauf.64) | 45 |
6) Revolution von 1848 / Paulskirche |
Die Revolution von 1848/49 führte zu einer beschleunigten Rezeption der Öffentlichkeit des Rechtsganges in die Prozeßordnungen fast aller deutscher Staaten. | 46 |
Am 5. März 1848 kamen in Heidelberg 51 Vertreter liberaler und demokratischer Gruppen zusammen um die Wahl einer gesamtdeutschen Volksvertretung vorzubereiten. Diese setzte eine Siebener-Kommission ein, die sich mit den Grundlagen einer nationalen deutschen Verfassung beschäftigen sollte.65) Zu den wesentlichen Freiheits- und Bürgerrechten rechnete man dabei auch die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Justiz.66) | 47 |
Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. zusammen.67) Ohne die Öffentlichkeit der Verhandlung in Frage zu stellen, beschloß die Nationalversammlung den Grundrechtsteil. Als § 178 ging hierbei die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in die Reichsverfassung vom 28. März 1849 ein.68) | 48 |
Das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren soll nun überall den geheimen und schriftlichen Prozeß ersetzen. In Strafsachen gilt nun nicht mehr das Inquisitionsverfahren.69) | 49 |
Obgleich einige Staaten (vor allem Österreich, Preußen und Bayern) die Verbindlichkeit des Grundgesetzes nicht anerkannten, hatten schon einige Länder wie z.B. Bayern, Preußen, Württemberg und Hannover in ihren Verfassungen den Grundsatz der Öffentlichkeit proklamiert und eine entsprechende Umbildung des Strafverfahrens eingeleitet.70) | 50 |
7) Zeit der Partikulargesetzgebung nach 1848/49 |
Nach der Wahl Friedrich Wilhelm IV. durch die Nationalversammlung und dessen Ablehnung der Kaiserkrone scheiterte das Verfassungswerk der Frankfurter Nationalversammlung. Die meisten Staaten, darunter Österreich und Preußen lehnten die Verfassung ab und zogen ihre Abgeordneten aus der Nationalversammlung zurück. Damit war die Nationalversammlung gescheitert.71) | 51 |
Gleichwohl setzte sich in der einsetzenden Partikulargesetzgebung der einzelnen Staaten das neue Verfahren der Öffentlichkeit durch. Zwar war nun die Revolution beendet und die siegreichen reaktionären Kräfte forderten die Beseitigung der umstürzlerischen Einrichtungen. Im Grundsatz aber blieb auch während dieser Zeit das Öffentlichkeitsprinzip erhalten.72) | 52 |
In der Folgezeit gewann dann der mündlich-öffentliche Anklageprozeß in fast ganz Deutschland die Oberhand. Somit hatte der reformierte deutsche Strafprozeß für die Hauptverhandlung durchweg die Öffentlichkeit akzeptiert. | 53 |
8) Das Öffentlichkeitsprinzip im Reichsstrafprozeß73) |
Nachdem 1866 ein Bündnis zwischen Preußen und 17 norddeutschen Staaten und somit der Norddeutsche Bund geschaffen worden war74), verloren dessen Mitgliedsstaaten einen erheblichen Teil ihrer Gesetzgebungsgewalt. So auch bzgl. des gerichtlichen Verfahrens. Dieses lag nunmehr beim Bund, der aber das Gerichtsverfahren diesbzgl. nicht in der Strafprozeßordnung, sondern im Gerichtsverfassungsgesetz regelte.75) | 54 |
Noch bevor hier größere gesetzgeberische Aktivitäten entfaltet werden konnten, traten dem Bund die süddeutschen Staaten bei und im Jahre 1871 entstand das Deutsche Reich.76) | 55 |
Dieses hatte gem. Art. 4 Ziff. 13 Bismarksche Reichsverfassung von 1871, die Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren auch in Strafsachen. Ein im Jahre 1874 dem Reichstag vorgelegter Entwurf sah die öffentliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor. Dies wurde dann auch 1876 so endgültig in Form des Gerichtsverfassungsgesetzes angenommen. | 56 |
Zusammen mit der Strafprozeßordnung trat das Gerichtsverfassungsgesetz dann am 1. Oktober 1879 in Kraft. Hierin war dann in den §§ 170-176 GVG v. 1879 die Gerichtsöffentlichkeit verankert (vergl. § 1 EG GVG und § 1 EG StPO).77) Diese beiden Gesetze haben dem deutschen Gerichtswesen und Prozeßrecht im wesentlichen ihre heutige Form gegeben78) und gelten, zwar seit ihrem Erlaß durch zahlreiche Novellierungen geändert und reformiert, noch heute.79) | 57 |
9) Weimarer Republik (1919-1933) |
Nachdem im Jahre 1918 die Novemberrevolution zum Zusammenbruch des Kaiserreiches geführt hatte, wurde am 11.08.1919 die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet.80) | 58 |
Dort war in Art. 7 Ziff. 2 und 3 die Gesetzgebungskompetenz für das Straf- und das Verfahrensrecht dem Reich als konkurrierende Gesetzgebung zugewiesen. Zu Änderungen im Bereich des Öffentlichkeitsgrundsatzes führte dies nicht. | 59 |
10) 1933-1945 |
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nahmen Recht und Richter, Gesetzgeber und Normanwender, Wissenschaftler und Praktiker meist aktiv an der Pervertierung des Rechts teil und stabilisierten so den Unrechtsstaat.81) | 60 |
Durch die Machthaber des nationalsozialistischen Staates wurden die Errungenschaften des Rechtsstaates allmählich abgebaut. Nach einer Änderung des StGB konnte z.B. auch bestraft werden, wer nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes oder nach dem gesunden Volksempfinden die Bestrafung verdiente.82) | 61 |
Auch was den Strafprozeß anbetraf fanden erhebliche Veränderungen statt. So erhielt Hitler z.B. die Macht, jedes rechtskräftige Urteil wieder durch seinen Einspruch zu beseitigen.83) | 62 |
Die Befugnisse der Polizei, die durch die Strafprozeßordnung entscheidend eingeschränkt waren, wurden durch Spezialgesetze wie z.B. die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28.02.1933 wieder ausgeweitet.84) Kraft dieses Gesetzes konnten z.B. mißliebige Personen jahrelang in Konzentrationslagern gefangen gehalten werden. | 63 |
Die Folter war faktisch wieder möglich. | 64 |
Ein besonders dunkles Kapitel des Strafrechts dieser Zeit stellten aber die Sondergerichte, der Volksgerichtshof und die Kriegsgerichte dar.85) Der Volksgerichtshof unter seinem Präsidenten Roland Freisler ließ damals alle Traditionen rechtsstaatlicher Rechtsprechung hinter sich.86) Insbesondere verwilderte aber auch der Strafprozeß unter der nationalsozialistischen Diktatur.87) | 65 |
Von dem Gerichtsverfassungs-, Verfahrens- und Richterrecht aus Zeiten des Bismarkreiches und der Weimarer Republik blieben in der Endphase der Hitlerdiktatur nur wenige Stücke unverändert. Die Justiz war ausgeschaltet wo sie den NS-Machthabern lästig war. | 66 |
Neben der "offiziellen Justiz lief eine gewaltige Inquisitions- und Vernichtungsmaschinerie der geheimen Staatspolizei.88) Dies führte dazu, dass Millionen Menschen der ordentlichen Strafjustiz überhaupt nicht mehr unterstanden. | 67 |
Innerhalb der durch Verodnungen und Sondergesetze so eingeschränkten Zuständigkeiten der ordentlichen Strafjustiz galt kein eigentliches Verfahren mehr, sondern eine gefährliche Mehrgleisigkeit. Neben den Verfahren der StPO standen Verfahren bei den Sondergerichten und nahezu willkürliche Prozesse gegen Polen und Juden (z.B. nach der Strafrechtspflegeverordnung von 1941).89) | 68 |
Nach alle dem kann hier von Öffentlichkeit nur noch teilweise, nämlich in den nicht durch Sonderregeln erfaßten Bereichen gesprochen werden. Auch war die Öffentlichkeit hier insgesamt wohl faktisch nur noch als Formalie einzustufen. | 69 |
11) Öffentlichkeitsgrundsatz unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 |
Nach dem totalen Zusammenbruch und dem Ende des Krieges, galt es sich auf das Wesen des Rechts zu besinnen.90) | 70 |
Im GG für die BRD ist nun in Art. 74 I Nr. 1 dem Bund in Form der konkurrierenden Gesetzgebung die Materie des Straf- sowie auch des Gerichtsverfassungsrechts zugewiesen. | 71 |
Die Öffentlichkeitsmaxime ist nun zwar nicht im GG selbst verankert (anders z.B. in Art. 90.BayLVerf) und ist somit kein Verfassungssatz.91) Vielmehr findet sich ihre Normierung in § 169 GVG. Jedoch gewährleistet das Rechtsstaatsprinzip im Zusammenhang mit Art. 2 I und 1 I GG dem Beschuldigten das Recht auf ein faires Verfahren.92) | 72 |
Das Öffentlichkeitsprinzip wiederum ist, in den Grenzen des § 169 S. 2 GVG, eine grundlegende Einrichtung des Rechtsstaates und Prozeßmaxime für die Hauptverhandlung.93) Auch der BGH zählt dieses Prinzip "zu den Grundlagen des Strafverfahrens94) und zu den "kennzeichnenden Merkmalen der modernen Rechtsprechung überhaupt.95) | 73 |
Der Durchsetzung dieses Prinzips dient hierbei § 338 Nr. 6 StPO, nach dem die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit einen absoluten Revisionsgrund darstellt.96) Somit hat die Öffentlichkeit des Verfahrens in § 169 GVG als fester Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips des GG (Art. 28 I, 20 III) eine feste Verankerung in der derzeitigen Verfassungs- und Prozeßlage der heutigen BRD gefunden. | 74 |
12) EMRK |
Eine weitere Verankerung des Öffentlichkeitsgrundsatzes findet sich in Art. 6 I der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04. November 1950 (sogenannte Europäische Menschenrechtskonvention, kurz EMRK). | 75 |
Die EMRK stellt einen völkerrechtlichen Vertrag dar, dem inzwischen alle Mitgliedsstaaten des Europarates beigetreten sind.97) Die Ratifikation durch die BRD erfolgte durch Gesetz vom 07.08.1952 durch das die MRK am 03.09.1953 in Kraft getreten ist.98) | 76 |
Die MRK errichtet ein europäisches Menschenrechtsschutzsystem mit einem Menschenrechtskatalog zu dem in Art. 6 auch das Recht auf einen fairen Prozeß und darin enthalten das Öffentlichkeitsprinzip gehört. Auch sind Organe zur Überprüfung der Verletzung dieser Menschenrechte eingerichtet worden.99) | 77 |
Vom Geltungsbereich betrachtet ist die MRK nach fast allgemeiner Ansicht unmittelbar geltendes, innerstaatliches Recht vom Rang eines einfachen Bundesgesetzes.100) Durch die Aufnahme der MRK in das Recht der BRD ist das mit ihr übereinstimmende Recht (also etwa §§ 169 ff GVG) nicht auf- oder abgelöst, sondern nur gefestigt und mit übernationalem Rechtsschutz versehen worden (vergl. dazu Art 25 der MRK).101) Auch sind bei der Auslegung bestehender Gesetze die Wertentscheidungen der MRK stets zu berücksichtigen.102) | 78 |
Somit hat also das Öffentlichkeitsprinzip auch durch die Ratifikation der MRK in das geltende System der BRD eine weitere Ausprägung und Verfestigung erfahren. | 79 |
C) Fazit und Ausblick |
In der Vergangenheit war das Prinzip der Öffentlichkeit des Strafverfahrens einigen Wandlungen unterworfen. | 80 |
Von der aktiven Öffentlichkeit zur Zeit der Germanen über den faktisch völlig geheimen Prozeß der Inquisitionsgerichte im Mittelalter bis zum heutigen modernen Strafprozeß mit im Grundsatz öffentlicher Hauptverhandlung hat dieses Prinzip viele der denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten durchlaufen. | 81 |
Die heutige Ausgestaltung der §§ 169 ff GVG und des Art. 6 MRK sind das Ergebnis dieser, oft von widerstreitenden Interessen absoluter Machthaber einerseits sowie der Bemühung um möglichst große Freiheitsrechte andererseits, geprägten Rechtsentwicklung. | 82 |
Bemerkenswert ist sicherlich, daß sich der Öffentlichkeitsgrundsatz nur für die Hauptverhandlung und nicht etwa auch für das Vorverfahren durchsetzen konnte. Auch hierbei wiederum waren und sind zahlreiche Ausnahmen für Teile derselben zugelassen (vergl. insbes. §§ 169,2, 170 ff GVG). | 83 |
Diese Ausnahmen charakterisieren aber gleichzeitig auch das Problem des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Die Gründe die für einen öffentlichen Prozeß sprechen sind vielfältig und von so hohem Gewicht, dass nach heutiger Auffassung eines demokratischen Rechtsstaates diese Prinzipien auch in Zukunft nicht in Frage zu stellen sein werden. | 84 |
Neben die ursprünglich im Vordergrund stehenden Aufgaben des Grundsatzes der Verhandlungsöffentlichkeit als einer Kontrolle des gesetzmäßigen Verfahrens103) der Justizorgane durch die Zuhörer als Repräsentanten der Öffentlichkeit, traten jedoch im Laufe der Zeit zunehmend andere Funktionen. | 85 |
War die Öffentlichkeit ursprünglich dazu bestimmt zu verhindern, dass "die gesamte Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen in ein Dunkel gehüllt und dadurch Mißdeutungen und Argwohn ausgesetzt wird 104)so tritt in neuerer Zeit die Verfahrensöffentlichkeit zunehmend als Quelle der Information der Allgemeinheit in den Vordergrund.105) | 86 |
Teilweise wird die Öffentlichkeitsmaxime sogar auch schon als ganz überwiegend dem Informationsinteresse der Allgemeinheit dienend begriffen.106) Dies auch schon in dem Sinne, dass nicht der einzelne Zuhörer das Leitbild der Öffentlichkeit mehr darstellt, sondern diese Funktion vielmehr die Vertreter der Massenmedien die die Allgemeinheit informieren, übernehmen.107) Hierzu sollte jedoch beachtet werden, dass die Öffentlichkeit durch ihre Kontrolle die absolute Unabhängigkeit des Gerichts sichern soll. | 87 |
Sie soll aber nicht ihrerseits Einfluß auf die Urteilsfindung ausüben und damit die Unabhängigkeit des Gerichts genauso antasten, wie es, aus freilich anderen Gründen beim Fehlen der Öffentlichkeit geschehen kann.108) | 88 |
Eben dies ist jedoch die Gefahr, die manche neueren Erscheinungsformen der Öffentlichkeit, im überwiegenden Sinne begriffen als informationsbedürftige, aber oft sich darstellend als informationssüchtige Öffentlichkeit, mit sich bringt. Man denke dabei aus jüngerer Vergangenheit nur an amerikanische Verhältnisse und dort insbesondere etwa an den Fall "O .J. Simpson. | 89 |
Man möge sich selber fragen, ob man als Richter, Staatsanwalt, Strafverteidiger, Gutachter, Zeuge oder gar Angeklagter bei ständiger Präsenz der Massenmedien völlig immun gegen die sich hieraus ergebenden Folgen wäre. Könnte man als Verteidiger oder Staatsanwalt nicht versucht sein, Werbung in eigener Sache zu machen? Würde es einem als Richter völlig unberührt lassen zu wissen, dass in einem Prozeß von allgemeinem Interesse z.B. gegen Prominente Angeklagte oder bei schweren Straftaten jede Äußerung kritisch begutachtet werden würde? Könnte man, egal in welcher Rolle, nicht versucht sein, die öffentliche Meinung in einer für sich positiven Weise zu beeinflussen um auf diesem Wege Druck auf die anderen Prozeßbeteiligten auszuüben? Wohl niemand kann behaupten er wäre frei von solchen Erwägungen. | 90 |
Angesichts solcher Entwicklungen wird hier teilweise schon von einer "Pervertierung der Öffentlichkeit vom Kontrollorgan zum Bedrohungspotential gesprochen.109) Somit sind die Abstriche die sich das Öffentlichkeitsprinzip etwa in §§ 169 S. 2, 171 b, 172 GVG und § 48 JGG gefallen lassen muß110) durchaus gerechtfertigt, ja sogar notwedig. Auch Art. 6 MRK sieht entsprechende Beschränkungsmöglichkeiten vor. | 91 |
Die Schöpfer der ursprünglichen Verfahrensordnungen, d.h. des GVG und der StPO hätten es sich wohl nicht träumen lassen, was moderne Massenmedien imstande sind zu leisten, aber auch anzurichten. | 92 |
Eine uneingeschränkte, wenn auch wahrheitsgemäße Berichterstattung, kann zu schweren Eingriffen, namentlich beim Angeklagten, in sein aus Art. 1, 2 GG sich ergebendes Persönlichkeitsrecht führen.111) Dies wird dann unabhängig von einem etwa folgenden Freispruch geschehen. Bei einer erfolgenden Verurteilung wäre eine spätere Resozialisierung dann sicherlich erheblich erschwert.112) | 93 |
Dieses Spannungsverhältnis von zum Teil sicherlich berechtigtem Informationsbedürfnis der Allgemeinheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Angeklagten, aber auch der sonstigen Prozeßbeteiligten in Einklang zu bringen, wird sicherlich eine der schwierigsten praktischen, aber auch legislativen Aufgaben der Zukunft in diesem Bereich sein. | 94 |
Ansätze hierzu wurden z.B. durch das Opferschutzgesetz gemacht, durch das die Persönlichkeitsrechte im Vergleich zu den gegenläufigen Belangen des Öffentlichkeitsgrundsatzes gestärkt wurden. Insoweit unterliegt der Ausschluß der Öffentlichkeit hier maßgeblich auch der Disposition des Betroffenen113) (vgl. dazu § 171 b II und § 171 b I 2 GVG). | 95 |
Zusammenfassend hat die Geschichte gezeigt, dass das Öffentlichkeitsprinzip auch stark von der jeweils vorherrschenden politischen Richtung aber auch vom sozialen Umfeld abhängig war und ist. | 96 |
Somit wird dieses Prinzip auch in Zukunft mit dem zwangsläufigem Fortschreiten und der somit bedingten Änderung dieser Verhältnisse einem Wandel unterzogen sein, auch wenn dieser nur darin besteht, das Bestehende zu überdenken. | 97 |
Es wird Aufgabe der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft sein auch in diesem Bereich einen den jeweiligen Verhältnissen entsprechenden praktischen Ausgleich der betroffenen Interessen herbeizuführen. | 98 |
Fußnoten: 1 Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, Kommentar, 41. Auflage, München 1993 sowie 44 Auflage, München 1999, § 6 MRK Rnr. 6. 2 vergl. Ranft, Strafprozeßrecht 1991, S. 324 / Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1), § 169 GVG Rnr. 3/ Raddatz, Günter/Müller, Frank, Strafprozeßordnung, 9. Auflage, Münster1999, S. 14. 3 Schröder, Rechtsgeschichte, 5. Auflage, Münster 2000, S. 14. 4 Gmür, Rudolf, Grundriß der deutschen Rechtsgeschichte, 5. Auflage, Berlin 1992 Rnr. 26. 5 Schröder (wie Anm. 3), S. 14 / Gmür, a.a.O. mit Hinweis auf Kroeschell, Karl, Deutsche Rechtsgeschichte, 7. Auflage 1985, Bd. I S. 196 ff. 6 Schröder (wie Anm. 3), S. 14. 7 Kern, Fritz, Recht und Verfassung im Mittelalter, Tübingen 1965, S. 25; Vgl. aber auch Köbler, Gerhard, Das Recht im Frühen Mittelalter, Köln - Wien 1971, S. 223 ff. 8 Alber, Peter Paul, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, Berlin 1974, S. 12. 9 Schröder (wie Anm. 3), S. 14. 10 Alber (wie Anm. 8), S. 162. 11 Conrad, Hermann, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Auflage, Karlsruhe 1962, Bd. I, S. 28. 12 Schröder (wie Anm. 3), S. 15. 13 Schröder (wie Anm. 3), S. 14. 14 Schuckert, Rolf, Der Grundsatz der Volksöffentlichkeit im deutschen Zivil- und Strafprozeßrecht, Freibung 1936, S. 3. 15 Conrad (wie Anm. 11), Bd. I S. 30. 16 Jahresangaben diesbzgl. aus DTV-Atlas zur Weltgeschichte in 2 Bänden, Bd. 1, 15. Auflage, München 1979, S. 115. 17 Conrad (wie Anm. 11), Bd. I, S. 28. 18 DTV-Atlas , Bd. 1 (wie Anm. 16), S. 13. 19 Alber (wie Anm. 8), S. 13. 20 Alber (wie Anm. 8), S. 13. 21 Alber (wie Anm. 8), S. 14. 22 Alber (wie Anm. 8), S. 13. 23 Kern (wie Anm. 7), S. 7. 24 Alber (wie Anm. 8), S. 13. 25 Seifarth, Gerhard, Der Untergang der Öffentlichkeit im deutschen Rechtsgang, Jena 1932, S. 3f. 26 Schuckert (wie Anm. 14), S. 7. 27 Alber (wie Anm. 8), S. 14. 28 Schmidt, Eberhard: Inquisitionsprozess und Rezeption in: FS für H. Sieber Bd. I S. 97- 81 (117) / Eisenhardt; Ulrich: Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Auflage, München 1999, Rnr. 255. 29 vgl. dazu allg. Conrad (wie Anm. 11), Bd. I S. 413 ff. 30 Eisenhardt (wie Anm. 28) a.a.O. 31 Schmidt, Eberhard: Einführung in die Geschichte der dt. Strafrechtspflege, S. 99 f. 32 Gmür (wie Anm. 4), Rnr. 223; vgl. auch Mitteis, Heinrich/Liberich, Heinz: Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Auflage, München 1992, S. 307. 33 E. Kern (wie Anm. 7), S. 22. 34 DTV-Atlas (wie Anm. 16), S. 185. 35 Alber (wie Anm. 8), S. 16. 36 Alber (wie Anm. 8), S. 162. 37 Seifarth (wie Anm. 25), S. 22 ff. 38 DTV-Atlas (wie Anm. 16), S. 257 / dtv-Brockhaus Lexikon in 20 Bänden, Wiesbaden 1986, Bd. I, S. 333. 39 DTV-Atlas (wie Anm. 16), Bd. II S. 19. 40 dtv-Brockhaus a.a.O. 41 Alber (wie Anm. 8) S. 18/19; vgl. auch Eisenhardt (wie Anm. 28), Rnr. 359. 42 Alber (wie Anm. 8), S. 19 und 21. 43 Schröder (wie Anm. 3), S. 80. 44 Alber (wie Anm. 8), S. 22. 45 Kleinheyer, Gerd/Schröder, Jan: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 4. Auflage, Heidelberg 1996, S. 289 f. 46 Wolf, Erik: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auflage, Tübingen 1963, S 457. 47 Kant, Immanuel: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. von Vorländer, Karl, Hamburg 1964, S.163. 48 Alber (wie Anm. 8), S. 24. 49 Alber (wie Anm. 8), S. 25. 50 Alber (wie Anm. 8), S. 16. 51 Alber (wie Anm. 8), S. 27. 52 Alber (wie Anm. 8), S. 31. 53 Alber (wie Anm. 8), S. 163/164. 54 DTV Atlas (wie Anm. 16), Bd II S. 47. 55 vergl. für Bayern § 167, für Baden § 78 der betr. Verfassung und insges. Alber (wie Anm. 8). S. 69. 56 Alber (wie Anm. 8), S. 70. 57 DTV-Atlas (wie Anm. 16), Bd. II S. 49. 58 Alber (wie Anm. 8), a.a.O. 59 Kleinheyer/Schröder (wie Anm. 45), S. 82 ff. ( 86 ). 60 vgl. Rüping, Hinrich: Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 3. Auflage 1998, S. 85. 61 Kleinheyer/Schröder (wie Anm. 45), S. 239 ff. 62 a.a.O. S.240 f. 63 Alber (wie Anm. 8) S. 73. / vgl. auch Rüping (wie Anm. 50), a.a.O. 64 Rüping (wie Anm. 50), S. 83. 65 vgl. dazu Laufs, Adolf: Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage, Berlin - New York 1996, S. 211 ff. 66 vgl. Roske, Rudolf: Die Entwicklung der Grundrechte des deutschen Volkes, Greifswald 1910, S. 26 - 29. 67 DTV-Atlas-Geschichte (wie Anm. 16), Bd. II S. 57. 68 vgl. § 178 der Paulskirchenverfassung ( in : Alle deutschen Verfassungen, Goldmann Gesetze, 1. Aufl. 1985 / Eisenhardt (wie Anm. 28) Rnr. 360. 69 Laufs (wie Anm. 65) a.a.O. S.224/225. 70 Alber (wie Anm. 8) S. 147. 71 DTV-Brockhaus (wie Anm. 38), Bd. II S. 66/67. 72 Alber (wie Anm. 8) S. 152/153. 73 vgl. grds., zu den Verfassungsgebieten dieser Zeit den Anhang in o.g. Goldmann Gesetzestext S. 498 ff. und DTV-Atlas-.Geschichte (wie Anm. 16), Bd. II S. 57 ff. 74 DTV-Brockhaus (wie Anm. 38), Bd. 13 S. 102. 75 Alber (wie Anm. 8) S. 158. 76 DTV-Atlas-Geschichte (wie Anm. 16), Bd. II S. 75. 77 Alber (wie Anm. 8) S. 160. 78 Kroeschell (wie Anm. 5), S. 33. 79 DTV-Brockhaus (wie Anm. 38), Bd. 17, S. 295. 80 a.a.O. Bd. 19 S. 332/333. 81 Schröder (wie Anm. 3), S. 158. 82 a.a.O. 83 a.a.O., S. 159. 84 a.a.O. 85 a.a.O. und a.a.O. S. 158. 86 Kroeschell (wie Anm. 5), S. 114. 87 Laufs (wie Anm. 65) S. 332. 88 Laufs (wie Anm. 65) S. 334. 89 Laufs (wie Anm. 65) a.a.O. 90 Laufs (wie Anm. 65) S. 349. 91 Karlsruher Kommentar Einl. zu § 169 GVG Rnr. 21 / vgl. auch BVerfGE 4,74 (94) 92 vgl. nur Degenhart, Christoph: Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht, 15. Auflage, Heidelberg 1999, Rnr. 584. 93 BGH St 22, 297 (301) / Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) § 169 GVG Rnr. 1 und Rnr. 46 zu § 338 StPO / auch Löwe-Rosenberg vor § 169 GVG Rnr. 2 / vgl. auch Roxin, Claus: Aktuelle Probleme der Öffentlichkeit im Strafverfahren; in FS für Peters, Karl (1974), S. 393. 94 BGHSt 1, 335. 95 BGHSt 9, 281 (282). 96 Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) § 338 Rnr. 46 / BGHSt 3, 386 (387); 7, 218 (221); zuletzt 23, 176 (178). 97 Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) MRK Vorbemerkung Rnr. 1. 98 a.a.O. 99 vgl. Schweitzer, Michael: Staatsrecht III, 7. Auflage, Heidelberg 2000, Rnr. 553 f. 100 Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) Vorbemerkung zur MRK Rnr. 3. 101 a.a.O. Rnr. 4. 102 BVerfGE 74, 358 (370) / Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) a.a.O. 103 BGHSt 27, 13 (15). 104 BGHSt 9 280; 21, 72; 22. 301; 23, 178. 105 Löwe-Rosenberg vor § 169 GVG Rnr. 2/3. 106 Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1) § 169 GVG Rnr. 1; vgl. auch Kleinknecht, Theodor: Schutz der Persönlichkeit des Angeklagten durch Ausschluß der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung; in FS für Schmidt-Leichner, Erich, München 1977; S 111 (112/113); Kübler, Friedrich: Amt und Stellung des Richters in der Gesellschaft von morgen; in: DRiZ 1969 S 379 (382); allg. Schmidthals, Herbert: Wert und Grenze der Verfahrensöffentlichkeit im Strafprozeß, Frankfurt/Main 1977. 107 Siolek, Wolfgang: Verständigung in der Hauptverhandlung, Baden-Baden 1993, S. 153. 108 Roxin (wie Anm. 93), S. 393. 109 Eser, Albin: Funktionswandel strafrechtlicher Prozeßmaximen: Auf dem Weg zur "Reprivatisierung des Strafverfahrens?; in: ZStW (104) 1992 S. 361 (375). 110 Kleinknecht/Meyer-Goßner (wie Anm. 1), § 169 GVG Rnr. 1. 111 Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO, 23. Auflage, Berlin - New York 1978, vor § 169 GVG Rnr. 3. 112 a.a.O. 113 Karlsruher Kommentar (Pfeiffer) Einleitung zum GVG RNr. 21. |
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