Artikel vom 30. Juni, 2002
© 2002 fhi
Erstveröffentlichung

Marcus Stortz (Biographie):

'Während Jünglinge und Greise zu den Fahnen eilen, wird er fahnenflüchtig'. Deserteure, deutsche Wehrmachtjustiz und die unendliche Geschichte der Rehabilitation.


A Einleitung

I Fahnenflucht in einem völkerrechtswidrigen Krieg ?

II Quellenlage

III Leitlinien der Forschungsdiskussion

B Fahnenflucht

I Wie viele Deserteure können nachgewiesen werden ?

II Rechtslage

III Die Flucht

C Der schwierige Weg zur Rehabilitation

D Ergebnisse

Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
A Einleitung

1
I Fahnenflucht in einem völkerrechtswidrigen Krieg ?

2
Eine Arbeit über Fahnenflüchtige der Wehrmacht 1939-45 stellt sich den vielfältigen, geschichtlichen und rechtshistorischen Fragen, die politische Brisanz in sich tragen. Deserteure handeln, aus welchem Grund auch immer, gegen den Anspruch des Staats, legitim seine Bürger zu den Waffen rufen zu können, und berühren somit einen "archimedischen Punkt politischer Herrschaft"1. Desertion aus einer sämtliches Völkerrecht mißachtenden Streitmacht erscheint beim ersten Blick als eine gute Tat2. Fragen nach den menschlichen Einzelschicksalen in Konfrontation mit Militärstrafrecht und -gerichten im Dienste eines Unrechtsstaats3, und Fragen nach der rechtspolitischen und strafrechtlichen Aufarbeitung der massenhaft verhängten Todesurteilen jene Militärgerichte im Lichte der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte über die Deserteure in der BRD nach 1945 haben in den letzten zwei Dekaden eine immense Anzahl von Untersuchungen hervorgebracht. Der Umgang mit diesen Fragen hat sich als schwierig erwiesen, und allzu oft sind die Bearbeitungen von eindeutig subjektiven Sichtweisen geprägt, sei es aus politischen, ideologischen oder persönlichen Gründen. Hier wird nicht zuletzt deshalb von einer ausführlichen Schilderung von Einzelfällen Abstand genommen, wenngleich einzelne exemplarische Fälle zur Sprache kommen sollen.

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Wer sich endgültig dem Dienst in der Wehrmacht durch Flucht entziehen wollte, sah sich nicht immer mit den Militärgerichten konfrontiert. Flüchtige, die Erfolg hatten, sind aber nicht Gegenstand der folgenden Untersuchung. Das Phänomen Fahnenflucht wird im folgenden aus dem Blickwinkel der Geschichte des Militärstrafrechts des II. Weltkriegs und als mögliche Widerstandshandlung betrachtet. War die Desertion Ausdruck eines wie auch immer definierten Aufbegehrens, entweder gegen das nationalsozialistische System oder auch nur eines gegen das militärische Subsystem der Gesellschaft gerichteten Protestes und Verweigerung des 'kleinen' Soldaten? Es stellen sich im Verlaufe einer solchen Untersuchung notwendigerweise Fragen nach den Militärgerichten, ihrer Urteilspraxis und der dort tätigen Richterschaft. Im übergeordneten Kontext geht es hier auch um die Bewältigung von Hinterlassenschaften der NS-Diktatur, also um ein rechts-politisches Problem des gesetzlichen Unrechts, das seit 1945 in der BRD kontrovers diskutiert wird und somit ein zentrales Problem der neueren deutschen Rechtsgeschichte darstellt4.

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II Quellenlage

5
Die Quellenlage zum Thema Fahnenflucht ist besser als allgemein vermutet wird5. Außer einer beinahe vollständigen Überlieferung von Gesetzmaterialien und Erlasse6 sind 72 388 Kriegsgerichtsakten von der Marine, wenngleich Unregelmäßigkeiten auf einen fingierten Quellenbestand hindeuten könnten, vorhanden7. Vom Heer sind 12 000 Strafsachen verschiedener Militärgerichte überliefert; von der Luftwaffe liegen nur einzelne Akten vor8. Nach der Eröffnung des 'eisernen Vorhangs' (W. R. Churchill) sind verlorengegangene Quellen des Reichskriegsgerichts für die Zeit ab 1941 in Prag aufgefunden und bearbeitet worden9. Leider sind sehr viele Urteile gar nicht oder nur unvollständig gedruckt vorhanden10. Des weiteren problematisch ist die etwas befangene Sichtweise der Urteile im Hinblick auf deren alltagsgeschichtlichen Aussagewert. Politische Motive der Desertion wurden vor den Militärrichtern sicher verschwiegen. Im welchen Umfang das geschah, muß offenbleiben. Nach der hier vertretenen Auffassung verdienen die Urteile dennoch große alltagsgeschichtliche Beachtung - auch die nach 1945 ergangenen -, weil die Sachverhaltsdarstellungen oft detailliert über den Ablauf der Flucht und Verfolgungsalltag berichteten11. Angesichts der besonderen Umstände der Fluchtsituation und einer anschließenden Gerichtsverhandlung mit Todesandrohung muß aber stets bei der Interpretation von Strafakten Vorsicht geboten sein

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Vorbehalte gelten auch für die Befragungen von Betroffenen, die den zweiten größeren Quellenkomplex zu diesem Thema bilden12. In späteren Interviews werden die aktuellen Denkmuster die Schilderung von Vergangenem in unbestimmten Maße beeinflußt haben13. Während die Aussagen vor den Militärrichtern politische Motive selten erkennen lassen, sind Aussagen nach dem Krieg mit Hinblick auf eventuelle Entschädigungs- und Anerkennungsansprüche diesbezüglich auch von zweifelhafter Glaubwürdigkeit. Im Bereich der Interviews dürfte aufgrund der fortgeschrittenen Zeit kaum eine neue Konjunktur ausbrechen. Dahingegen sind ganze Quellenkategorien noch weitestgehend von der Forschung unberücksichtigt geblieben, darunter Renten- und Entschädigungsakten sowie Selbstzeugnisse anderer Art14.

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III Leitlinien der Forschungsdiskussion

8
Wer sich bis in die achtziger Jahre mit der einschlägigen Literatur über die Wehrmachtjustiz beschäftigte, kam sich vermutlich wie in einem Garten vor, in welchem der Bock zum Gärtner gemacht worden war: Das Standardwerk zum Thema war

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eine Kollegialarbeit ehemaliger Militärrichter15. Es überrascht daher wenig, daß die Wehrmachtjustiz demnach ein Hort des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gewesen sein sollte; ein Hort der Gerechtigkeit und Fluchtburg zugleich für die angeblich von der NS-Ideologie kaum berührten, in der ordentlichen Gerichtsbarkeit unter Druck geratenen Richterschaft16. Schon in den fünfziger Jahren war jede anfängliche Kritik über das Wirken der Kriegsgerichte in der Öffentlichkeit scharf abgewiesen worden, - somit blieb das Schicksal der Fahnenflüchtigen ungeprüft. So schrieb der schon in der NS-Zeit führende Kriegsstrafrechtspezialist Schwinge im Jahr 1959 von einer "erdrückende[n] Zahl von Urteilen, in denen die Gerichte bemüht waren, die Schärfe des Gesetzes von dem Angeklagten abzuwenden und zu menschlich erträglicher Lösung des Falles zu gelangen"17. Die Argumente der militärrichterlichen Selbstbewältigung lassen sich folgendermaßen auf dem Punkt bringen: Vor allem das Mißtrauen Hitlers in die Wehrmachtjustiz, des weiteren auch die Beteiligung von Wehrmachtsjuristen an dem Widerstandskreis des 20. Juli 1944 und der Umstand, daß kein Militärrichter nach dem Krieg zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen worden war, würden die Militärgerichte im günstigen Licht erscheinen lassen18. Ein solches Bild hatte Folgen für die Bewertung der Deserteure. Ihnen war in dieser Argumentation auch nach 1945 die Rolle von gefährlichen Auflösungserscheinungen zugewiesen. Sie wären wegen "schwerster Pflichtverletzungen, deren sich der Soldat schuldig machen kann" in der Regel rechtmäßig hingerichtet worden19. Den Kriegsgerichten sei es zu verdanken gewesen, daß die "den Lebensnerv der Wehrmacht bedrohenden Delikte wie Fahnenflucht [...] in erträglichen Grenzen gehalten [ wurden und ] die aus Sibirien herbeigeeilten russischen Panzerverbände [ unbehindert ] bis zur Atlantikküste vorzustoßen und ganz Europa in kommunistische Hand zu bringen", nicht vermocht hätten20. Die fahnenflüchtigen Soldaten galten noch Jahrzehnte nach 1945 als feige Vaterlandsverräter, ganz im Sinne der Legende von einer unpolitischen Wehrmacht, dessen Angehörige tapfer gekämpft hätten21. Solche festgefahrenen Pauschalurteile hatten zufolge, daß Deserteure und Angehörige nach 1945, trotz des allgemein anerkannten Völkerrechtswidrigkeit des Kriegs, von jeder Entschädigung ausgenommen wurden. Erst seit den frühen achtziger Jahren rückten die Deserteure im Zuge der Debatten um Mahnmale für den unbekannten Deserteur immer mehr in das öffentliche Bewußtsein und wurden von der 'Friedensbewegung' jener Zeit als Helden stilisiert22. Als das Thema in die Diskussion gekommen war, gab es anschließend eine Flut von alltagsgeschichtlichen Darstellungen und rechtshistorischen Untersuchungen über die Fahnenflüchtigen und anderen mit dem Militärstrafrecht in Konflikt geratenen Soldaten, und auch eine

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kritische Neubewertung der Militärjustiz fing allmählich an23. Trotz vereinzelter Aufsätzen, die einen völlig anderen Befund als das Selbstlob der Militärrichter über die Rechtmäßigkeit und Vertretbarkeit der Todesurteile der Wehrmacht aufwiesen, wurden die Thesen von Schweling/Schwinge im Ganzen erst 1987 anhand von vielen Quellen widerlegt24. In den neunziger Jahren haben die Militärgerichte ihrem Ansehen in der Forschung weitgehend eingebüßt, was juristische Konsequenzen nach sich zog25.

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Hat sich der Pendel in der letzten Dekade ersichtlich zu Gunsten der Deserteure und zu Ungunsten der Militärgerichte geschlagen26, sind dennoch einige Mängel in der bisherigen Diskussion bestehen geblieben. Die Behandlung des Themas bleibt oft einer "Pauschalbewältigung" überlassen27. Eine systematische Erschließung des Quellenmaterials ist ausgeblieben; häufig lassen die sichtbaren Aussageabsichten der Bearbeiter mit der entsprechenden Quellenauswahl und einer auszugshaften Wiedergabe aus fast unübersichtlichen Archivbeständen die Ergebnisse als zweifelhaft erscheinen28.

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B Fahnenflucht

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I Wie viele Deserteure können nachgewiesen werden ?

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Die Ermittlung der genauen Zahlen für Desertionen hat sich als unmöglich erwiesen. Erstens liegen amtliche Statistiken nur bis Herbst 1944 vor, zweitens erfassen diese nicht vollständig alle vorgekommenen Fälle, und drittens ist die Gruppe derjenigen, dessen Vorhaben gelang und die irgendwo auf Dauer untertauchen konnten, nicht hinreichend abschätzbar29. Den Angaben der Wehrmachtkriminalstatistik zufolge liegt die Höhe der monatlich unerledigt gebliebenen Strafsachen dank der Abwesenheit des Beschuldigten zwischen 1941 und 1944 bei 301 87130, worunter eine unbestimmte Anzahl von Fahnenflüchtigen fiel. Deshalb muß eine nicht unbedeutende Dunkelziffer insbesonders in den letzten Kriegsjahren angenommen werden; Quellen zufolge klagten Kommandeure über ganze "Zellen wehrfeindlicher Mannschaften"31. Von einer Division wurde berichtet, daß am 2. 1. 1945 zwei ganze Kompanien gemeinsam "weggelaufen" seien32. Nach den heute allgemein angenommenen Zahlen fällte die Wehrmachtjustiz insgesamt etwa 35 000 Urteile wegen Fahnenflucht, wovon 22 750 Todesurteile waren, von denen 15 000 vollstreckt wurden33. Hinzugezählt werden müßte noch eine unbekannte Zahl von Urteilen der Standgerichte, die keineswegs von der Tätigkeit der Militärgerichte ausgenommen werden dürfen, da dort auch Militärrichter mitgewirkt haben34. Es ist müßig, über die Gesamtzahl der Todesurteile zu spekulieren. Es fragt sich auch ob überhaupt ein Unterschied zwischen einen Todesurteil und einer Freiheitsstrafe bestand, da diese in Strafkompanien zu verbüßen war, wo man jederzeit in einer Himmelfahrtskommando um sein Leben kommen konnte35. Allein die Zahlen zeigen, daß hier eine äußerst brutale Justiz am Werk war, die sich von anderen kriegsführenden Staaten abhob. In vergleichbar großen amerikanischen Einheiten wurde nur ein Fahnenflüchtige hingerichtet36. Es liegt die Vermutung nahe, daß die deutsche Militärjustiz unter allen Umständen den Vorwurf der zu großen Milde im Ersten Weltkrieg nicht wieder aufkommen lassen wollte. Im Ersten Weltkrieg hatten die Briten und die Franzosen insgesamt 5080 Todesurteile gefällt, die deutsche Armee nur 15037, - ein dramatischer Unterschied zum Zweiten Weltkrieg. Die Urteile wegen Fahnenflucht hörten nicht mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 auf, sondern gingen bis zum August 1945 weiter: In Kriegsgefangenenlagern und in Marineeinheiten, die zur Minenräumung abkommandiert worden waren, bestand die Wehrmachtjustiz auf Wunsch der Siegermächte fort38.

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II Rechtslage

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1 Tatbestand und Rechtsfolge

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Die einschlägigen Normen für Fahnenflucht in der Wehrmacht, die §§ 69 ff des Militärstrafgesetzbuchs, gingen auf das MStGB von 26. 6. 1872 zurück, das bis zum Ende des I. Weltkriegs gegolten hatte39. Das MStGB wurde im Auftrag der Art. 106 WRV durch Gesetz vom 1920 aufgehoben, aber es wurde bereits kurz nach der "Machtergreifung", nämlich am 12. 5. 1933, von den neuen nationalsozialistischen Machthabern in alter Fassung wieder eingeführt40. Das Gesetz wurde mehrfach bis zu der Neufassung von 10. 10. 1940 geändert, in welcher Form es, von abermaligen Strafverschärfungen abgesehen, bis zum Kriegsende galt41. Durch die Veränderungen wurden rechtstechnische Fehler des alten MStGB behoben, aber auch NS-systemimmanente "Verbesserungen" vorgenommen. So wurden Tatbestände neu gefaßt und Strafandrohungen in vielen Fällen verschärft. Während die alte Fassung des MStGB für zehn Tatbestände die Todesstrafe vorgesehen hatte, hatte sich die Zahl der todesstrafbewährten Delikte bis 1940 auf 17 Delikte erhöht42. Im Vergleich zur allgemeinen Strafrechts-"Reform" unter der nationalsozialistischer Herrschaft könnte hier noch von einer relativ geringen Erhöhung gesprochen werden43. Den Tatbestand der Fahnenflucht legte der § 69 Abs. 1 MStGB folgendermaßen fest:

18
Wer in der Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienste in der Wehrmacht dauernd zu entziehen oder die Auflösung des Dienstverhältnisses zu erreichen, seine Truppe oder Dienststelle verläßt oder ihnen fernbleibt, wird wegen Fahnenflucht bestraft.

19
Aus der § 70 Abs. 2 MStGB ging die Rechtsfolge hervor:

20
Wird die Tat im Felde begangen oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so ist auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus zu erkennen.

21
Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich des Tatbestands des § 69 Abs. 1 zur unerlaubten Entfernung im Sinne von § 64 MStGB, wonach ein Abwesenheit von länger als einen Tag bis zur zehn Jahren Festungshaft strafbewehrt war, gab es in der Praxis häufig44. Es kam auf die Feststellung der inneren Tatseite, nämlich die Absicht, sich auf Dauer zu entfernen an, die oft nur von äußeren Umständen erschlossen werden konnte, wie zum Beispiel das Ablegen der Uniform oder die Dauer der Abwesenheit. "Die unerlaubte Entfernung ist [...] eine Fahnenflucht auf Zeit, die Fahnenflucht eine unerlaubte Entfernung für immer", so kann der Unterschied kurz und bündig umschrieben werden45. Der § 64 MStGB bot den Richtern eine Möglichkeit an, bei zweifelhaften Fällen von der weitaus strengeren Strafgeboten des § 70 Abs. 2 MStGB Abstand zu nehmen.

22
In der Strafzumessungspraxis waren die Richtlinien des 'Führers' vom 14. 4. 1940 als amtliche Fußnote zur § 70 Abs. 2 MStGB heranzuziehen46. Diese besagten:

23
I Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach besonderen Lage des Einzelfalles unerläßlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten. Die Todesstrafe ist im allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland. Das gleiche gilt, wenn der Täter erheblich vorbestraft ist oder sich während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt hat.

24
II In allen anderen Fällen der Fahnenflucht muß unter Berücksichtigung der gesamten Umstände geprüft werden, ob Todesstrafe oder Zuchthausstrafe angemessen ist. Eine Zuchthausstrafe wird in diesen Fällen im allgemeinen als ausreichende Sühne anzusehen sein, wenn jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe für den Täter hauptsächlich bestimmend waren.

25
Es lag gegenüber der Rechtslage im Ersten Weltkrieg bis auf die Hitlerrichtlinie [ HRiLi ] eigentlich keine massive Strafverschärfung vor47, denn die §§ 71, 72 und 73 MStGB i.d.F.v. 26. 6. 1872 hatten zwingend die Todesstrafe für wiederholten Fahnenflucht im Felde, für die Anstiftung zur Fahnenflucht oder Fahnenflucht vom Posten vor dem Feind sowie für das Überlaufen zum Feind vorgesehen48. Die Richtlinie hingegen verlangte zusätzlich generell die Todesstrafe für Flucht aus Todesangst, zur Abschreckung und bei Vorstrafen, sowie bei Begehen von Straftaten während der Flucht. Das erstgenannte traf wohl häufig auf die jungen, nicht einmal volljährigen Soldaten zu, gegen die aber Härte unvermeidbar gewesen sein sollte49. Generalpräventive Exzesse wurden in solchen Fällen sichtbar.

26
Während des Krieges wurden diese bis auf die Hitlerrichtlinie noch traditionellen preußischen Normen durch verschiedene Bestimmungen überlagert, und die Rechtswissenschaft entwickelte immer härtere Grundsätze zur Bestrafung von Wehrunwilligen. Bereits im Jahre 1938 war, - wohl dank der angespannten Weltlage (Münchener Konferenz) - vorsorglich eine Kriegssonderstrafrechtsverordnung erlassen worden50. Deren § 5 kam auch im Hinblick auf das Delikt Fahnenflucht großer Bedeutung zu. Er lautete:

27
(1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft:

28
1.Wer öffentlich dazu auffordert [...] die Erfüllung der Dienstpflicht [...] zu verweigern oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht;

29
(2) Wer es unternimmt, einen Soldaten [...] zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen Wehrmacht [...] zu untergraben.

30
Unter den weit gefaßten Tatbestand des § 5 Abs. 1 KSSVO fielen die Angehörigen, Freunde und Geliebten des Deserteurs, wenn sie ihn zur Flucht ermutigt hatten. Sofern sie ihm bei der Flucht behilflich gewesen waren, erfüllten sie auch die Voraussetzungen des Abs. 251. Der KSSVO wurde während des Kriegs mehrmals verschärft52. Am gravierendsten für die Angeklagten dürfte die am 31. 3. 1943 - im Zuge des 'totalen Kriegs' - erlassene 4. VO zur Ergänzung der KSSVO gewesen sein, der in einem neuen § 5a bestimmte:

31
(1) Gegen Personen, die dem Kriegsverfahren unterliegen, kann wegen strafbarer Handlungen gegen die Manneszucht oder das Gebot des soldatischen Mutes unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens die Strafe bis [...] auf Todesstrafe erkannt werden [...]

32
(2) Das gleiche gilt für strafbare Handlungen, durch die der Täter einen besonders schweren Nachteil für die Kriegsführung oder die Sicherheit des Reichs verschuldet hat, wenn der regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden zur Sühne nicht ausreicht.

33
Der im Hinblick auf den KSSVO gebrauchte Begriff "justitielle Tötungswaffe" trifft auf den Inhalt ihrer Normen voll zu53. Somit faßte auch der Lieblingsbegriff der dem Nationalsozialismus dienenden Juristen im Militärstrafrecht Fuß: das "gesunde Volksempfinden", ein unbestimmter Rechtsbegriff, dem in der gesamten NS-Gesetzgebung eine zentrale Rolle zukam54.

34
2 Verfahren

35
Die Kriegsstrafverfahrensordnung vom 17. 8. 193855 sah in § 9 Abs. 1 ein Feldkriegsgericht in der Besetzung von einem Militärjustizbeamten als Richter und zwei Beisitzern vor. Eine der Beisitzer mußte ein Offizier, der andere ein Soldat im Rang des Angeklagten sein (§ 9 Abs. 3 KStVO). Wenngleich diese keine Juristen waren, konnten sie in der Beratung gemäß § 62 KStVO den Richter überstimmen. Jedem Truppenverband von mindestens Divisionsgröße war ein solches Feldgericht zugeordnet; der Divisionsbefehlshaber war nach § 5 Abs. 2 KStVO zugleich als Gerichtsherr dem Feldgericht übergeordnet. Der Gerichtsherr war für die Bestätigung der Urteile zuständig und konnte das Urteil zwecks Strafverschärfung aufheben und erneut - vor beliebigen Gericht - verhandeln lassen (§ 1 Abs 2 Nr. 4 und §§ 77 ff KStVO). So ist ein Fahnenfluchtsfall bekannt, der zwischen Januar und Juli 1944 vor vier verschiedenen Gerichten verhandelt wurde, bis das vom Gerichtsherrn (Dönitz) gewünschte Ergebnis - die Todesstrafe - ausgesprochen wurde56. Der Gerichtsherr war auch für die Bestellung des Anklägers - ein weiterer Militärrichter - zuständig (§ 49 Abs. 1 KStVO). Für den Angeklagten sollte allem Anschein nach der Grundsatz Freislers für die NS-Gerichte allgemein gelten: "Blitzartig muß die Strafe den Verbrecher treffen"57. Gegenüber den "militärischen Bedürfnissen" hatten alle andere Belange das Nachsehen58. Dementsprechend war die Verfahrensgestaltung in den Kriegsgerichten und die verfahrensmäßigen Sicherungen von Rechten des Angeklagten, für den nicht einmal ein Verteidiger als zwingend im Sinne der unter allen Umständen einzuhaltenden Mindestgrundsätzen des § 1 Abs. 2 KStVO vorgeschrieben wurde59. Fälle von engagierter Verteidigung waren wohl die Ausnahme60.

36
Das Reichskriegsgericht war kein Berufungsgericht, sondern entschied in den § 14 KStVO aufgelisteten Tatbeständen, vor allem in Fällen von Hoch- und Landesverrat (§§ 80 ff RStGB) oder auch Zersetzung der Wehrkraft (§§ 5, 5a KSSVO), weshalb auch hier Urteile wegen Fahnenflucht ausgeworfen werden könnten61. Sowohl das RKG als auch die Feldgerichte waren die erste und letzte Instanz, gegen deren Entscheidungen nach § 76 KStVO kein Rechtsmittel zulässig war. Der Verurteilte durfte lediglich ein Gnadengesuch im Sinne von § 116 Abs. 1 KStVO an den Gerichtsherrn richten, der ihn zwecks Frontbewährung stattgeben konnte. Dagegen konnte ein von Gerichtsherrn bestätigtes rechtskräftiges Urteil gemäß § 79 Abs. 2 und 3 KStVO vom übergeordneten Befehlshabern aufgehoben werden, - in letzter Konsequenz jederzeit von Hitler selbst als Oberster Gerichtsherr der Wehrmacht (§ 5 Abs. 1 KStVO)62. Der § 79 Abs. 1 Nr. 2 KStVO bestimmte:

37
(1) Dem Führer und Reichskanzler ist das Bestätigungs- und Aufhebungsrecht vorbehalten: [Nr.2] wenn er einen Vorbehalt allgemein oder im Einzelfall ausspricht.

38
Der Militärrichter war in seine Entscheidungen weder dienstlich noch sachlich unabhängig: Als Militärbeamte waren die Richter jederzeit versetzbar und an die Weisungen des Gerichtsherrn gebunden63. Das Institut des gesetzlichen Richters existierte nicht; "Führerbefehle" statt Rechtsgrundsätze bestimmten das Wirken der Militärrichter64.

39
Der sich dramatisch verschlechternden Kriegslage nach der Niederlage in Stalingrad (1943) setzten die Befehlshaber eine Flut von Verordnungen, Tagesbefehle und sonstige Anweisungen entgegen, die oft bar jeder Rechtsqualität die Todesstrafe im Fall jeder Dienstentziehung forderten65. Standgerichte nach § 13a KStVO hatte es bereits seit dem Anfängen des Krieges gegeben66, und eine rasche Zunahme von derartigen Verfahren kennzeichneten die Endphase 1944/5. Bilder von aufgehängten, mit Spott gekennzeichneten angeblichen Fahnenflüchtigen sind hinreichend bekannt67.

40
Das Verfahren wurde von vielen Betroffenen als reine Formsache empfunden68; der ungeschriebene Grundsatz des NS-Prozeßrechts, nämlich das Anpöbeln des Angeklagten durch den Richter, war an der Tagesordnung. Eine wegen Beihilfe zur Fahnenflucht angeklagte Norwegerin mußte sich im Januar -45 von Militärrichter Filbinger vorhalten lassen: "Du bist schlimmer als ein Tier. Zu einer Ratte müßtest du Sie sagen. Du bist nicht einmal Wert, daß man dir Unkraut zu Essen gibt"69. Den Hauptangeklagten, der bei der Norwegerin Unterschlupf gefunden hatte, traf die Todesstrafe, und das Mädchen wurde nach Deutschland ins KZ geschleppt.

41
Über die Verhandlungen des Reichskriegsgerichts im Jahr 1944 ist durch seinen Wachmeister folgendes Überliefert: "Brutal laut brüllend mit Schimpfworten benannt [...] keinen Gefangenen ließ man zu Wort kommen oder sich verteidigen [...] Die Gerichte und Richter sprachen unter sich die Urteile aus, kaum noch Verhandlungen"70. Das Ansehen der Kriegsgerichte als Scheingerichte bei einigen Zeitgenossen dürfte noch von der Tatsache verstärkt worden sein, daß die Anklagevertreter und Richter von Fall zu Fall die Plätze tauschten71.

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III Die Flucht

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1 Gründe

44
Die Gründe, die zum Entschluß, die Truppe zu verlassen, bzw. fernzubleiben führten, waren sehr unterschiedlicher Natur. Diverse Ursachen privater Art, vor allem Heimweh, Streit mit Kameraden, unzumutbare Behandlung durch einen Vorgesetzten, Furcht vor Bestrafung wegen kleinere Delikte oder auch Liebeskummer spielten hier die Hauptrolle, nicht so sehr eine politische oder pazifistische Opposition72. Wie viele aus Überzeugungen heraus, die als Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewertet werden könnten, die Fahnen des "Dritten Reichs" verließen, kann nicht befriedigend festgestellt werden73. Des weiteren bereitet hier die Abgrenzung des Widerstandsbegriffs Schwierigkeiten. Wird jedes Aufbegehren als 'Resistenz' (Broszat) oder Verweigerung verstanden, kann diese nur gegenüber dem militärischen Subsystem Geltung beanspruchen74. Soweit ersichtlich in den hierfür ausgewählten 28 Beispielen, je zur Hälfte aus gedruckten Urteilen und späteren Interviews der Flüchtigen zusammengestellt, liegen die angegebenen Gründe breit gestreut da. So waren nach 14 Interviews folgende Gründe für die Flucht maßgebend gewesen:

45
Politische Opposition: 1  
Ungerechter Krieg: 5  
Pazifismus: 2  
Angst vor Strafe: 3  
Schlechter Behandlung: 2  
Todesangst: 1

75.

46
Nach veröffentlichten frei ausgewählten 14 Gerichtsurteilen zufolge waren wegen:

Politischer Opposition: 2
Aussichtsloser Krieg: 1
Pazifismus: 1
Angst vor Strafe: 1
Schlechte Behandlung: 6
Todesangst: 2
Frauen: 1

flüchtig geworden76.
47
Trotz der gegen die Allgemeingültigkeit solcher kleiner Erhebungen bestehenden Bedenken, erscheint die Erstellung einer vergleichenden Typologie gerechtfertigt. Politische Opposition ist nur zur 10 % in beiden Überlieferungen anzutreffen. Nur ein einziger Fall in den Interviews überrascht, weil hier eine nachträgliche Beschönigung besonders verlockend ist. Große Differenz besteht hinsichtlich der fünfmaligen Erwähnung vom "ungerechten" Krieg in Interviews und einer einzigen vergleichbaren Erwähnung vom "aussichtslosen" Krieg vor Kriegsgerichten. Das erweckt den Eindruck, daß die Behauptung, der Krieg sei ungerecht, aus der Nachkriegssituation heraus nachträglich als Erklärung vorgeschoben worden sein könnte, weil es zu 35 % die Gründe in Interviews beherrscht. Freilich dürfte es einem Selbstmord gleichgekommen sein, einem Militärrichter gegenüber auf Unrechtmäßigkeit des Krieges und somit auf die Rechtmäßigkeit der Flucht zu bestehen77. Erst in einem Rechtstaat sind solcher Überlegungen von Gewicht. Vor Militärgerichten beriefen sich 42 % der Angeklagten auf schlechte Behandlung, - deutlich mehr als in Interviews -, welche zugleich den am häufigsten vorkommender Fluchtgrund aus den vorliegenden 28 Beispielsfällen darstellte mit insgesamt 28 %. Dieses lag wohl an den Strafmilderungsgrund der Art. II Satz 2 HRiLi begründet. Ungerechter/Aussichtsloser Krieg stand erst an der zweiten Stelle mit 21 %. Angst vor Strafe bewegte 14 % zum Verlassen der Fahne, in welchen Fällen die abschreckende Wirkung der Wehrmachtjustiz selbst ausschlaggebend für die Flucht war78. Pazifismus war mit 10 % zusammen mit Todesangst der am wenigsten angegebener Grund.

48
Aus einer anderer Studie geht eine ähnliche Verlagerung der Fluchtgründe hervor, wonach aus 33 untersuchten Fahnenfluchtsfällen fünf (=15%) aus politischer Opposition, vier (=12%) aus Pazifismus, aber nur einer aus Angst vor Strafe die Truppe verlassen haben soll79. Eine These aufzustellen, daß nur 10 bis 15 % aller Fahnenfluchten dem Widerstand im engeren Sinne zuzurechnen seien, wäre dennoch eine Überstrapazierung des dürftigen und problematischen Materials. Die ermittelten Zahlen sind Trends, die nur ungenügend verallgemeinert werden können.

49
2 Ausführung

50
Die Fluchtabläufe waren sowohl von Irrationalität gekennzeichnet als auch von planvollen Handeln des Deserteurs und Inanspruchnahme der Hilfe von Zivilbevölkerung, vor allem Frauen80. Die allerwenigsten überlieferten Desertionen sind während der Kampfhandlungen von vorderster Front aus geschehen, wobei die Dunkelziffer hier besonders groß gewesen sein dürfte81. Der Ablauf der Flucht entsprach ebensowenig einem Muster wie der Entschluß zu fliehen. Neben Fluchten im Anschluß eines Denkprozesses, in dem bestimmte Schlüsselerlebnisse eine große Rolle gespielt haben mögen82, kamen kurzfristige Entschlüsse gleichermaßen vor, seien es Bombenschäden oder Todesfälle in der Familie oder auch nur eine verlockende Gelegenheit, die zum dauerhaften Fernbleiben ausgenutzt wurde83. Ein überlieferter Fall berichtet von einem Soldaten an der Ostfront, der vom Arzt keine Hilfe für Magenschmerzen bekam und sich anschließend in Garten eines Bahnwartehäuschens zum Schlafen legte, weshalb er seine Truppe - mehr oder weniger - fahrlässig aus den Augen verlor84. Danach trieb er sich sechs Wochen in kaukasischen Dörfern mit einem ebenfalls geflohenen Mitglied des Reichsarbeitsdienstes herum, übernächtigte in Scheunen und Bauernhäusern, wo er Verpflegung und Geld erhielt. Als er von einer Militärstreife gestellt wurde, gab er sich als Feldgendarm aus und wurde daraufhin angewiesen, zwei Juden zu erschießen. Das tat er und konnte so seine Flucht um einige Tage verlängern, bis er aufflog85. Manchmal begann die Flucht als Urlaubsschwindel, indem Frauen aus dem Bekanntenkreis des Deserteurs auftragsgemäß Telegramme an die Truppe richteten, wonach zum Beispiel ein Familienmitglied im Sterben liege86. Die daraufhin erhaltene Kurzurlaub wurde zum endgültigen Fernbleiben; die Frauen sahen sich vor vollendeten Tatsachen gestellt und mußten den Mann helfen, - sie hatten sich ja bereits durch die Falschmeldung strafbar gemacht -, unterzutauchen87.

51
Merkmale einer durchdachten Planung war vor allem das Besorgen von gefälschten Papieren und Befehlen, mit deren Hilfe versucht wurde, ins Ausland zu gelangen88. Die Großstädte boten Schlupfwinkel und Arbeitsgelegenheiten, sofern Ortskenntnisse und Beziehungen ausgenutzt werden konnten89. Auch das Rotlichtmilieu war ein beliebter Fluchtburg90. Neben Urkundenfälschung zog eine Desertion möglicherweise eine Palette anderer Straftaten nach sich, die von Fahrraddiebstählen bis zum Mord und Totschlag reichten91. Die Beschaffung von Zivilkleider, Geld und Unterkunft ließ sich oft nicht anders bewerkstelligen, gleichwohl war nach der Art. I Satz 2 HRiLi für solche Fälle die Todesstrafe angebracht92. Dennoch ist die Bewertung derartige Vorkommnisse mit Vorsicht vorzunehmen: die Fahnenflucht alleine kann nicht zur Rechtfertigung von Kapitalverbrechen ausreichen, sofern kein Notwehr im Sinne von § 53 RStGB vorgelegen hatte.

52
3 Das Ende einer Flucht

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Der 22-jährige Matrose Blumensath war während eines Genesungsurlaubs im Anschluß an einer Kriegsverletzung, für die er das Verwundetenabzeichnen bekommen hatte, aufgrund der zeitgleich stattfindenden Räumung seines Heimatdorfs Konzen zu der Überzeugung gelangt, der Krieg wäre für ihn zu Ende. Als er zwischen die Fronten geriet, wurde er von den Amerikanern verhaftet, aber wieder freigelassen, weil er sich als Zivilperson ausgab. Statt sich anschließend dem Flüchtlingstreck ins Reichsinnere anzuschließen, und sich zurück zu seiner Einheit in Wilhelmshaven zu begeben, versuchte er, erneut zu den bereits besetzten Nachbardörfern zu gelangen, wobei er nun von den Deutschen verhaftet wurde und etwas später vor Gericht landete. Mit folgenden Worten zur Strafzumessung wurde Blumensath gemäß §§ 69 und 70 MStGB zum Tode verurteilt und neun Wochen vor Kriegsende am 27. 2. 1945 hingerichtet: "[ Der Angeklagte ] glaubte, es nicht nötig zu haben, alles für den Existenzkampf einzusetzen. Gerade in diesem kritischen Stadium mußte er zeigen, daß er seine Heimat [...] bis zum Letzten zu verteidigen bereit war. Während Jünglinge und Greise zu den Fahnen eilen, wird er fahnenflüchtig. Mit seine Tat hat sich der Angeklagte außerhalb jeder soldatischen Gemeinschaft und [...] Volksgemeinschaft gestellt. Ein Soldat, der im Augenblick des erbittersten Existenzkampfes die Fahne verläßt und glaubt, vorzeitig die Flinte ins Korn werfen zu können, hat kein Recht darauf, in dieser soldatischen Gemeinschaft zu leben"93.

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Das Urteil ist aus heutiger Sicht durch Realitätsverlust gekennzeichnet. Die Amerikaner standen zur Zeit des Urteilsspruchs am Rhein, die Russen an der Oder und der Richter verwies auf den heldenhaft zu den Fahnen eilenden Volkssturm, statt die Strafe rechtlich zu begründen. Eigentlich konnte im Januar 1945 dem Angeklagten gar nicht mehr der Vorwurf gemacht werden, frühzeitig die Flinte ins Korn werfen zu wollen, oder glaubte der Richter etwa noch an einen 'Endsieg'? Blumensath war weder vorbestraft, noch begann er Straftaten während der sechswöchigen Abwesenheit, für die immerhin die Besetzung des Urlaubs- und Heimatorts einen wichtigen Grund im Sinne von Art. II der HRiLi darstellte. Es fehlte eine hinreichende Subsumierung des Sachverhalts unter den angewendeten Normen: Nach § 70 Abs. 2 MStGB in Verbindung mit Art. I und II HRiLi war hier die Todesstrafe gerade nicht geboten. Nach Ansicht des Gerichts stehe der Angeklagte sogar im "Verdacht", während seiner Verhaftung den Amerikanern "Auskünfte" gegeben zu haben, ohne daß dieser konkludente Vorwurf des Verrats eines Staatsgeheimnisses gemäß § 89 RStGB oder "sonstige Untergrabung der Manneszucht" nach § 5 Abs. 1 KSSVO begründet worden wäre94. Statt rechtlicher Würdigung der Tat bestand der Urteilsspruch ganz überwiegend aus NS-Floskeln; es wird deutlich, in welchem Maße ein Militärgericht zu sinnlosen Durchhalteparolen des Regimes einen eigenen Beitrag leisten konnte95. Der Heimatort des Angeklagten wurde gerade besetzt, aber der Antrag der Verteidigung, in dem Bestätigungsverfahren diese Wirren als mildernde Umstände zu berücksichtigen, oder auch der Aktenvermerk des Anklägers, der Täter sei nicht voll zurechnungsfähig gewesen, fand beim Gerichtsherrn kein Gehör96. Inwieweit hier gerichtsherrliche Lenkung der Rechtsprechung beziehungsweise Einschränkung der Ermessensspielräume des Gerichts vorgelegen hat, kann nicht abschließend geklärt werden97. Jedenfalls liegt hier eine eindeutig ideologisch motivierte, sämtlichen rechtstaatlichen Grundsätzen Hohn sprechendes Todesurteil vor. Der Begriff 'Leistungszwang' setzt aber eine gegenläufige Tendenz bei den Gerichten zur Milde voraus, die hier nicht nachgewiesen werden kann98. Daß es sich hier um eine Art Standardurteil handelte, geht aus einen wenige Monate vorher ergangenen Urteil desselben Gerichts hervor, das den Wortlaut der Strafzumessungsgründe in einem anderen Fall vorweggenommen hatte99. Offenbar bemühte sich dieses 'Gericht' nicht einmal um individuelle, rechtliche Urteilsbegründungen.

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C Der schwierige Weg zur Rehabilitation

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Weil die Anti-Hitler-Koalition schon seit 1943 verkündet hatte, die NS-Kriegs- und Humanitätsverbrechen strafrechtlich zu ahnden, und sie dies auch in den Nürnberger Prozessen 1946/7 umsetzte, konnte unmittelbar nach dem Krieg noch der Glauben herrschen, daß auch das Schicksal der Fahnenflüchtigen überprüft und die für die Todesurteilen verantwortlichen Richter ihre gerechte Strafe bekommen würden100. Allerdings wurden in Prozessen des Internationalen Militärtribunals kein einziger Kriegsrichter angeklagt, und bis heute ist keiner rechtskräftig verurteilt worden. Während die Richter, weitgehend ungestört von Entnazifizierungsversuchen und Strafverfahren gegen sie, Karriere machen konnten, wurden die überlebenden Deserteure von jeder Rehabilitation ausgeschlossen und in die Bundeszentralregister als vorbestraft eingetragen101. Diese Entwicklung leitete das OLG Kiel im Jahr 1947 ein. Mit einer diffusen Begründung verurteilte das Gericht einen Fahnenflüchtigen, der sich seiner Hinrichtung durch Flucht entzogen hatte, indem er den Vollzugsbeamten fast tot geschlagen hatte, wegen schwerer Körperverletzung102. Das in einem Labyrinth des Staats- und Strafrechts herumirrende Gericht vermochte nicht auf Notwehr erkennen.

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Hatte der Oberster Gerichtshof für die Britische Zone einen Marinerichter und seinen Gerichtsherrn, die drei junge Fahnenflüchtige noch am 9. 5. 1945 zum Tode verurteilt hatten, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Buchst.c KRG Nr.10) am 7. 12. 1948 verurteilt, wurden sie in einem Wiederaufnahmeverfahren von dem - inzwischen gegründeten - Bundesgerichtshof 1952 freigesprochen103. In diesem Urteil wurde unter anderem ein Grundsatz aufgestellt, daß "Der Richter, der ein Todesurteil fällt, kann sich dadurch nur dann strafbar machen, wenn er das Recht beugt. Dies setzt voraus, daß er bewußte und gewollte Verstöße gegen das Verfahrensrecht oder das sachliche Recht begeht [...] Solange der Richter bestrebt ist, in einem ordnungsgemäßen Verfahren das sachliche Recht [ Sic ! das NS-Militärstrafrecht ] zu verwirklichen, ist er für eine etwaige Fehlentscheidung unter keinen Umständen strafrechtlich verantwortlich"104. Als ausschlaggebende Norm kam in der Auseinandersetzung mit NS-Justizverbrechen dem § 336 StGB große Bedeutung zu, der den Tatbestand der Rechtsbeugung regelte. Schuldig machte sich demnach nur derjenige Richter, der nicht nur das Recht falsch angewendet hatte - etwa völlig überzogene Strafen ausgesprochen hatte -, sondern dies auch willentlich tat105. Nun kam es darauf an, den unbedingten Vorsatz des Richters zu nachzuweisen, was sich als unmöglich erwies106. Er konnte sich immer darauf berufen, an die Richtigkeit seines Tuns geglaubt zu haben, weil er nur geltendes Recht in gutem (d.h. nationalsozialistischem) Glauben angewandt habe. Rechtsblindheit war Schuldausschließungsgrund und so konnte "Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein" zum Sprichwort der Richterschaft nach 1945 werden107. Konnte den Richtern keine Rechtsbeugung nachgewiesen werden, so konnte folglich nicht juristisch an der Bestandskraft der Urteile gerüttelt werden. Dem hätte es eines Gesetzes bedürft, aber die Nachkriegspolitik blieb untätig. Das hatte für die Klagen der Deserteure und deren Hinterbliebenen böse Folgen.

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Im Jahr 1957 kam der erste Deserteur - Entschädigungsfall vor dem höchsten Sozialgericht der BRD. In ihrem Urteil führten die Richter aus: "Die Verurteilung zum Tode wegen Fahnenflucht [...] auf Grund eines ordnungsgemäßen Militärstrafverfahrens kann nicht als offensichtliches Unrecht im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG angesehen werden"108. Das Urteil war zugleich Ausdruck von mangelnden Bereitschaft der Richterschaft, über ihre Kollegen zu urteilen, was ganz im Sinne der Politik der Verdrängung erfolgte. Bedingt auch durch die langsame Entwicklung des Forschungsstands zur Militärjustiz (vgl. oben Rdnr. 9 ff) konnte das BSG seine Auffassung erst 1991 revidieren. Seitdem gilt in der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, daß ein Todesurteil wegen Fahnenflucht insbesondere in der Endphase des Krieges 1944/5, verfahrensmäßig schon ab 1942, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, das auch den Hinterbliebenen Versorgungsansprüche gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG eröffnet, weil eine Wehrdienstbeschädigung in Form eines Sonderopfers durch Verlust des Lebens eingetreten sei: "Zu entschädigen sind daher gleichermaßen Widerstandskämpfer, unpolitische Menschen, auch 'Feiglinge' und getreue Gefolgsleute in einem völkerrechtswidrigen Krieg" 109. Wie die Richter ganz im Sinne Messerschmidts und Wüllners Untersuchungen feststellten, war die Aufgabe der "Terrorjustiz [...] in aussichtslose Lage rücksichtslos die Kampfkraft aufrecht [zu] erhalten"110. Eine aus der Sicht der Betroffenen viel zu späte Einsicht, die im Kontext des gesamtgesellschaftlichen und politischen Meinungswandels zu sehen ist111. Im Zusammenhang mit denen, durch die Wiedervereinigung erneut aufgeworfenen Problemen des Umganges mit einer Unrechtshinterlassenschaft hat sich auch das BGH selbst in schwerer Schuld in der fehlgeschlagenen Ahndung der NS-Unrechtsjustiz gesehen112. Nunmehr gilt: "Ein Richter, der in blinden Gehorsam gegenüber staatlichen Machthabern meint, sich auch dann im Einklang mit Recht und Gesetz zu befinden, wenn er über die Grenzen des gesetzlich Zulässigen hinaus den Willen der Staatsführung vollzieht und dabei [...] Menschenrechte verletzt, unterliegt keinem der Vorsatz berührenden Irrtum"113. An diesem Maßstab muß sich die Wehrmachtjustiz messen lassen. Ebensowenig, wie das von den Deserteuren erlebte, mehrfache Unrecht wieder gutgemacht werden kann, können die Blutrichter der Wehrmachtjustiz zur strafrechtlichen Verantwortung aufgrund der fortgeschrittenen Zeit gezogen werden. Die zahlreichen politischen Initiativen gipfelten 1998 in einen NS-Aufhebungsgesetz, das die NS-Justizopfer weitgehend rehabilitiert, - 53 Jahre nach Neubeginn 1945 war es ja auch die höchste Zeit. Der § 1 Abs. 1 NSAufhG bestimmt:

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[...] Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementaren Gedanken der Gerechtigkeit [...] zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen [...] Gründen ergangen sind [sind] aufgehoben114.

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Somit endete wohl endgültig eine lange rechtspolitische Auseinandersetzung.

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D Ergebnisse

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Der Ausspruch Hitlers "Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben"115 nahm das Schicksal der Deserteure vorweg. Es ist anzunehmen, daß viele Militärjuristen in solchen Stellungnahmen des obersten Gerichtsherren und Gesetzgebers die Grundlage und Rechtfertigung ihrer Gesetzanwendung und -auslegung gesehen haben. Beim Betrachten des wissenschaftlichen Schrifttums wird der Einfluß von NS-Ideologie in der Gesetzesauslegung kaum verleugnet werden können116. Durch Gemeinwohlgeneralklauseln wie "gesundes Volksempfinden" oder "Untergrabung der Manneszucht" konnten Inhalte der NS-Ideologie als quasi Verkünder des Volkswillens in das Militärstrafrecht importiert werden117. Die Tat des Fahnenflüchtigen stand einem "Volksempfinden", - Wehrdienst war gemäß § 1 Wehrgesetz "Ehrendienst am Deutschen Volk"118 -, und dem Geist der Disziplinargeboten des Wehrmachtstrafrechts diametral entgegen und wurde von der Militärjustiz entsprechend bewertet. Davon berichten zahllose Aufsätze in der einschlägigen zeitgenössischen Schrifttum, das von den Militärrichtern rezipiert wurde. Fahnenflucht gefährdete nicht nur die "Manneszucht" im Sinne von Art. I HRiLi und §§ 5 Abs. 2 und 5a Abs. 1 KSSVO, sondern wurde als "Treubruch gegen den Führer" und der "Volksgemeinschaft" schlechthin klassifiziert119.

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Der Begriff "Manneszucht" selbst war eher weniger Ausdruck von NS-Ideologie, sondern vielmehr Ausdruck einer von alten preußischen Tugenden geprägten militärischen Tradition120. Zu der Frage nach der mancherorts erwähnten 'unheilvollen' preußischen Tradition muß eingrenzend der Mißbrauch von Recht und Dienstbarmachung von Geschichte zur Legitimation von NS-Ideologie ins Spiel gebracht werden. So sind etwa Schwinges Ausführungen zur "Manneszucht" gerade unter Bezugnahme auf Moltkes Reichstagsrede 1872 und auf Aussagen anderer preußischer Generälen, vornehmlich der Befreiungskriege 1813-15, aufschlußreich in dieser Hinsicht121. Es ist tatsächlich in der Geschichte allgemein nicht unüblich, daß in Kriegszeiten Strafen gegen Militärangehörige aus präventiven und disziplinarischen Gründen hart ausfallen122, doch dieser berechtigender Gedanke wurde von den Militärrichtern mißbraucht, indem die Fahnenflüchtigen zum bloßen Objekt eines der NS-Ideologie entsprechenden Weltanschauungsstrafverfahrens degradiert wurden.

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Unabhängig von der hier bewußt offengelassenen Frage, ob eine Wehrpflichtigenarmee im Krieg für das Delikt Fahnenflucht Todesstrafe vorsehen muß, ist aufgrund der gravierenden Verfahrensmängel in Gerichtsverfahren, dem der Flüchtige nach seiner Verhaftung hilflos ausgeliefert war, von der möglichen Unrechtsqualität des in diesen Prozessen angewendeten Rechts ganz zu schweigen, die Erkenntnis geboten, die Wehrmachtsgerichte haben die Deserteure im Regelfalle zu hart bestraft. Kurzum: rechtswidrig bestellte Richter sprachen 'Recht' über den im höheren Sinne eigentlich rechtmäßig von einer Hakenkreuzfahne fliehenden Soldaten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Kriegsgerichte, von Ausnahmen abgesehen, mithin Ausdruck eines "extrem verbrecherischen Systems" waren123. Der düstere Gesamteindruck, den die Strafjustiz des Dritten Reiches insgesamt hinterläßt, wird von der Wehrmachtsjustiz verschärft, - der Zahl der Todesurteilen nach stand sie an der Spitze aller Strafgerichtszweige124. Die 5243 Todesurteile des Volksgerichtshofs in den Jahren 1934 - 1945 machen 1/4 von den Wehrmachtsgerichten insgesamt verhängten ca. 30 000 Todesurteilen aus und stellen knapp 1/3 der hingerichteten Fahnenflüchtigen dar. Der Anzahl von allen übrigen Straf- und Sondergerichten verhängten ca. 16 000 Todesurteilen für die gesamte NS-Zeit 1933-45 hat hier auch das Nachsehen125. Dabei kann nicht überzeugend davon ausgegangen werden, daß die Zahl der in der ordentlichen Gerichtsbarkeit gefällten Todesurteile aufgrund der Dunkelziffer durch lebensgefährlichem 'Überstellungen' an die 'Sicherheitsbehörden' oder die Polizei die Zahlen im Hinblick auf die ebenfalls ungezählte, gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Tätigkeit der Militärgerichte in besetzten Gebieten überwiegen würde126.

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Daß die Fahnenflüchtigen dem Widerstand zuzurechnen sind, hat das bahnbrechende Urteil des BSG nicht behauptet127. Der Stellenwert von Desertion ist nicht nur ein rechtshistorisches Materialproblem, sondern auch ein geschichtliches Bewertungsproblem mit politischen Konsequenzen128. Diese Frage muß getrennt von der Frage der Rechtmäßigkeit beantwortet werden.

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Es ist leicht festzustellen, daß der Widerstandsbegriff kaum den vielfältigen Befund zur Desertion gerecht wird. Im engeren Sinne scheidet er meist aus, weil politisch motivierte Fluchten selten nachgewiesen werden können. Widerstand im weiteren Sinne verstanden gleitet aber leicht in die Konturlosigkeit hinein, weil so jeder Normverstoß konsequenterweise als Widerstand gelten müßte. Die nachweisbaren Einzelfälle, in welchem politische Beweggründe für die Dienstentziehung ausschlaggebend waren, sind selbstverständlich Handlungen gegen das NS-System. Was ist aber mit dem großen Rest der Fälle? Daß die allermeisten Desertionen in der Endphase des Krieges geschahen, bringt den Verdacht mit sich, erst die Einsicht in die Aussichtslosigkeit des Krieges brach den - wie auch immer begründeten - Willen, als Soldat für das 'Dritte Reich' zu kämpfen. Vorher, als die Armee noch siegreich war, hatte eine großer Teil der Fahnenflüchtigen also mit ihrem Dabeibleiben systemstabilisierend gewirkt129. Das muß Folgen haben im Hinblick auf die Widerstandsqualität der Handlung: Die Berücksichtigung des Zeitpunktes der Flucht und der vorangegangenen Laufbahn erscheint hier unerläßlich. Vielleicht sollte hier generell nur von militärischem Widerstand die Rede sein, der dann je nach Lage des Einzelfalls zur 'Resistenz' oder Widerstand erweitert werden könnte.

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Alles in allem bleibt auf diesem Gebiet für die Forschung noch viel zu tun. Pauschalurteile dürfen nicht für die Bewertung die herrschenden Meinungen bleiben, - wie bisher zu oft geschehen -, sondern es muß nach Ausgewogenheit in der Diskussion gestrebt werden. Weder waren die Deserteure generell Widerstandshelden, noch ist deren Rehabilitierung unbedingt ein Akt 'linker' Spinnerei130. Es erscheint gerade im Interesse des demokratischen Rechtstaats, der eine Wehrpflichtigenarmeee unterhält, daß die Deserteure aus diesem Krieg angemessener Würdigung erfahren, - damit legt man doch keine "Axt an die Wurzeln aller militärischen Systeme"131. Die Fahnenflüchtigen verdienen Anerkennung, aber keine Glorifizierung. Der Befund zur NS-Militärjustiz relativiert die Grabenkämpfe für oder gegen das militärische Subsystem der Gesellschaft ohnehin. Wer sich diesen 'Richtern' gegenüber sah, war in erster Linie Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere des von Hitler entfesselten Kriegs. Es bleibt zu hoffen, daß in der Bewältigung von Unrecht in der Gesellschaft, Politik und Justiz der BRD die Lehren aus der Nachkriegszeit für die Zukunft verinnerlicht werden und nicht erneut ein halbes Jahrhundert von Nöten sein wird, um dem nunmehr offen zu Tage liegenden DDR-Unrecht Herr zu werden.

68

Abkürzungsverzeichnis

BGH

BSG

BVerfG

BVG

Bundesgerichtshof

Bundessozialgericht

Bundesverfassungsgericht

Bundesversorgungsgesetz

DVO

Durchführungsverordnung

Diss.

Dissertation

Fn.

Anmerkung

Fs.

HRiLi

Festschrift

Richtlinie Hitlers vom 14. 4. 1940

I.d.F.v.

Insb.

KRG

In der Fassung von

Insbesondere

Gesetz des Alliierten Kontrollrats

KSSVO

KStVO

LG

Kriegssonderstrafrechtsverordnung

Kriegsstrafverfahrensordnung

Landgericht

MagA

MStGB

Magisterarbeit

Militärstrafgesetzbuch

NSAufhG

NS-Aufhebungsgesetz

OLG

Oberlandesgericht

RKG

Reichskriegsgericht

RStGB

Reichsstrafgesetzbuch

RStPO

Reichsstrafprozeßordnung

StGB

Strafgesetzbuch

U.a.

VGH

Unter anderem

Volksgerichtshof

VO

Verordnung

VolkssVO

Volksschädlingsverordnung

WRV

Weimarer Reichsverfassung

Zeitschriften

DJ

Deutsche Justiz

DR

Deutsches Recht

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

MDR

Monatsschrift Deutsches Recht

MGM

NJW

Militärgeschichtliche Mitteilungen

Neue Juristische Wochenschrift

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

VfZG

Vierteljahresheft für Zeitgeschichte

ZsWR

Zeitschrift für Wehrrecht

Weitere Abkürzungen und Kurztitel entnehmen Sie bitte dem Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Gedruckte Quellen

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Fußnoten:

1 Bröckling, U.,/Sikora, M.(Hg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, [ Einleitung ] 7. Ähnlich Schnackenberg, M., 'Ich wollte keine Heldentaten mehr vollbringen'. Wehrmachtdeserteure im II. Weltkrieg: Motive und Folgen untersucht anhand von Selbstzeugnissen, (MagA) Oldenburg, 1997, 48, der im Zusammenhang mit Desertion die Notwendigkeit grundsätzliche Gedanken zu den Themen "Krieg als Mittel der Politik" und "Verhältnis Staat - Bürger" konstatiert.

2 Über die Völkerrechtswidrigkeit der deutschen Kriegsführung bestand zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Zweifel. So schon Ehard, H., Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher und das Völkerrecht, in: SJZ 3 (1948), 353 ff. Zum neuesten Stand vgl. Albrecht, H., Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, (Diss.Hagen) Baden-Baden 1999, 62 f.

3 So bereits Messerschmidt, M., Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Die Freiheit des Anderen. Fs.f. Martin Hirsch, hg.v. Vogel, H.-J. u.a., Baden-Baden 1981, 111 ff hier: 141 f.

4 Zum Begriff siehe Radbruch, G., Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1 (1946), 105 ff, hier: 105 f. Gemeint sind Gesetze, die gegen höherrangiger Menschenrechte - z.B. das Recht auf Leben - verstoßen.

5 So Haase, N., 'Gefahr für die Manneszucht'. Verweigerung und Widerstand an Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven 1939-45, (Diss.) Hannover 1996, 32.

6 Zusammengestellt von Absolon, R. (Hg.), Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundlegender Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958. Vollständige Sammlung der Gesetze und Erlasse in Reichsgesetzblatt Teil I, hg. v., Reichsminister des Innern, Berlin 1922-45.

7 Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 33 insb. Fn. 58. Der Gesamtbestand diesen jetzt in Bundesarchiv Kornelimünster/Aachen lagernden Marinestrafsachen betrug ursprünglich (1947) ca. 115 000 Akten, wovon ca 40.000 nach dem Krieg [ sic ! ] verschwunden sind.

8 Messerschmidt/Wüllner, F., Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987, 14.

9 Wollte der letzte Präsident des RKG, Admiral Bastian, noch nach dem Krieg glaubhaft machen, daß sämtliche Akten auf der Flucht des Gerichts aus Torgau im April 1945 verbrannt worden seien, wird dieser Behauptung von Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, in: VfZG 39 (1991), 379 ff hier: 383 f endgültig widerlegt. Haase berichtet von einen in Prag erhaltenen, beinah vollständigen Urteilssammlung aus den Jahren 1937-45, sowie zahlreichen anderen Strafakten des Gerichts. Die amtliche Sammlung bis 1941 wird somit vervollständigt. Ob das Verlassen des zum Festung erklärten Gerichtsstandes und Straflagers Torgau eventuell als Fahnenflucht anzusehen gewesen wäre, kann hier offengelassen werden, aber daß ein Gericht bemüht ist, seine eigenen Urteile zu verbrennen, spricht nicht gerade für deren rechtliche Qualität.

10 Es sind leider bisher nur zwei schmale Bände publiziert worden: Gritschneder, O., Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte, München 1998 und Wüllner, Hermine, '...kann nur der Tod die gerechte Sühne sein'. Todesurteile deutscher Wehrmachtsgerichte, Baden-Baden 1997. Daraus folgt, daß diese Arbeit sich auch auf Urteilswiedergaben aus der - reichlich vorhandenen - Sekundärliteratur stützen muß.

11 Fahle, G., Verweigern-Weglaufen-Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939-45, Bremen 1990, 13 und viele andere Bearbeiter tendieren dazu, die alltagsgeschichtliche Relevanz der Urteile geringzuschätzen. Wie hier: Knippschild, D., Deserteure im Zweiten Weltkrieg: Der Stand der Debatte, in: Bröckling / Sikora (Hg.), Armeen und ihre Deserteure, 222 ff hier: 228 f.

12 Dazu zutreffend Schnackenberg, 85 f. Unkritisch Fahle, 14, der sich durch einen "solidarischen Gespräch" über sämtlichen Bedenken, die die späteren Selbstauskünfte betreffen, hinwegsetzen zu können glaubt.

13 Schnackenberg, 86.

14 Haase, Alltag in der Katastrophe, Anmerkungen zur Geschichte der Überlebensstrategien deutscher Deserteure im Zweiten Weltkrieg, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte, hg. v., Berliner Geschichtswerkstatt, Münster 1994, 273.

15 Schweling, O.P./Schwinge, E., Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Marburg (2A) 1978. Hier handelt es sich um eine bereits 1960 eingeleitete Selbstdarstellung von ehemaligen Kriegsrichtern, deren Veröffentlichung ursprünglich durch das Institut für Zeitgeschichte vorgesehen war. Nach endlos langen Gutachterstreit und Klageandrohungen, während dessen Schweling ein Herzinfarkt erlitt, gab Schwinge das Buch 1977 selbst heraus. Zum Streit siehe Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 23 ff. Für den Einsatz anderer ehemaliger Wehrmachtsrichter in dieser Bearbeitung vgl. auch Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 10.

16 Schweling/Schwinge, 119 f.

17 Schwinge, Die deutsche Militärgerichtsbarkeit im zweiten Weltkrieg, in: DRiZ 37 (1959), 350 ff hier: 352. Dieser Aufsatz nahm bereits die Grundhaltung des Buches von Schweling/Schwinge im Wesentlichen vorweg.

18 Schwinge, Militärgerichtsbarkeit, 351 f. Schwinges Konstrukt wird noch übertroffen von Schorn, H., Der Richter im Dritten Reich. Geschichte und Dokumente, Frankfurt a/M 1959, 170 ff, der sich zu der Behauptung versteigert, sogar die gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Tätigkeit der Kriegsgerichte im besetzten Frankreich sei rechtmäßig gewesen, weil sie lediglich "Gewaltakte von Franzosen gegen den deutschen Vertragspartner [ sic! ]" verfolgt hätten.

19 So schon Schwinge, MStGB. Kommentar, Berlin (4A) 1940, 194.

20 Schweling/Schwinge, 382.

21 Wette, W., Verweigerung und Desertion im Wandel der öffentlichen Meinung 1980-95, in: Haase/Paul, G. (Hg.), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a/M 1995, 189 ff hier: 190. Vgl. auch Knippschild, 224.

22 Zu den Beginn, der von der NATO-Doppelbeschluß angekurbelten Mahnmal-Bewegung vgl. Wette 190 f. Die Mahnmale ablehnend Seidler, Fahnenflucht. Der Soldat zwischen Eid und Gewissen, München u.a. 1993, 21.

23 Messerschmidt, Militärgerichtsbarkeit, 142 konstituierte bereits 1981 "Vernunft, Anpassung und Justizterror". So auch das richtungsweisende, anläßlich eines Mahnmalinitiatives in Kassel erschienene Arbeit von Kammler, J., 'Ich habe die Metzelei satt und laufe über...'. Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Wiederstand 1939-45, Fuldabrück 1985, 11, wo die Fahnenflüchtigen aber ausschließlich als Widerstandskämpfer dargestellt werden.

24 Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 9 ff, der als bewußte Gegenschrift zur Schwinges Thesen konzipiert worden ist. Vgl. ferner Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung, Baden-Baden (2A) 1997, 17 ff. Obwohl vor allem das letztgenannte Buch gravierende methodische Mängel aufweist, kann der Verdienst Wüllners und Messerschmidts für die Forschung nicht hoch genug geschätzt werden. Breit angelegte Quellenarbeit und umfangreicher Abdruck von Dokumenten entschädigt voll für den etwas unbeholfenen Darstellungsstil. Messerschmidt ist nicht, wie Schwinge, Verfälschung und Wahrheit, Tübingen 1988, 51 meint, in der Forschung heftig umstritten, sondern ein anerkannter Fachmann. Zu dem Verdienst beider Autoren wie hier: Gritschneder, Furchtbare Richter, [ Einleitung ] 10.

25 Vgl. statt vieler Gritschneder, Entschädigung für die Witwen hingerichteter Wehrpflichtiger, in: NJW 46 (1993), 369 ff hier: 371 f. Zur Rechtsprechung vgl. Das Bundessozialgericht 11.9.1991 -9aRV 11/90- BSGE 69, 211 ff hier: 218.

26 Wette, 191 f.

27 So zutreffend Seidler, Fahnenflucht. Der Soldat zwischen Eid und Gewissen, München u.a. 1993, 15.

28 Als Musterbeispiel hierfür ist die Arbeit von Fahle zu nennen, dessen Titel "Verweigern-Weglaufen-Zersetzen" bereits eine dynamische, systematische Widerstandsbewegung innerhalb der Wehrmacht suggerieren will. Das Buch ist mit Mitteln der Landesökofonds der Grünen von Niedersachsen erst ermöglicht worden (Fahle, 16), was in den Ausführungen deutlich sichtbar wird. Zur Fehlinterpretationen bei Fahle vgl. Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 119 f.

29 Die von Wüllner, Das Elend der Geschichtsschreibung, 461 konstituierte Zahl von insgesamt über 300 000 Fahnenflüchtigen ist mit Sicherheit übertrieben. Ganz unzulässig erscheint das Zusammenaddieren von Angaben über monatliche wegen Abwesenheit unerledigt gebliebene Strafsachen, weil von diejenigen, die darunter überhaupt Fahnenflüchtige gewesen waren, viele später gefaßt und verurteilt worden sein könnten.

30 Seidler, Die Fahnenflucht in der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, in: MGM 22 /2 (1977), 23 ff hier: 30.

31 So der Befehl des Kommandeurs der 65. Infanteriedivision vom 15. 11. 1943. Zit. nach: Ebenda, 31.

32 Vgl. die Lagebericht des Kriegstagebuchs des OKW über die Situation in Südosten. Zit. nach: Wüllner, Das Elend der Geschichtsschreibung, 463.

33 Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 90 f. So auch BSGE 69, 217 f.

34 Andere Ansicht bei Schweling/Schwinge, 152. Inwiefern hier Militärrichter tätig waren, läßt sich nicht mehr sagen. Es spricht aber nichts dafür, daß die Wehrmachtjustiz grundsätzlich nichts mit Standgerichten zu tun gehabt hätte.

35 So zutreffend Wüllner, Das Elend der Geschichtsschreibung, 452.

36 Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 29 ff. Bei den Briten kam ebenfalls nur ein einziger Todesurteil wegen Fahnenflucht vor. Für UdSSR und Frankreich liegen leider keine Zahlen vor; beim erstgenannten dürfte eine mit der Wehrmacht durchaus vergleichbarer Zahl angenommen werden.

37 Messerschmidt, Militärgerichtsbarkeit, 112 und 137. Siehe auch den vielsagenden Tagesbefehl der Nordseestation vom 11. 8. 1941, in welchem meuternder Matrosen vom 1918 unter der Überschrift "Aufrechterhaltung der Manneszucht" abgebildet worden sind (abgedruckt in Buchumschlag von Fahle).

38 Am 13. 5. 1945 stellte die kanadische Lageraufsicht sogar Waffen und ein Fahrzeug zwecks Hinrichtung eines Fahnenflüchtigen zur Verfügung (LG Köln 19. 12. 1997 -113 33/97- in: NJW 51 (1998), 2688 f). Vgl. auch Gruchmann, Ausgewählte Dokumente zur deutschen Marinejustiz im Zweiten Weltkrieg, in: VfZG 26 (1978), 433 ff hier: 476 ff, mit weiteren Nachkriegs - Todesurteilen unter alliierter Aufsicht. Hier müßte die Haftungsfrage aufgeworfen werden.

39 Die einzelnen deutschen Staaten hatten vor 1871 entsprechende Regelungen, etwa das preußische MStGB von 1845 oder das bayerische MStGB von 1869, erlassen, das die Grundlage für das Reichsmilitärstrafrecht ab 1872 abgaben. Vgl. Romen, A./Rissom, C., MStGB. Kommentar, Berlin (2A) 1916, 15 ff.

40 Zur Diskussionen über die Gestaltung der Wehrverfassung in der Weimarer Republik, die im Wesentlichen den heutigen Verzicht auf eine Bundeswehrjustiz begründen vgl. Semmroth, W., Die Marinegerichtsbarkeit in Wilhelmshaven, in: Justiz an der Jade, hg. v. Reinhardt, W./Czoska, F., Wilhelmshaven 1985, 325 ff hier: 341 f.

41 RGBl I 1940, 1347.

42 Abgebaut wurde insbesondere eine überhöhte Kasuistik des alten MStGB. Strafandrohungen für unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, Feigheit, Drohung und Tätlichkeit gegen Vorgesetzten, militärischen Aufruhr, Verletzungen der Aufsichtspflichten und Nichtmeldung einer Straftat wurden den Kriegsbedingungen angepaßt, so jedenfalls Rittau, M., MStGB. Kommentar, Berlin (3A) 1941, 7.

43 In der Zeit zwischen 1933 und 1943/4 erhöhten sich die Todesstrafandrohungen in RStGB ohne Nebenstrafgesetzen von 3 auf 46. Siehe dazu Broszat, M., Zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Reich, in: VfZG 6 (1958), 390 ff hier: 397.

44 Rittau, 116 f.

45 Schwinge, MStGB, 197. Vgl. aber auch schon Romen/Rissom, 269, vom letztgenannten das Zitat.

46 RGBl I 1940, 1353. Eine Fußnote zum formellen Gesetz mit materieller Rechtskraft dürfte an und für sich rechtlich problematisch gewesen sein. Des Weiteren hob die Richtlinie das Abwägungsgebot bezüglich des Einzelfalls zum Teil auf. Dieses Problem wird bis heute nicht recht erkannt.

47 So aber wohl Schnackenberg, 50 f und Seidler, Fahnenflucht, 23 f. Die tatsächliche Verschärfung ist eher in den Nebenstrafgesetzen (KSSVO, VolkssVO etc.) und in der Einbruch des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses im gesamten Rechtsdogmatik und dann dem Gedanken der Schnelljustiz angepaßten Verfahrensrecht zu suchen.

48 Vgl. Romen/Rissom, 298 ff.

49 So Schweling/Schwinge, 272. Nach damals geltendem Recht trat Volljährigkeit erst mit 21 ein.

50 RGBl I 1939 , 1455. Vgl. auch Absolon, 51 ff mit Wiedergabe der aufschlußreichen amtlichen Erläuterung.

51 Nach Rothmaler, C., 'Weil ich Angst hatte, daß er erschossen würde'. Frauen und Deserteure, in: Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im 'Dritten Reich', hg. v. Ebbinghaus, A./ Linne, K., Hamburg 1997, 461 ff hier: 466 wurden von den zwischen 1939 und -45 vor dem Hamburger Sondergericht angeklagten Freundinnen von Deserteuren 60 % aufgrund des § 5 KSSVO verurteilt, die restlichen 40 % wegen Beihilfe zum §§ 64 und 69 MStGB bestraft. Vgl. auch Schwinge, Manneszucht, Ehre und Kameradschaft als Auslegungspunkte im Militärstrafrecht, in: ZsWR 2 (1937/8), 29 ff hier: 34 f, der großen Wert auf die Bestrafung von hilfsbereiten Angehörigen des Flüchtigen legte.

52 Vgl. die DVOe bei Absolon, 57 ff.

53 So der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Detlef Garbe. Zit. nach: Haase, RKG, 388.

54 Vgl. u.a. § 2 RStGB, §§ 170a und 267a RStPO und § 4 VolkssVO. Was unter "gesundem Volksempfinden" nun tatsächlich zu verstehen war, war unter den Juristen unklar. Freisler sprach von "Wertungen der völkischen Gemeinschaftsgesittung", dessen Verletzung zu einem "Verdammungsurteil des Volkes" führe, das der Richter zu verkünden und zu vollstrecken hatte (Eine entscheidende Rechtsfrage des Kriegsstrafrechts, in: DJ 102 (1940), 885 ff hier: 886 und 917). Andere, der amtlichen Begründung (Thierack) analog folgende Ansicht bei Rittau, 44, der eine örtlich und sachlich begrenzten Empfinden eines Teils des Volkes gelten lassen wollte, also für das Militär demnach nur das "militärisches Empfinden" ausschlaggebend sein sollte. Die amtliche Begründung zur § 2 RStGB hielt wörtlich die Richter an: "ein Werturteil darüber zu fällen, ob das Verhalten gemessen an der völkischen und deutschen Rechtsidee, Strafe verdient". Die Begründung zit. nach: DJ 97 (1935), 29.

55 RGBl I 1939, 1457 ff. Zwischen 1933 und 1938 hatten die alten kaiserlichen Verfahrensbestimmungen gegolten.

56 Der Fall ist geschildert bei Messerschmidt, Militärgerichtsbarkeit, 131 f.

57 Freisler, Blitzartig muß die Strafe den Verbrecher treffen, in: DJ 100 (1938), 1859 f. Siehe auch die Melioration bei Schweling/Schwinge, 27: der "gewisse Vereinfachungen und Lockerungen der Förmlichkeiten" konstatiert.

58 So Lehmann, R., Die Aufgaben des Rechtswahrers der Wehrmacht, in: DR 9 (1939), 1265 ff hier: 1266 unter ausdrücklichen Bezugnahme auf Freislers Vorstellungen.

59 Der § 51 KStVO stellte die Bestellung des Verteidigers praktisch dem Ermessen des Gerichts anheim. Gemäß § 49 Abs. 1 war für Fälle, in welchem ein Todesurteil zu erwarten war, ein Verteidiger zu bestellen. Selbst Schweling/Schwinge, 322 geben zu, daß in den von ihnen überprüften 1000 Verfahrensakten 148 Mal kein Verteidiger zugegen war, obwohl die vorgeworfene Tat todesstrafbewährt gewesen ist.

60 Semmroth, 356 und 380 f konstatiert eine Abnahme der Bemühungen der Verteidiger zum Kriegsende hin. So hieß es in einem Rechtsanwaltsbrief eines Marinegerichts vom Oktober -44: "Der Verteidiger hätte lieber daran denken sollen, daß man im fünften Kriegsjahr Richter und Staatsanwälte nicht mit unangebrachten Gnadengesuchen und Beschwerden [...] belasten soll".

61 Das kam in der letzten Kriegsphase häufig vor. So wurde am 1. 3. 1945 mit Hilfe von § 5a KSSVO wegen unerlaubte Entfernung die Todesstrafe verhängt, weil der Angeklagte "ein unverbesserlicher, unerziehbarer Verbrecher [sei] für den in der deutschen Volksgemeinschaft [...] kein Raum mehr ist" (Zit. nach: Haase, RKG, 388). Drei Tage später verurteilte das RKG einen anderen, bereits zweimal 1944 wegen unerlaubten Entfernung vorbestraften Flüchtigen nach § 70 MStGB zum Tode (Zit. nach: Wüllner, Hermine, 254 ff).

62 Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz 42 und mit ihnen das BSG 69, 217 nehmen irrtümlich an, erst der Erlaß Hitlers vom 6. 1. 1942 habe es ermöglicht, Rechtskräftige Urteile durch übergeordnete Gerichtsherren aufzuheben. Dabei stellt der Erlaß nur eine Konkretisierung des § 1 Abs. 2 Nr. 4 in Verbindung mit §§ 79, 80 KStVO dar, das schon beim Kriegsbeginn geltendes Recht war. Der Erlaß mit Folgeerläuterungen ist abgedruckt bei Absolon, 231 ff.

63 Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 40. Andere Ansicht bei Schweling/Schwinge, 24. Wegen des Instituts des Gerichtsherrn kann hier nicht einmal von formalen Unabhängigkeit (so aber Knippschild, 227) die Rede sein.

64 Lehmann, 1268.

65 Vgl. die Bestimmungen über das Verhalten von Offizier und Mann in Krisenzeiten des Chefs des OKH vom 28. 1. 1945 bei Absolon, 93 f.

66 Siehe die vierte DVO zum KStVO vom 1. 11. 1939 abgedruckt bei Ebenda, 143.

67 Z.B. Fliegendes Standgericht des 'Führers' nach dem Erlaß von 9. 3. 1945 (Ebenda, 221). Das war freilich nicht die einzige Sofortjustiz, sondern nur ein Zusatz der bereits 1940 einsetzenden Merkblätter, Befehle und Erlasse, die Standgerichtsverfahren für aller Fälle vorsahen, wenn ein Gerichtsverfahren nicht möglich sein sollte. Vgl. die Merkblätter einerseits für den Regimentskommandeur als Gerichtsherrn und andererseits über die Berufung von Standgerichten (beide 1940) sowie der Runderlaß Görings vom 1. 6. 1944 (allesamt abgedruckt bei Ebenda, 217 ff).

68 Schnackenberg, 135 und 143. Weitere eindeutige nachweise bei Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 53 Fn. 49.

69 Zit. nach: Vultejus, U., Kampfanzug unter der Robe. Kriegsgerichtsbarkeit des zweiten und dritten Weltkrieges, Hamburg 1984, 100. Der Verhandlungsstil erinnert an die überlieferten Fernsehaufnahmen von VGH-Prozessen, in welchem Freisler die Angeklagten regelmäßig als "schäbige Lumpen" beschimpfte. Zur VGH-Urteilen vgl. auch die Abdrücke bei Ortner, H., Der Hinrichter. Roland Freisler - Mörder im Dienste Hitlers, Göttingen (2A) 1995, 151 ff.

70 Zit. nach: Haase/Oleschinski (Hg.), Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug, Leipzig 1993, 109.

71 Vgl. die Urteile des Gerichts der Division 177 (Wien) in welchem Schwinge und Paschinger abwechselnd als Verhandlungsleiter oder Ankläger auftraten. Abgedruckt in Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 101 und Wüllner, Das Elend der Geschichtsschreibung, 488 ff.

72 Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 136. Im Ergebnis ähnlich Seidler, Fahnenflucht, 36.

73 Selbst der sonst sorgfältige Arbeit von Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 60 weicht auf nicht belegten Formulierungen wie "nicht wenige" oder "beträchtliche Zahl" aus. Vgl. auch Schnackenberg, 155.

74 Zur Definitionsproblematik Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 166 ff, der jedoch im Ergebnis nicht ganz zu überzeugen vermag. Zusammen mit Messerchmidt/Wüllner, 12 spricht er von einen undeutlichen, hypothetischen "Widerstandspotential".

75 Zusammengestellt nach Schnackenberg, 89 ff. Die Interviews sind im Jahr 1996 erfolgt, also nach über 50 Jahren.

76 Zusammengestellt nach Wüllner, Hermine, 40 ff und Gritschneder, Furchtbare Richter, 71 ff.

77 So auch Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 134 insb. Fn. 45, mit Verweis auf einem, nach der Flucht in die Schweiz verfaßten Verhörprotokolls eines "nicht mehr für Hitler kämpfen" wollenden Angeklagten, der dann anschließend nach dem Auslieferungsverfahren vor Kriegsgericht schlechter Behandlung als Fluchtgrund ausgab. Es kam auch vor, daß polnische Angehörige der Wehrmacht auf Unrechtmäßigkeit der Einberufung bestanden haben. Zwei solcher Fälle sind kurz angesprochen bei Knippschild, 228 und 232 f.

78 So auch die Überlegungen von Schnackenberg, 161. Vom Kammler, 30 f ist ein Fall dokumentiert, in welchem der Deserteur auf eine Kriegsgerichtsverhandlung gegen einen Kameraden als Auslöser der Fluchtgedanken angab.

79 Ebenda, 19. Leider bleiben die Motive der restlichen 23 Deserteure unerwähnt, entweder weil die Quellen sie verschweigen, oder weil sie die Glorifizierung der Deserteure als Widerstandskämpfer durch den Autor nicht dienlich waren. Vgl. ferner Seidler, Eid und Gewissen, 316 der bezüglich den in die Schweiz geflohenen Soldaten 14% politische Motive ermittelt hat.

80 Haase, Alltag in der Katastrophe, 274 betont das planvoller Handeln. Zahlreiche Urteile berichten aber auch von ziellosen Herumirren des Deserteurs im Hinterland der Front oder in der Heimat. Die Fluchten begannen oft als unerlaubte Entfernungen und wurden erst allmählich zum Fahnenflucht, weil beim etwaigen Rückkehr das Militärgericht gefürchtet wurde. Dazu Knippschild, 233.

81 Das Stereotype Bild vom "feigen Deserteur" wird vom Schnackenberg, 151 aus diesem Grund verworfen. Eine abschließende Erklärung anhand von Quellen ist kaum möglich, weil die Flüchtigen entweder aufgrund des Befehlsnotrechts des § 124 Abs.2 MStGB sofort erschossen oder spurlos verschwunden sind. Vgl. auch OLG Stuttgart, in: SJZ 2 (1947), 204 ff. Im Ergebnis ähnlich Haase, Alltag in der Katastrophe, 274.

82 So das Ergebnis von Schnackenberg, 146 ff.

83 Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 135.

84 Urteil des Gerichts der Kommandatur des rückwärtigen Armeegebiets 550 in Beloretschenskaja (Kaukasus) vom 12. 10. 1942 - St.L. 356/42 - zit. nach: Wüllner, Hermine, 170 ff.

85 Zu den Judenerschießungen nahm das skandalöse Urteil folgendermaßen Stellung: "bei der herrschenden, allgemeinen Einstellung zur Judenfrage [ kann ] nicht auf einen starken verbrecherischen Willen geschlossen werden". Der eindeutig vorbestrafte Soldat, der außerdem noch seinen Komplizen zum Flucht verleitet hatte, wurde nur zur einer Freiheitsstrafe verurteilt.

86 Zur diesen weit verbreiteten 'Telegrammtaktik' siehe Rothmaler, 468.

87 Ebenda, 472. Die Loyalität der Helferinnen war durch Ambivalenz gekennzeichnet; einerseits von Angst vor Gestapo, andererseits von Sorge um den geflohenen Soldat. Manchmal zeigten sie diesen auch an.

88 Das bereitete den Kommandaturen stets Sorgen, wie aus einigen Erlässen an Schreibstubenpersonal bezüglich Aufbewahrung und Ausstellung von Marschbefehlen hervorgeht. Nachweise bei Seidler, Fahnenflucht, 37 f.

89 So der Bericht des wegen Freundschaft zu den Widerstandskämpfer Admiral Canaris 8. 4. 1945 in KZ Flossenbürg hingerichteten Generalstabsrichter Sack aus dem Jahr 1943. Zit nach: Haase, Alltag in der Katastrophe, 275.

90 Rothmaler, 469. Ein abenteuerlicher Fall, in welchem der Deserteur zwei erst während der Flucht ihm bekanntgewordenen Frauen ausgenutzt hatte, ist geschildert im Urteil des Gerichts beim Kommandanten des rückwärtigen Armeegebiets 585 vom 23. 3. 1945 -St.L.II 175/45- zit. nach: Wüllner, Hermine, 196 ff.

91 Für das exzessive Ermorden von Vorgesetzten vgl. das Urteil des Gerichts der 6. Gebirgs-Division 9. 5. 1945 -St. 104/45- zit. nach: Gritschneder, Furchtbare Richter, 108 ff.

92 Ein wenig verwirrend Fahle, 122, der hier die Art der Straftaten zur Merkmalen von Widerstand hochstilisiert.

93 So das Gericht des 2. Admirals der Nordsee - St.L.J.VII Nr.9/45 - zit. nach: Gritschneder, Furchtbare Richter, 71 ff. Der gesamte Verfahrensakte ist abgedruckt bei Gruchmann, Marinejustiz, 472 ff. Zu diesem Fall vgl. auch Semmroth, 369 ff.

94 Außer §§ 69 und 70 MStGB wurden keine weitere Normen in der Begründung herangezogen. Zur möglichen Anwendbarkeit des § 89 RStGB und der §§ 5 Abs. 1 und 5a KSSVO vgl. Rittau, 36 ff.

95 Ähnlich auch BSGE 69, 213 f für die gesamte Endphase des Kriegs 1944/5.

96 Zit. Nach: Gruchmann, Marinejustiz, 476.

97 Ebenda, 472 spricht von "Atmosphäre des Leistungszwangs". Andere Ansicht bei Semmroth, 377 f, der zutreffend darauf hinweist, daß aus dem Akten derartiges gerade nicht hervorgehe, und daß es sich vielmehr nur zeige, wie die Wirren der letzten Kriegsmonate im Einzelfall durch das Gericht unberücksichtigt geblieben seien.

98 So zutreffend Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 133.

99 Solche Standardurteile waren in der gesamten Tätigkeit der Militärgerichte zumal für die Endphase des Krieges nichts ungewöhnliches. Vgl. Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtjustiz, 104 und Haase, RKG, 394, mit Nachweisen auf ebenfalls wortwörtlich identischen Strafzumessungsgründen.

100 So etwa bei Radbruch, 106. Vgl. auch Albrecht, 67 f.

101 Vgl. § 3 Nr. 1 Bundeszentralregistergesetz (BGBl I 1985, 1229).

102 Das Urteil ist abgedruckt in: SJZ 2 (1947), 323 ff. Siehe auch ablehnend Arndt, A., [ Urteilsanmerkung ], in: Ebenda, 330 ff hier: 333, der die Beteiligung der deutschen Soldaten am völkerrechtswidrigen Krieg nur aus Rechtsirrtum oder Notstand rechtfertigt und des Weiteren ausführt: "Eine 'Fahnenflucht' aus diesem Kriege war nicht rechtswidrig, d.h. rechtlich nicht möglich; eine Verurteilung [deshalb] konnte [...] nur auf Rechtsirrtum beruhen".

103 Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone (Strafsachen), Hg. v. Richtern des Gerichtshofes, Hamburg u.a. 1949, 227 f. Der nach langen Berufungs- und Revisionsstreit ergangenes Grundsatzurteil des BGH vom 29. 5. 1952 -2 StR 45/50- abgedruckt in MDR 6 (1952), 693 ff leitete eine Entwicklung der Rechtsprechung ein, die jeder Hoffnung der Deserteure auf Rehabilitation zu Nichte machte.

104 Ebenda, 695. Vgl. auch die Kritik bei Schultz, G., [ Urteilsanmerkung ], in: ebenda, 695 f. Dort wurde jedoch nur die vom BGH erörterte Möglichkeit, den Richter zu bestrafen als abwegig kritisiert.

105 Vor Konsequenzen einer so engen Auslegung warnte schon Radbruch, 108. Die herrschende Meinung hingegen hielt an dieser Auffassung fest und versuchte ununterbrochen, die formelle Rechtmäßigkeit der NS-Gesetze nachzuweisen. Siehe u.a. Evers, H-U., Die Strafbarkeit des Richters wegen Anwendung unsittlicher Gesetze, in: DRiZ 33 (1955), 187 ff hier: 188 f.

106 Zu den tatsächlichen Unmöglichkeit einen ideologischen Unrechtsstaat dienenden Richter Rechtsbewußtsein nachzuweisen vgl. Wassermann, R., Rechtsblindheit? - Müßten Roland Freisler und Hilde Benjamin straffrei bleiben?, in: NJW 47 (1995), 2965 f.

107 So der Kriegsrichter Filbinger - spätere Baden-Württembergische Ministerpräsident - Zit. nach: Ortner, 262. Filbinger mußte allerdings sein Amt 1978 niederlegen, weil seine Todesurteile bekannt wurden (siehe oben Rdnr. 41).

108 BSG 19. 12. 1957 - 8 RV 317/55 - BSGE 6, 195 ff hier: 197.

109 BSGE 69, 216 f. Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Urteile bereits ab Kriegsbeginn (-39) wegen eklatanter Verfahrensmängel des KStVO nicht minder rechtswidrig (siehe oben Rdnr. 36 ff).

110 Ebenda, 218. Vgl. aber auch die ablehnende Urteilsanmerkung von Schwinge in: NJW 45 (1993), 368 f.

111 Vgl. zum neuesten Stand Knippschild, 244 ff. Beharrlich dagegen noch Seidler, Eid und Gewissen, 21.

112 BGH 16. 11. 1995 -5 StR 747/94 - BGHSt 41, 317 ff hier: 339 f.

113 Ebenda, 340. Diesen Rechtssprechung hat sich auch das Bundesverfassungsgericht 24. 10. 1996 -BvR 1851 ff- BVerfGE 95, 96 ff hier: 134 f mit ausdrücklichen Hinweis auf die NS-Justiz angeschlossen.

114 BGBl I 1998, 2501.

115 Hitler, A., Mein Kampf. Ungekürzte Gesamtausgabe, München (484/8 A) 1939, 586 f [ Hervorhebungen im Original ] sah während des I. Weltkrieges "zehntausend[e] von Deserteuren", die die Armeen des "lichtscheuen Gesindels" [ gemeint sind die Weimarer Staatsgründer ] verstärkten und zum Untergang Deutschlands im Sinne der 'Dolchstoßlegende' beigetragen hätten.

116 So schon Semmroth, 384.

117 Nicht nur das Strafrecht, sondern die gesamte überlieferte Rechtsgefüge wurde mit dieser Methode gesprengt. Siehe dazu Ebel, Rechtsgeschichte Bd. 2, Heidelberg 1993, 216, der aber leider das Militärstrafrecht außen vor läßt.

118 RGBl I 1935, 609.

119 So ein Erlaß der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Dönitz vom 27. 4. 1943. Zit nach: Gruchmann, Marinejustiz, 469. Des Weiteren heißt es dort: "Fahnenflucht kostet den Kopf [...] das Versagen solcher treulosen Schwächlinge [ soll ] allein an der bis zum Tode getreuen Einsatzbereitschaft aller anständigen Soldaten" gemessen werden.

120 Andere Ansicht bei Fahle, 56 f, der das Militär überhaupt in einem Topf mit "Faschismus" wirft.

121 Schwinge, Manneszucht, Ehre und Kameradschaft, 31 ff. Siehe auch Derselbe, MStGB, 5 f.

122 Insoweit richtig Gruchmann, Marinejustiz, 453 f.

123 Statt vieler Gritschneder, Furchtbarer Richter, [ Einleitung ] 7. Andere Ansicht bei Schwinge, [ Urteilsanmerkung ], 369.

124 Fahle, 9 und Vultejus, 52 machen zu Recht auf diesen Befund aufmerksam.

125 Für Straf- und Sondergerichte siehe Schorn, 63. Es kann hier von ähnlichen Lücken, wie beim Wehrmachtjustiz ausgegangen werden. Genaue Zahlen für VGH bei Ortner, 314. Vgl. auch oben Seite 7 f.

126 Ein bisher noch sehr ungenügend geforschtes Gebiet. Bekannt ist ein Fall von einem Richter Roskothen, tätig beim Gericht des Kommandanten von 'Großparis' vom 1941 bis -44, der unter den von ihm verurteilten Franzosen so etwas wie Popularität und Sympathie durch milde Urteile erzeugt habe. Dokumenten dazu bei Schorn, 464 ff. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Unseriosität von Schorns Ausführungen insgesamt dürfte hier das Vorgehen der Militärgerichte von exzessiven Härte gekennzeichnet worden sein. Vgl. auch Wüllner, Das Elend der Geschichtsschreibung, 298 f.

127 So irrtümlich Wette, 194. Es wird expressis Verbis nur von solcher Möglichkeit gesprochen (vgl. das Zitat oben Rdnr 59).

128 So wohl auch Haase, 'Gefahr für die Manneszucht', 282, obwohl bei ihm die Gewichtung zu sehr in der Luft hängt.

129 Im Ergebnis ähnlich Knippschild, 235.

130 Seidler, Eid und Gewissen, 20, der, bei denen den historischen Sachverhalt kritisch betrachtenden Bearbeitern irrigerweise nur Opposition zur Bundeswehr pauschal vorwirft.

131 So irrig bei ebenda, 17. Gerade der mündige Soldat im Dienst einer Demokratie könnte durchaus die Ablehnung des 'Hitlerkriegs' mit allen Mitteln schätzen.

 

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Diese Seite ist vom 30. Juni, 2002