I. Einleitung | |
II. Politik und Recht | |
III. Recht und Politik | |
IV. Schluß |
Über das Verhältnis von
Recht und Politik am Beispiel des Nichtehelichenrechts unter besonderer
Berücksichtigung der Rechtsprechung zum Code civil in den rheinpreußischen
Territorien | 1 |
I. Einleitung |
Im Jahre 1838 wandte sich ein berühmter Gelehrter an die Gesetzgeber seiner Zeit. Der Heidelberger Professor Karl Salomo Zachariae von Lingenthal1 stellte in einer Abhandlung die grundsätzliche Frage, ob uneheliche Kinder Rechte gegen ihre Väter haben sollten und beantwortete sie mit nein.2 Die Frage war nicht originell und Zachariaes Antwort wäre es auch dann nicht gewesen, hätte sie anders gelautet.3 Bemerkenswert ist Zachariaes Abhandlung aus einem anderen Grund. Der Professor betätigte sich nämlich als Rechtssoziologe avant la lettre. Dazu kam es, weil Zachariae auch prüfte, ob die Vaterschaftsklage aus dem Standpunkte der Politik geboten sei. Liegt sie so fragte sich Zachariae in dem Interesse des Staates4? Konkret: Führt die Möglichkeit der Vaterschaftsklage zu einer geringeren Zahl nichtehelicher Geburten? Gibt es weniger Findelkinder?5 Gehen die Kindsmorde zurück? Allgemein: Wie verhält sich das Nichtehelichenrecht als Mittel der Politik zur Nichtehelichkeit als gesellschaftlichem Phänomen? Zachariae vertiefte sich in die verfügbaren Statistiken6 und gelangte zu der Erkenntnis, der Gesetzgeber könne auf dem Gebiet des Nichtehelichenrechts eigentlich machen, was er wolle - auf das Übel der nichtehelichen Kinder habe er keinen Einfluß. "Uneheliche Kinder sind ohnehin dem Unglücke verfallen,"7 stellte der Gelehrte fest und gab den Gesetzgebern seiner Zeit deshalb - nicht resigniert, sondern nüchtern und keineswegs rechtsunpolitisch - zu bedenken: Es giebt gewisse Übel, welche einen Staat gerade deswegen unabwendbar treffen, weil er in andern Beziehungen Fortschritte macht. Ein solches Übel ist die Vermehrung der Zahl der unehelichen Kinder, als eine Folge von der Zunahme der Volkszahl. Für die Beseitigung solcher Übel kann die Regierung unmittelbar wenig oder nichts thun.8 | 2 |
Zachariaes empirisch fundierter Fatalismus konnte die Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts nicht lähmen. Bekanntlich gehörte das Nichtehelichenrecht zu den Gebieten, auf denen die Gesetzgeber jener Zeit besonders fleißig waren.9 Wie kann man Zachariaes rechtspolitischen Mißerfolg erklären? War der Politik seine Studie entgangen? Trauten die Gesetzgeber den Statistiken des Professors nicht? Interpretierten sie die Zahlen anders? Vielleicht. Vielleicht gab es aber auch Gründe, die von vornherein ausschlossen, daß sich die Politik von Studien über die Wirksamkeit der Gesetze irritieren ließ. Diesen Gründen soll im folgenden nachgegangen werden. | 3 |
II. Politik und Recht |
1. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Gesetzes10; es ist das Jahrhundert der Einheit von Politik und Recht, genauer: das Jahrhundert des Gesetzes als Gestaltungsmittel der Politik und damit das Zeitalter der Herrschaft von der Vorstellung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Politik und Recht. So mochten viele Menschen im 19. Jahrhundert ihr eigenes Zeitalter beurteilt haben. Diese Interpretation der eigenen Epoche ist auch durchaus nachvollziehbar, hält man sich vor Augen, wie gründlich sich die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert als selbstverständliche Routineangelegenheit des Staatslebens durchgesetzt und wie produktiv der Gesetzgeber gearbeitet hat. Dabei ging es auch, aber nicht ausschließlich um die Befriedigung eines gesellschaftlichen Regelungsbedarfs. Je selbstverständlicher das Geschäft der Gesetzgebung nämlich wird, desto mehr gerät in Vergessenheit, daß der Erlaß von Gesetzen immer auch eine Selbstbestätigung des Steuerungsanspruchs der Politik darstellt. Die Entscheidung über die Geltung von Rechtsnormen enthält nicht nur eine Entscheidung über den Inhalt dieser Normen, sondern auch die Entscheidung über die Kompetenz des Entscheiders. Im Jahrhundert des Gesetzes demonstrierte die soziale Gruppe der maßgeblichen Politiker, daß sie das Recht machte - und nicht etwa die Professoren oder die Richter. Am ungehindertsten konnte sich der Anspruch der Herrschaft der Politik über das Recht wohl im öffentlichen Recht durchsetzen.11 Hier fand der Gesetzgeber im 19. Jahrhundert freiere Räume, hier konnte er ungehinderter gestalten. Im Privatrecht, d.h. auf dem traditionellen Boden juristischer Dogmatik, waren die Gestaltungsspielräume der Politik kleiner. Die Verfasser des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 und des Codecivil von 1804 konnten hier an vorhandenes, über Jahrhunderte tradiertes, hochentwickeltes Recht anknüpfen. Sie hatten dabei freilich auch keine andere Wahl, da durch politische Entscheidung bekanntlich alles Recht zwar änderbar ist, aber nicht alles auf einmal. Mit diesem Folgeproblem der Positivierung des Rechts arrangierte sich die Politik auf dem Gebiet des Privatrechts, indem sie lediglich punktuell den Anspruch auf Entscheidung über Rechtsinhalte demonstrierte. Dies geschah sowohl in Preußen als auch in Frankreich u.a. im Nichtehelichenrecht. Hier brachen die Gesetzgeber in beiden Territorien radikal mit dem tradierten Recht. Zwar waren die beiden Gesetzgebungen auf diesem Gebiet inhaltlich sehr verschieden, es war aber kein Zufall, daß die Gesetzgeber sowohl in Preußen als auch in Frankreich gerade das Nichtehelichenrecht umgestalteten. Die Voraussetzungen für ein solches Vorhaben waren günstig: Die unmittelbar Betroffenen stellten nämlich keine gesellschaftlich einflußreiche Gruppe dar; zu einem guten Teil gehörten sie der sozialen Unterschicht an.12 Weiter konnte das Nichtehelichenrecht grundlegend reformiert werden, ohne damit dogmatisch unüberblickbare Folgeprobleme für das übrige (Privat-) Rechtssystem auszulösen. Und schließlich war das Thema Nichtehelichkeit auch ideologisch attraktiv. Es bot wie kaum ein anderes Rechtsgebiet dem Gesetzgeber eine Bühne, auf der er sich in einem moralischen Kostüm in Szene setzen konnte. Die Kostüme unterschieden sich freilich in Preußen und Frankreich. Der aufgeklärte Absolutismus hatte im ALR ein Nichtehelichenrecht geschaffen, das die nichtehelichen Kinder und die ledigen Mütter schützte, nicht zuletzt um das Delikt des Kindsmords an seiner sozialen Wurzel zu bekämpfen.13 Deshalb war die Vaterschaftsklage in Preußen nicht nur zulässig,14 das ALR bestimmte sogar, daß mehrere mögliche Väter solidarisch auf Alimentation ihres möglichen Kindes haften sollten.15 Ganz anders im Code civil.16 Hier galt der Grundsatz von Art. 340 : La recherche de la paternité est interdite17. Durch dieses Verbot der Vaterschaftsklagen wollte der bürgerliche Gesetzgeber die Ruhe der Familien schützen, die früher angeblich durch skandalöse Unterhaltsprozesse gestört worden sei.18 | 4 |
2. Aus rechtshistorischer Sicht kann nicht behauptet werden, daß es existierende gesellschaftliche Mißstände waren, die den preußischen oder französischen Gesetzgeber zu ihrer Regelung veranlaßt haben. In Preußen ist am Ende des 18. Jahrhunderts eine Zunahme der Kindsmorde nicht belegbar19, und in Frankreich entzieht sich das gesetzgeberische Motiv der Bekämpfung der Vaterschaftsprozesse als einem fléau de la société20 von vornherein der Möglichkeit der empirischen Kontrolle. Die maßgeblichen Änderungen lagen vielmehr im Blick des Gesetzgebers auf das Nichtehelichenrecht. Dazu gehörte nicht zuletzt die praktische Betätigung des Anspruchs der Politik auf Gestaltung privatrechtlicher Materien.21 Er setzte sich in Preußen nochmals im Jahre 1854 durch. Diesmal ging es um die Beseitigung des aufklärerischen Nichtehelichenrechts.22 Das Argument der Bekämpfung von Kindsmorden war sechzig Jahre später aus der Mode gekommen.23 Dafür wurde jetzt, wie zuvor in Frankreich, die Rechtsstellung der ledigen Kinder beschränkt, um den Friede[n] und das Glück vieler Familien zu schützen24.25 | 5 |
3. Die Neugestaltungen des Nichtehelichenrechts in Frankreich und in Preußen könnte man als Reaktionen des Gesetzgebers auf einen Wertewandel in der Gesellschaft deuten.26 Aber Werte wandeln sich in der Gesellschaft ständig und auf allen Gebieten. Wie kann man sich erklären, daß gerade das Nichtehelichenrecht der besondere Gegenstand der Bemühungen des Gesetzgebers gewesen ist? Die Antwort liegt im Verhältnis von Politik und Recht. Die Reformen erfolgten nicht, weil sich die Werte auf dem Gebiet des Nichtehelichenrechts besonders schnell gewandelt haben, und schon gar nicht, weil das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der nichtehelichen Kinder gewesen ist; das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Gesetzes und das Nichtehelichenrecht stellte ein vorzüglicher Ansatzpunkt für die Politik dar, um zu zeigen, wie sie sich des Gestaltungsmittels des Rechts bediente.27 | 6 |
III. Recht und Politik |
1. Wenn das 19. Jahrhundert das Jahrhundert des Gesetzes und damit der Gesetzgeber gewesen sein soll, dann muß es auch das Jahrhundert der Gesetzesinterpretation und damit (in erster Linie) der Richter gewesen sein. Da Auslegung von Texten nichts anderes als Produktion neuer Texte an Hand alter ist28, konnten die Anwender des Gesetzes im 19. Jahrhundert nicht weniger produktiv sein als die Gesetzgeber. Nur wo das Verhältnis zwischen Politik und Recht nicht vom Verhältnis zwischen Recht und Politik unterschieden wurde, konnte dieser konjunkturelle Zusammenhang zwischen Zunahme der Gesetzestexte und Zunahme der Gesetzesinterpretationstexte irritieren. Ein bekanntes Beispiel ist Napoleons Reaktion auf das Erscheinen des ersten Kommentars zu seinem Gesetzbuch.29 Mon Code est perdu! soll der Kaiser bestürzt festgestellt haben.30 Mit diesem Kommentar eines Kommentars formulierte Napoleon die (theoretische) Einsicht eines Gesetzgebers, daß die Herrschaft über die Interpretation von Texten ganz andere Strategien erfordert als die Produktion dieser Texte.31 | 7 |
2. Gehen wir im folgenden der Produktion der Rechtsanwender nach und richten wir unser Augenmerk auf die Rolle der Politik in der Rechtsprechung. Dies soll vor allem am Beispiel der Rechtsprechung zum Nichtehelichenrecht des Code civil in den linksrheinischen Territorien Preußens geschehen. In diesen Gebieten, die auf dem Wiener Kongreß Preußen zugesprochen worden waren, hatte der Code civil in der französischen Originalfassung bis zum Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 gegolten.32 | 8 |
Nach französischem Recht war deshalb auch ein Sachverhalt zu beurteilen, der sich im Frühjahr 1889 in der Gegend von Koblenz zugetragen hatte.33 Ein Bauer hatte ein außereheliches Verhältnis mit einer ledigen Frau. Bei dieser handelte es sich um Maria Schmidt, die wegen Geistesschwäche entmündigt worden war. Sie wurde schwanger und bekam ein Kind. Der Vormund der Frau klagte gegen den Bauer und forderte von ihm Unterhalt für das nichteheliche Kind. Der Beklagte bestritt seine Vaterschaft und beantragte, die Klage abzuweisen, weil der Code civil eine Vaterschaftsklage verbiete. Der Wortlaut des Gesetzes mochte in diesem Fall eindeutig sein - die Rechtslage war es aber nicht. Weshalb? | 9 |
Die Rechtsprechung zum Code civil hatte das strikte Verbot der Vaterschaftsklage relativiert und der ledigen Mutter Schadensersatz gegen den Vater in bestimmten Fällen zugesprochen.34 Dies geschah zum Beispiel dann, wenn ein Mann eine geistig behinderte Frau verführt hatte. Der Vormund von Maria Schmidt argumentierte vor dem Oberlandesgericht Köln mit Präjudizien aus dieser Fallgruppe. Allerdings handelte es sich dabei ausschließlich um Fälle aus der Praxis französischer Gerichte. Das war an und für sich kein Problem. Richter in Trier, Köln oder Aachen hatten seit langem die zivilrechtliche Judikatur ihrer französischen Kollegen aufmerksam verfolgt und viele ihrer Urteile belegen, daß man aus Frankreich nicht nur Rotwein und Käse, sondern auch das eine oder andere juristische Argument importierte.35 Auf dieser Importliste fehlte jedoch bis Ende der 80er Jahre die französische Praxis zur Entschädigung lediger Mütter in Ausnahmefällen. Der Grund war einfach. Beim Importeur fehlte die Nachfrage: die entsprechenden Fallkonstellationen hatten sich rheinpreußischen Richtern bisher nicht präsentiert.36 Das änderte sich mit dem Fall von Maria Schmidt im Jahre 1889. Erstmals mußten rheinpreußische Richter zu der französischen Judikatur Stellung nehmen, in der der ledigen Mutter trotz des Art. 340 Cc ausnahmsweise doch ein Anspruch gegen ihren Schwängerer gegeben wurde. Diese Praxis verwarfen die deutschen Richter und wiesen Maria Schmidts Klage ab. | 10 |
3. Bleiben wir bei dieser unterschiedlichen Interpretation, die Art. 340 Cc in den Händen französischer und rheinpreußischer Richter erfahren hat. Interpretieren wir die Richterinterpretationen, um eine Aussage über das Verhältnis von Recht und Politik am konkreten Beispiel zu machen. | 11 |
Wie kann die unterschiedliche Praxis der französischen und rheinpreußischen Gerichte erklärt werden? Ein hoher deutscher Richter37 hatte die französische Praxis zu Art. 340 Cc einige Jahre bevor das Urteil im Maria Schmidt-Fall ergangen war mit einem angeblichen Zerfall der Sittlichkeit in Frankreich38 in Zusammenhang gebracht. Da das französische Gesetz dem Verführer einen Freibrief für sein schändliches Treiben ausgestellt habe, hätten sich die französischen Richter zum Einschreiten gezwungen gesehen und seien mit ihrer Rechtsprechung zu Art. 340 Cc als Schützer der Tugend39 aufgetreten. Dies sei aber in Deutschland nicht nötig gewesen, weil in diesem Land glücklicher Weise ein viel strengerer Begriff von Sittlichkeit herrsche. Ob die unterschiedliche Auslegung des Art. 340 Cc, die seit 1891 an französischen und deutschen Gerichten praktiziert wurde, mit Unterschieden in der sittlichen Verfassung der Bevölkerung in den beiden Ländern zu erklären ist, muß allerdings (nicht nur aus französischer Sicht) bezweifelt werden. | 12 |
Einen anderen Erklärungsansatz bot Josef Kohler.40 Der deutsche Professor, ein renommierter Spezialist für alles und besonders für Rechtsvergleichung41, argumentierte nicht weniger nationalistisch, aber wissenschaftlicher. Kohler hatte einige Jahre vor der Entscheidung des Maria Schmidt-Falles einen allgemeinen Vergleich zwischen der französischen und der deutschen Rechtsprechung vorgelegt und dabei auch auf Unterschiede hingewiesen, die kurze Zeit später beim Vergleich zwischen der französischen und der deutschen Praxis zu Art. 340 Cc hervortreten sollten. Kohler erklärte diese Unterschiede mit den Besonderheiten der Nationalcharakteren der Richter: so glaubte er bei seinen romanischen und englischen Nachbarn eine im höchsten Grade entwickelt[e] instinktive Thätigkeit des Richters42 erkennen zu können, während sich in diesem Punkt an deutschen Gerichten ein Trauerspiel präsentierte. Die Deutschen seien nämlich Opfer ihres grübelnden Sinn[es]43 und ihrer übertriebenen Wissenschaftlichkeit geworden. Sie hätten die Berechtigung des Richters zur Rechtsschöpfung wissenschaftlich verworfen und deshalb sei in der deutschen Praxis das Lied von der lex ferenda sed nondum lata von allen Seiten [zu] vernehmen.44 Wendet man diese Beobachtung auf die unterschiedliche Rechtsprechung der französischen und deutschen Gerichte zu Art. 340 Cc. an, so scheint sich die Praxis der Franzosen mit dem intuitiven und schöpferischen Umgang der Richter und diejenige der Deutschen mit dem doktrinäres Kleben am Wortlaut des Gesetzes zu erklären, kurz: Entscheidend für die Unterschiede zwischen der französischen und deutschen Praxis sollen nach Kohler Verschiedenheiten der nationalen Richter-Mentalitäten gewesen sein, die letztlich zu unterschiedlichen Vorstellungen von der Methode der richterlichen Rechtsanwendung geführt hätten. | 13 |
4. Die Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, sofern sie sich mit unserem Gegenstand befaßt, über Kohlers Erklärung nicht hinausgekommen.45 Das ist auch nicht erstaunlich, sondern die Folge einer Blindheit, die immer dann eintreten muß, wenn ein Rechtshistoriker von denselben methodischen Prämissen ausgeht, wie die historischen Akteure, die er beobachtet. Machen wir es anders, knüpfen wir an eine Erkenntnis der heutigen Theorie der juristischen Methode an, und gehen wir davon aus, daß methodische Vorgaben beim Umgang mit Normtexten in Zuge der sogenannten Rechtsanwendung die Ergebnisse dieses Vorgangs, also Aussagen über Norminhalte, nicht bestimmen können.46 Daraus folgt nicht nur, daß mit dem Befund der Anwendung einer unterschiedlichen Methode auch keine abweichende Praxis erklärt werden kann. Die Erkenntnis, daß keine Methode einen bestimmten Normsinn jenseits vom Auslegungshorizont des Norminterpreten fixieren kann, schafft auch Klarheit über die Fruchtbarkeit von Fragestellungen, die sich auf historische Vorgänge der Normanwendung beziehen. Konstatiert man nämlich als Rechtshistoriker eine enge oder freie Bindung von Richtern an den Normtext, so entwickelt man damit eine unlösbare (aber nicht uninteressante47) Fragestellung, weil man ein Urteil über die Freiheit einer Norminterpretation nur geben kann, wenn man davon ausgeht, es gäbe einen feststehenden Sinn eines Normtextes und man könne ihn mit dem Ergebnis der richterlichen Interpretation unter dem Kriterium von Freiheit oder Bindung vergleichen. | 14 |
Beobachten wir aber, was wir beobachten können. Dazu gehören in erster Linie Texte, die von Richtern verfaßt worden sind, um Urteile zu begründen. Diese Texte sollen uns als Quellen über die richterliche Verarbeitung von bestimmten externen Erwartungen an die richterliche Tätigkeit interessieren.48 Sofern diese externen Erwartungen das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetz betreffen, so stellen diese Texte Quellen zur richterlichen Reflexion über das Verhältnis von Recht und Politik dar. | 15 |
5. In Urteilen französischer Richter kommen allgemeine Aussagen über die Rolle des Richters - wenn überhaupt - nur indirekt vor. Diese Quellenlage ist Folge der in Frankreich unumstrittenen Herrschaft des Dogmas von der Unterordnung des Richters unter das Gesetz. Dabei handelte es sich selbstverständlich um eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Politik und Recht aus politischer Sicht. Mit der Euphorie der Revolutionäre für das Gesetz als Instrument zur Gestaltung der Gesellschaft korrelierte ihre Verachtung gegenüber den Richtern und ihrem Metier. Robespierre plädierte dafür, die Rechtsprechung (jurisprudence) auf die Sprachguillotine zu befördern und schlug in der Sitzung der Assemblée constituante vom 18. November 1790 vor, den Ausdruck Rechtsprechung der Gerichte aus der französischen Sprache zu tilgen.49 Bei allem revolutionären Disput war man sich in allen Phasen der großen Umwälzungen seit 1789 einig: Die Richter sollten sich auf die mechanische Anwendung des Gesetzestextes beschränken. Die historisch verdächtige50 Richterschaft wurde mit schweren methodischen Ketten an den Wortlaut des Gesetzes gebunden und sollte fortan die subalterne Existenz einer untergeordneten Funktion der Legislative fristen.51 Auch der französischen Rechtswissenschaft wurde keine originellere Rolle zugewiesen. Das Programm der Ecole de lexégèse, die über große Teile des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft vom Zivilrecht bestimmt hatte, kann mit dem Satz Tout le droit civil est dans le Code civil auf den Punkt gebracht werden.52 Im Schatten der Sonne des revolutionären Gesetzes blieben für die Doktrin und die Rechtsprechung nur die kümmerlichen Rollen zweier entmündigter Schwestern.53 Dieses normative Bild von der untergeordneten, strikt an das Gesetz gebundenen richterlichen Gewalt hat sich in Frankreich im Grunde bis in die Gegenwart behauptet.54 Es verdankt seine Kontinuität der Tatsache, daß das französische Bürgertum nach 1789 Einfluß auf die staatliche Gesetzgebung gewonnen und - aller späteren konstitutionellen Veränderungen zum Trotz - behalten hat. Seither konnte die Vorstellung von der richterlichen Bindung an das Gesetz den Gedanken der Bindung des Richters an die im Gesetzgebungsverfahren siegreichen gesellschaftlichen Interessen enthalten - eine auf die Vorstellung des Primates des Gesetzes gegründete Loyalitätspflicht des Richters, deren Befolgung die Politik bis zum heutigen Tage zu erwarten pflegt.55 | 16 |
6. Die Rechtsprechung der französischen Gerichte zu Art. 340 Cc ist ein gutes Beispiel für den richterlichen Umgang mit dem Gesetzesbindungsdogma unter den beschriebenen französischen Verhältnissen. Will man diese Praxis kurz zusammenfassen, so kann man sagen: Die Richter taten nicht, was sie sagten, sie sagten nicht, was sie taten - und erfüllten damit alle Erwartungen. | 17 |
Wie sah die französische Praxis zu Art. 340 Abs. 1 Cc aus? Dieser berüchtigte Artikel56 schnitt den nichtehelichen Kindern die Möglichkeit einer Vaterschaftsklage bekanntlich ab. Wie bereits angedeutet, anerkannten aber seit 184557 die französischen Gerichte gleichwohl in konstanter Rechtsprechung einen Anspruch der ledigen Mütter gegen ihre Schwängerer. Dabei handelte es sich um einen deliktischen Anspruch, gestützt auf die Generalklausel des Art. 1382 Cc.58 Um von einem Verschulden des unehelichen Vaters im Sinne dieses Artikels sprechen zu können, verlangten die französischen Gerichte, daß die ledige Mutter vom Beklagten in bestimmter Weise verführt worden sei, zum Beispiel durch Ausnutzen einer besonderen Schwäche der Frau.59 | 18 |
Die französischen Richter waren mit Hinweisen zu ihrer Methode, die sie zu diesem Auslegungsergebnis geführt hatte, ausgesprochen sparsam. Sie begnügten sich mit der nüchternen Feststellung, daß ihre Praxis nichts als die Anwendung des Gesetzes darstelle.60 Auf die Frage, ob der Anspruch der ledigen Mutter aus Art. 1382 nicht eine violation de lart. 340 C. civ. darstelle, lautete die knappe Antwort: La négative est généralement admise.61 Begründet wurde die Auffassung von der gesetzestreuen Anwendung des Code civil mit dem nachdrücklichen Hinweis, daß durch diese Rechtsprechung nur die Mutter, nicht aber das uneheliche Kind Ansprüche gegen den Vater erwerbe.62 Im Ergebnis hob die Praxis der französischen Gerichte das gesetzliche Verbot der Erforschung der Vaterschaft indirekt und teilweise auf. Von den Motiven des Gesetzgebers63 ließen sich die Richter dabei nicht irritieren. Im Gegenteil: sie führten mit ihrer Rechtsprechung die uneheliche Vaterschaft als Beweisgegenstand wieder ein und stellten mit einem Seitenblick auf die Argumente, die seiner Zeit zu Art. 340 Cc geführt hatten, nur fest, daß eine Rechtsordnung, die die Vaterschaftsklage kenne, nicht die geringste Gefahr für die öffentliche Moral und die Ehre der Familien bedeute.64 | 19 |
Mit dieser Rechtsprechung erfüllten die Richter, so das Urteil in der Literatur, die an die Justiz gerichtete Erwartung einer gerechten, unbillige Härten des Gesetzes ausgleichenden Praxis65. Für die Richter hatte bei der Anwendung des Code civil offensichtlich die Bindung an zeitgemäße gesellschaftliche Interessen Priorität vor der Vorstellung einer unbedingten Bindung an den Wortlaut des Gesetzes.66 Sie arbeiteten mit ihrer Praxis dem Gesetzgeber vor, der im Jahre 1912 den Art. 340 Cc abschaffte und durch eine Bestimmung ersetzte, die sich eng an ihrer Rechtsprechung orientierte.67 | 20 |
Diese Rechtsprechung zeigt, wie das politische Gesetzesbindungspostulat mit der Unabhängigkeit des Normtextinterpreten vereinbart werden kann: Weicht die richterliche Interpretation des gesellschaftlich Gebotenen von der politischen Interpretation nicht wesentlich ab, so kann die Politik mit der richterlichen Mißachtung des Gesetzesbindungsdogmas genauso gut leben, wie die Richter mit dem Insistieren der Politik auf diesem Dogma. | 21 |
7. Wie bereits erwähnt, sahen die deutschen Richter, die Art. 340 Cc anwendeten - also die Richter in Rheinpreußen und später auch am Reichsgericht - die Dinge nicht so wie ihre französischen Kollegen. Als das Oberlandesgericht Köln im Jahre 1891 die Abweisung von Maria Schmidts Klage begründete, stimmten die Richter das von Josef Kohler einige Jahre zuvor beklagte Lied von der lex ferenda sed nondum lata68 an. Die Richter räumten nämlich einerseits mit Nachdruck ein, daß sie Art. 340 Cc für unzeitgemäß hielten und die legislativ beachtlichen Gründe für die Abänderung des [Art. 340 Cc] nicht verkannt werden dürften. Andererseits handle es sich aber bei dem Verbot der Vaterschaftsklage nun einmal um eine streng positive, auf Gründen des öffentlichen Interesses beruhende zwingende Vorschrift. Dies ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte der in Rede stehenden Gesetzesstelle. Da kein Richter berechtigt sei, bestehende Gesetze außer Kraft zu setzen, stelle die französische Praxis zu den Art. 340 und 1382 Cc eine unstatthafte Umgehung des Gesetzes dar.69 | 22 |
Diesem Auslegungsergebnis und dem damit verbundenen methodischen Standpunkt der rheinpreußischen Richter schloß sich kurze Zeit später das Reichsgericht an.70 Bis Mitte der 80er Jahre waren die Richter in Leipzig der französischen Praxis zu Art. 340 Cc gefolgt, hatten dabei aber immer nur Fälle entschieden, in denen es um Schwängerung und anschließenden Rücktritt vom Verlöbnis gegangen war.71 | 23 |
8. Auf den ersten Blick mag diese Selbstdarstellung der deutschen Richter überraschen. Sie gaben sich gefesselt an die Politik, das heißt an die Motive des französischen Gesetzgebers und an den Wortlaut seines im Jahre 1804 erlassenen Gesetzes. Während die französische Praxis zu den Art. 340 und 1382 Cc die puissance de juger alles andere als invisible et nulle erscheinen ließ, hat man in Deutschland den Eindruck, als präsentierten sich die Richter in der Rolle einer bouche prussienne qui prononce les paroles de la loi française.72 Überraschen mag diese Argumentation deshalb, weil sich in Deutschland seit der Gründung des Reiches die politischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Vorstellungen von der Funktion der strikten richterlichen Bindung an das Gesetz entwickelt worden waren, grundlegend geändert hatten.73 Solange das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert noch weitgehend von Einflußmöglichkeiten auf die Politik und damit auch auf die Gesetzgebung abgeschnitten war74, war dem Gesetzesbindungsdogma eine politikbeschränkende Funktion zugekommen: Die bürgerlichen Verfechter der Vorstellung eines strikt an das Gesetz gebundenen Richters wollten für die Obrigkeit eine unabhängige, die bürgerliche Autonomie schützende Justiz akzeptabel machen, indem sie den Richter als eine bloß mechanisch subsumierende und damit gänzlich unpolitische Figur darstellten.75 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich diese Funktion der Methode der richterlichen Rechtsanwendung aber weitgehend überlebt. Vor dem Hintergrund zunehmender politischer Einflußmöglichkeiten des Bürgertums stellten sich auch veränderte Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Gesetzgeber, Gesetz und Rechtsanwendung ein. Aber obschon sich die politischen Verhältnisse in Deutschland und in Frankreich unter dem Gesichtspunkt der Parlamentarisierung anglichen76 und obgleich in beiden Rechtskulturen ähnliche methodische Prinzipien der richterlichen Rechtsanwendung in der Form des Gesetzesbindungsdogmas galten, war die Art, wie sich die Richter in den beiden Ländern mit diesen Prinzipien arrangierten, sehr unterschiedlich. Wie gesehen, erwiesen sich in Frankreich die Richter unter der Herrschaft des Gesetzesbindungsdogmas als ausgesprochen schöpferisch. In Deutschland waren die Richter zwar nicht weniger kreativ77, aber sie sahen sich im Zuge der Veränderung der politischen Verhältnisse mit neuen Erwartungen konfrontiert, die in veränderten methodischen Konzepten vorgetragen wurden. Die Rede ist vom sogenannten Richterrecht.78 Seine Stunde schlug in Deutschland in dem Moment, da die staatliche Funktion der Rechtssprechung genauso wie diejenige der Gesetzgebung als institutionalisierte Möglichkeit zur Realisierung bürgerlicher Interessen erkannt wurde. | 24 |
9. Die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aufkommenden Richterrechtstheorien stellten weniger konsistente Lehrgebäude als eine facettenreiche Strömung dar, in deren Mittelpunkt bestimmte Vorstellungen über die Entstehung von Recht standen. Danach war die Rechtsproduktion nicht ausschließlich Sache des Gesetzgebers, sondern auch Angelegenheit des (praktischen) Juristen. Zu den wichtigsten Vertretern des Richterrechts gehörte der Leipziger Professor Oskar Bülow.79 Er sah im Richterspruch eine Rechtsquelle und im Richter einen Akteur, der Staatsgewalt ausübte. Dies geschehe, so Bülow, nicht durch die richterliche Usurpation einer Funktion, die diesem eigentlich gar nicht zustehe. Vielmehr handle es sich bei dem Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter um eine unumgängliche Kooperation zweier Staatsgewalten, weil bei der Herstellung einer wirklichen Rechtsordnung der rechtsordnende Wille des Gesetzgebers erst in der richterlichen Tätigkeit seine Vollendung finden könne.80 | 25 |
Die Richterrechtstheorien waren freilich nicht Ausdruck einer neuen Praxis, sondern eine Neufassung der Theorie der Praxis. Als solche formulierten sie bestimmte Erwartungen an den Richter. Diese hoben die politische Verantwortung des Richters als Kollaborateur des Gesetzgebers hervor und muteten damit dem Richter deshalb viel zu, weil mit der vordergründig bloß analysierenden Feststellung eines maßgeblichen richterlichen Einflusses bei der Herstellung einer wirklichen Rechtsordnung im Grunde auch ein Anspruch auf Mitwirkung der Rechtsprechung bei der Fortbildung des Rechts verbunden war und auf diese Weise Justiz und Politik in der richterlichen Funktion normativ verkoppelt wurden. Hätten sich die Richter auf diese Forderungen eingelassen, so hätten sie sich auch einer Vielzahl grundlegender Folgeprobleme, die mit der politischen Verantwortung der Rechtsprechung in Zusammenhang stehen, stellen müssen. Dazu hätte nicht nur der Umgang mit politisch (und eben nicht mehr nur rechtlich) orientierten Ansprüchen der Rechtssuchenden gehört, sondern auch ein Überdenken der Funktion der richterlichen Unabhängigkeit unter den veränderten politischen Verhältnissen. | 26 |
10. Das Beispiel der rheinpreußischen und reichsgerichtlichen Judikatur zu Art. 340 Cc macht deutlich, wie sich die Richter unmittelbar nach dem Aufkommen der Richterrechtstheorien dieser 'politischen Umarmung' entzogen haben. Als die Richterrechtstheorien aufkamen, war die Zeit offensichtlich nicht reif. Das war nicht nur die Folge eines richterlichen Konservativismus, der dazu führte, daß sich die Richter weiterhin an der verdienstvollen, aber antiquierten liberal-rechtsstaatlichen Richterrolle orientierten, in der die richterliche Unabhängigkeit noch als Bollwerk gegen willkürliche Kabinettsjustiz absoluter Fürsten interpretiert worden war und die mit Hilfe des Gesetzesbindungsdogmas politische Argumente neutralisierte. Die Absage der Richter an die Richterrechtstheorien war auch darin begründet, daß diese Theorien zwar eine neue Richterrolle propagierten, sie aber nicht in eine neue, übergeordnete politische Theorie integrierten. Es blieb im wesentlichen bei evidenten Apercus, wie sie etwa Bülow vorgetragen hatte, und die Rechtsprechungsgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, daß es auch unter den politischen Bedingungen einer parlamentarisch-demokratischen Gesellschaft im wesentlichen dabei geblieben ist. Zur Abwehr der Zumutungen der Richterrechtstheorien beriefen sich die Richter auf das scheinbar veraltete, aber im Grunde zeitlose Gesetzesbindungsdogma.81 Ausdrücklich lehnten sie eine schöpferische Kraft der Jurisprudenz82 ab, erinnerten an die Motive der französischen Gesetzesredaktoren83 und unterstrichen, das Gesetz in dem Sinne anwenden zu müssen, wie es gegeben ist, und wie es zur Zeit noch zu Recht besteht84. Daß sich hinter dieser Huldigung von Wortlaut des Gesetzes und Wille des Gesetzgebers eine Affinität der deutschen Richter für das napoleonische Nichtehelichen-Modell85 verborgen hätte, ist unwahrscheinlich. Ausdrücklich wiesen die Richter ja darauf hin, daß sie die Regelung des Art. 340 Cc inhaltlich ablehnten.86 Im übrigen stand zu dem Zeitpunkt, da sich die Richter noch auf den historischen Willen des französischen Gesetzgebers fixierten, bereits fest, daß sich im BGB ein Verbot der Vaterschaftsklage nicht mehr finden würde. Dies war am Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Richterschaft unumstritten.87 Es ging den deutschen Richtern bei ihrer Berufung auf die Motive des Code civil nicht um die Motive des französischen Gesetzgebers, also um den Schutz der Familien vor Vaterschaftsklagen oder um bürgerliche Moralvorstellungen.88 Vielmehr galt es, an einem prominenten Beispiel zu verdeutlichen, daß man die Zumutung einer Justiztheorie, die den Richter offen als Rechtsquelle in Anspruch nahm, nicht akzeptieren wollte. Um dies deutlich zu machen, bot sich die Interpretation zu Art. 340 Cc an: Weil die schöpferische Auslegung der französischen Gerichte zu dieser Bestimmung berühmt war, konnten die deutschen Richter mit ihrer abweichenden Auslegung von Art. 340 Cc ein effektvolles Methodenexempel statuieren und ihren französischen Kollegen eine unstatthafte Umgehung des Gesetzes89 vorwerfen.90 | 27 |
Der Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Praxis zu Art. 340 Cc lag also nicht in unterschiedlichen, allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen begründet, mit denen die Justiz in den beiden Ländern umgehen mußte. Wie gesehen, sind ja auch insofern keine wesentlichen, aus solchen unterschiedlichen Erwartungen resultierenden, methodischen Unterschiede feststellbar: Sowohl die französischen als auch die deutschen Richter bedienten in ihren Urteilsbegründungen das Gesetzesbindungsdogma. In Deutschland wurde die Justiz in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ebenso wie in Frankreich als Bestandteil einer einheitlichen Staatsgewalt gedacht. Als solche kam ihr auch eine politische Funktion zu. Der in diesem Zusammenhang entscheidende Unterschied zwischen den beiden Rechtskulturen bestand aber darin, daß sich in Frankreich die Richter seit der Revolution in der Rolle der dem Gesetzgeber untergeordneten, aber gleichwohl stillwirkenden Rechtsfortbilder geübt hatten, während sich in den deutschen Territorien und im Reich seit 1871 der Übergang von dem älteren, tendenziell apolitischen Richterbild zu dem jüngeren, tendenziell politischen Richterbild in zwar kurzer Zeit, aber nicht unter revolutionären Bedingungen vollzog. Die deutschen Richterrechtstheorien hoben die politische Funktion der Rechtsprechung hervor und schufen damit besondere Erwartungen, die in Frankreich in dieser Weise nicht formuliert wurden, obschon die französischen Richter diese, von den Richterrechtstheorien geforderte politische Funktion schon lange wahrnahmen. Zu tun, was auch andere unausgesprochen tun, ist bekanntlich das eine. Es dabei aber auch noch ausdrücklich zu bekennen, ist etwas ganz anderes. Auf die von den Richterrechtstheorien hervorgerufenen (politischen) Erwartungen ließen sich die deutschen Richter nicht ein. Vielmehr lehnten sie ausdrücklich die schöpferische Kraft der Jurisprudenz ab und stilisierten sich selbst pointiert als reine Rechtsanwender. Der justizpolitischen Zumutung des Richterrechts entzogen sich die Richter, indem sie sich auf die alte politische Vorstellung vom Richter als neutralem Instrument des Gesetzgebers zurückzogen. Damit instrumentalisierten sie die eine politische Vorstellung, um sich der anderen zu entziehen. Im Gegensatz zu dem, was die richterliche Selbstdarstellung vermuten ließ, erwiesen sich die Richter im Ergebnis als flexibel. Sie machten damit deutlich, wie richterliches Handeln auf (justiz-) politische Erwartungen ausgerichtet ist, um diesen Erwartungen eine eigene Richtung zu geben - eine Illustration des Verhältnisses zwischen Recht und Politik, das nach Luhmann nicht dasjenige von siamesischen Zwillingen [ist], die sich nur zusammen bewegen können, sondern eher das von Billardkugeln, die einander zwar häufig gezielt anstoßen, aber eben deshalb getrennte Wege rollen.91 | 28 |
IV. Schluß | |
Damit stellt sich ein gemeinsamer Punkt heraus, den das soziale Phänomen der Nichtehelichkeit im 19. Jahrhundert sowohl in der politischen (gesetzgeberischen) als auch in der rechtlichen (richterlichen) Betrachtung auszeichnet. Auf der Grundlage der hier untersuchten Quellen kann man feststellen, daß in beiden Bereichen Fragen, die mit nichtehelichen Kindern und ihren Müttern zusammenhingen, Anstöße zur Formulierung der Autonomie der jeweiligen Bereiche auslösten: Genauso wie der Gesetzgeber auf dem Gebiet des Nichtehelichenrechts auch deshalb aktiv war, weil er sich seiner privatrechtlichen Gestaltungskraft vergewissern wollte, so benutzten die Richter (von denen hier die Rede war) die Beurteilung von Fällen aus dem Nichtehelichenrecht auch dazu, um ihre Autonomie durch Negation eines bestimmten Richterbildes zu demonstrieren. Die Entscheidungen über Interessen nichtehelicher Kinder und ihrer Mütter, um die es hier immer auch, aber niemals nur ging, waren Anlässe für ein symbolisches Agieren sowohl der Politik als auch des Rechts mit Blick auf das Verhältnis zum Recht bzw. zur Politik. | 29 |
Fußnoten: 9 Vgl. die Übersicht bei Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 2, München 1989, 325f. 28 Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, 340. 30 Eugène Gaudemet, Linterpétation du Code civil en France depuis 1804, Bâle et Paris 1935, 13. 38 Sigismund Puchelt, in: Zeitschrift für französisches Civilrecht, Bd. 2 (1872) 345. 54 Chevallier (Fn. 50) 141; Fikentscher (Fn. 51) 542ff. 57 Sirey 1845 I 539 (Cour de cassation, Urteil vom 24. März 1845). 60 Vgl. Sirey 1865 I 33; Dalloz 1882 II 117. 67 Vgl. Szramkiewicz (Fn. 16) 138. 74 Vgl. Wehler (Fn. 73) 196ff. 76 Vgl. Nipperdey (Fn. 73) 497ff. 78 Vgl. Ogorek (Fn. 75) 257ff. 85 Vgl. dazu Bloquel (Fn. 18) 53ff.; Kohler (Fn. 40) 282 Fn. 33 ; Szramkiewicz (Fn. 16) 93f.; 99f. 91 Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: RJ 9 (1990) 204. |