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1. Einleitung und Forschungsstand |
Wie verliefen die Agrarreformen in einem der ärmsten Gebiete Preußens,
dem ehemaligen Hochstift Paderborn? Welche Maßnahmen ergriff der
preußische Staat, um die Gesetze zur Regulierung der Jahrhunderte
alten bäuerlichen Abhängigkeiten nicht ins Leere laufen zu lassen?
Auf eine wesentliche und vorbildhafte Einrichtung zur Lösung der
bäuerlichen Abhängigkeit, nämlich die Paderborner Tilgungskasse,
soll im Folgenden eingegangen werden.
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Es zeigt sich, dass nicht nur dieser wichtige Bereich der Rechtsgeschichte,
nämlich die Bauernbefreiung,
bislang unzureichend ausgeleuchtet ist. Zwar bemüht sich die neuere
Forschung zunehmend um die Darlegung der Rechtswirklichkeit und nicht
nur der Rechtssätze, aber ein Vergleich regionaler Unterschiede ist
mangels flächendeckender lokaler Studien kaum erfolgt. Die Dissertation
der Autorin zur Bauernbefreiung im östlichen Westfalen mag ein wenig
diese Lücke schließen. | 2 |
Speziell zur Paderborner Tilgungskasse ist die wirtschaftshistorische Untersuchung
von Maria Blömer erschienen, die unter Ausschöpfung breiten Quellenmaterials
insgesamt die verschiedenen staatlichen Hilfen bei der Entstehung und Organisation
eines ländlichen Kreditsystems in Westfalen schildert. Die Paderborner
Tilgungskasse setzt diese aber in Zusammenhang zu den staatlichen Kredithilfen
und zu den Landschaften, die adligen Gutsbesitzern Kredit gewährten.
Eine klare Einordnung in die gesetzlichen Maßnahmen zur Bauernbefreiung
und deren Auswirkungen im Paderborner Land unterbleibt. Sie sieht ihre Arbeit
vielmehr vornehmlich als eine "bankhistorische" Untersuchung. | 3 |
2. Exogene und Endogene Voraussetzungen staatlichen
Eingreifens |
2.1. Entwicklung der Ablösungsgesetzgebung in
Westfalen bis 1829 |
Das Gebiet des Hochstifts
Paderborn, früher ein Fürstbistum im östlichen Westfalen, war
an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen
unterworfen. Nach dem Ende der fürstbischöflichen Herrschaft begann
eine kurze Periode der Zugehörigkeit zu Preußen von 1802 bis 1806.
1807 wurde das Gebiet Teil des von Napoleon geschaffenen Modellstaats Königreich
Westphalen, bevor es 1815 in die neue preußische Provinz Westfalen eingegliedert
wurde.
Das Untersuchungsgebiet gehörte zum Regierungsbezirk Minden und bildete
sich aus den vier Paderborner Hochstiftkreisen Paderborn, Büren, Höxter
und Warburg. | 4 |
Die Ideen der Physiokratie, des Kameralismus und letztlich des Liberalismus
führten zu einem Wandel in der herrschenden Agrarverfassung des 18. Jahrhunderts.
Zur Verwirklichung einer effektiveren Landwirtschaft und der Dispositionsfreiheit
der bäuerlichen Besitzer sollten die Verpflichteten von ihren persönlichen
Bindungen und den Reallasten befreit werden.
Dazu waren unter anderem im ostelbischen Preußen des 18. Jahrhunderts
erste Maßnahmen für die Domänenbauern, also den dem Staat
verpflichteten Bauern, ergriffen worden, in die mit den Gesetzen von 1807
und 1811, bekannt unter dem Stichwort Stein-Hardenbergsche Gesetze, auch die
privatgutsherrlichen Bauern einbezogen wurden. | 5 |
Für das Paderborner Land kam es erst während der Zeit des napoleonischen
Königreichs Westphalen zu - noch mangelhaften - Gesetzen, die eine Befreiung
der Bauern ermöglichen sollten.
Schließlich erließ Preußen für die Provinz Westfalen
nach einem fehlgeschlagenen Versuch von 1820 zwei Gesetze in den Jahren 1825
(das das Ob der Ablösung regelte)und 1829 (die sogenannte Ablösungsordnung,
die das Wie der Ablösung regelte), die eine Loslösung der Bauern
von ihren Lasten herbeiführen sollten. Während der Entstehung der
Gesetze kam es zu bemerkenswert heftigen Debatten zwischen Berechtigten und
Verpflichten. Dabei war der preußische Staat aber immer geneigt, einen
Ausgleich zwischen den Gruppen herbeizuführen. | 6 |
2.2. Armut im Paderborner Land |
Im Paderborner Land herrschte aber noch in den dreißiger Jahren des
19. Jahrhunderts ein "zukunftsloser Schlummerzustand", wie der Historiker
Koselleck es bemerkt.
Nur schwerlich konnten die Bewohner des Hochstifts Paderborn aus diesem 'erweckt'
werden. Lediglich vereinzelt gab es auch im Paderborner Land Ablösungen
nach den Gesetzen von 1825 und 1829. | 7 |
Diese Rückständigkeit resultierte vor allem aus der hohen Verschuldung
der bäuerlichen Bevölkerung im Paderborner Land, die seit der Jahrhundertwende
extrem zugenommen hatte.
Der Paderborner Landrat von Spiegel berichtete 1832 an die Regierung in Minden,
dass die Bauern ohne Geldmittel seien. Daher könnten sie die Ablösung
nicht bezahlen. Sie seien "von allen Seiten wegen fiskalischer Abgaben,
Kommunalbeiträgen, gutsherrlicher Gefälle, Zinsen an Juden und Stiftungen
und von den Gerichten so in Anspruch genommen .., dass bereits zum traurigen
Anblick für den Beobachter der Bauer auf den Betrieb seines Gewerbes
fast gar nichts verwenden kann, deshalb seine Wirtschaft nur mit halben Mitteln,
z.B. schlechten Pferden, einem ganz unverhältnismäßigen Viehstande
usw. betreibt". | 8 |
Insgesamt war die Belastung der bäuerlichen Besitzer und deren Armut
im Paderborner Land unterschiedlich hoch. Vor allem in den Gebieten, in denen
adlige Grundbesitzer Empfänger der Dienste und Abgaben waren, herrschte
mehr Armut als in den landesherrlichen. | 9 |
Zusammenfassend schilderte der Arnsberger Regierungspräsident Kessler
die Lage im ehemaligen Hochstift Paderborn folgendermaßen: "Ein
deutsches Irland haben wir im Schoße Westfalens - unser Paderborner
Land - allein durch das Übermaß der gutsherrlichen Lasten, welche
neben den von unserem damaligen Zustande unzertrennlichen Staats- und Gemeindeabgaben
unerschwinglich sind, und so den Belasteten, dem nirgends ein Stern der Hoffnung
leuchtet, in dumpfer, bestialischer Indolenz erhalten." | 10 |
Mithin erwiesen sich die gesetzlichen Regelungen zur Regulierung der bäuerlichen
Lasten und Abgaben von 1825 und 1829 für das Untersuchungsgebiet des
Paderborner Landes als völlig unbrauchbar und nicht umsetzbar. Der Staat
hatte offensichtlich die regionalen Verhältnisse völlig falsch eingeschätzt.
Daher war die Schaffung einer bankmäßig organisierten Kreditaufnahme
- nicht nur im Paderborner Land - der nächste Schritt, der dringend vollzogen
werden musste, um die Agrarreformen nicht ins Leere laufen zu lassen, bzw.
das wirtschaftliche Los der Bauern nicht noch zu verschlechtern und damit
das Reformwerk ins Gegenteil zu verkehren. | 11 |
3. Vorläufer der Paderborner Tilgungskasse |
Wegen der Kreditnot der bäuerlichen Bevölkerung und der Tatsache,
dass sie nicht in der Lage war, die Ablösungssummen aufzubringen, wurden
seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts außerhalb Preußens Kreditinstitute
geschaffen, die der Zwischenfinanzierung von Ablösungsverpflichtungen
dienen sollten. | 12 |
3.1. Entwicklung außerhalb Westfalens |
Als erster deutscher Staat erließ das Königreich Sachsen im Rahmen
seiner Agrarreformen 1832 ein Gesetz über die Errichtung einer Landrentenbank.
Es folgten die Einrichtung einer Landeskreditkasse unter anderem im Kurfürstentum
Hessen und in Hannover. | 13 |
Im Königreich Preußen und insbesondere in der Provinz Westfalen
hielt man sich mit der Gründung solcher staatlichen Unterstützungsmaßnahmen
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch stark zurück. Damit
fehlte es gerade dem Bauernstand an Kreditinstituten. | 14 |
3.2. Agrarkreditwesen in Westfalen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts |
Nach der großen Agrarkrise der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts sprach
sich dann aber 1824 auch der Oberpräsident der Provinz Westfalen Vincke
grundsätzlich für die Möglichkeit des Hoferben aus, "Geld
aufzunehmen, dafür auch seinen Hof zu verpfänden."
In seinem Bericht bezieht sich Vincke auf die Lage des Bauernstandes im Rahmen
der Auseinandersetzungen um ein neues bäuerliches Erbrechtsgesetz. Vincke
wandte sich gegen eine Zerstückelung der Bauernhöfe und Zersplitterung
der landwirtschaftlichen Flächen, die aufgrund der Realteilungsmöglichkeit
drohten. | 15 |
3.2.1. Provinzialhilfskasse |
Allerdings sprach Vincke sich noch gegen die Einrichtung einer staatlichen
Anstalt aus, die ohne Zweckbindung Kredite an die Bauern vermitteln würde.
Allein die Beschränkung der Teilbarkeit der Höfe sei ausreichend,
um den bäuerlichen Wirten genügend Kredit zu gewähren. Bei
guter Wirtschaft liefen diese Höfe nämlich nicht Gefahr, "durch
Verschuldung zu Grunde zu gehen, und wenn in einzelnen Fällen der ordentliche
Wirth Geld .. [benötige], so fehle es ihm nicht an Credit, da der Gläubiger
dadurch, dass er im Misszahlungsfalle den Hof ergreifen .. [könne], volle
Sicherheit" habe. "Für schlechte Wirthe [aber] einen größeren
Credit zu gründen, als durch ihren Besitz gesichert ist, kann eben nicht
vortheilhaft seyn, indem es wirklich besser ist, dass solche Wirthe fallen,
und deren Besitzungen in thätigere Hände kommen".
Zudem seien solche Kreditanstalten teuer und schwierig zu verwalten. Sie richteten
Schaden an, indem sie "dem leichtsinnigen Wirth das Schuldenmachen erleichtern". | 16 |
Dagegen hielt er aber eine Hilfskasse "im Geiste der Schleswig-Holsteinschen
Credit-Anstalt" für sinnvoll, um "dem industriösen Landmanne
die Mittel zu erleichtern, sich da Kapital zu Kulturverbesserungen und zur
Ablösung von Reallasten zu verschaffen und solches allmählich wieder
zu tilgen. In Verbindung mit den Sparkassen würden solche gewiss überaus
nützlich wirken und in dieser zugleich der Fonds sich ergeben." | 17 |
Die von Vincke vorgeschlagene Einrichtung eines öffentlichen Kreditinstituts,
wie er sie bereits in seiner Denkschrift von 1818 angeregt hatte,
sollte somit keineswegs allein der Finanzierung der Ablösung dienen.
Auch sollte nicht die gesamte bäuerliche Schicht in den Genuss der Kredite
kommen, sondern lediglich gemeinnützigen Zwecken dienende Projekte. | 18 |
Nach langwierigen Verhandlungen auf dem zweiten und dritten Westfälischen
Provinziallandtag nahm schließlich am 5. Januar 1832 die Westfälische
Provinzial-Hilfskasse ihre Tätigkeit auf.
Hauptzweck der ersten derartigen Kreditanstalt in Preußen sollte die
Förderung der westfälischen Wirtschaft sein. Zu diesem Zweck sollte
nach § 1 des Statuts der westfälischen Provinzialhilfskasse
vom 26. November 1831 die Infrastruktur ausgebaut werden, und es
sollten neue Industriezweige und das Geld- und Kreditwesen gefördert
werden. Die in Form von Obligationen ausgegebenen Gelder sollten hauptsächlich
für gemeinnützige Zwecke genutzt werden (§ 9). | 19 |
Zwar konnten auch private Personen Darlehensempfänger sein. Jedoch sollten
nur diejenigen ländlichen Grundbesitzer und gewerblichen Unternehmer
Kredite erhalten, die nachweisen konnten, dass ihr geplantes zu finanzierendes
Projekt auch der Wirtschaft im allgemeinen diente und damit gemeinnützig
war.
Die weiteren Modalitäten des Statuts schränkten die Vergabe der
Darlehen sehr stark ein. So durften die von der Provinzialhilfskasse bereitgestellten
Kredite nicht mehr als drei Viertel des Wertes des zu beleihenden Grundstücks
betragen (§ 10). Diese und weitere Begrenzungen der Geldvergabe
führten dazu, dass zumeist Gemeinden in den Genuss der Vorzüge der
Hilfskasse kamen. Privatpersonen, insbesondere bäuerliche Wirte, die
eine Ablösung ihrer Dienste und Abgaben anstrebten, kamen nicht in den
Genuss der Unterstützung. | 20 |
An eine schnelle Ablösung nach Erlass der Gesetze von 1825 und 1829
durch diese neue Institution, die Provinzialhilfskasse, war daher nicht zu
denken. | 21 |
3.2.2. Vorschlag eines Kreditverbandes |
Daher sprach sich bereits 1830 der Mindener Regierungspräsident Freiherr
von der Horst in einem Pro Memoria für die Errichtung eines sogenannten
"Creditverbandes für die vormals Eigenbehörigen, Meyer und
sonstige Prästationspflichtigen" für ganz Westfalen aus.
Hauptzweck der westphälischen, bergischen und französischen sowie
der preußischen Agrargesetzgebung war, "den verpflichteten Stand
von einer ihm verderblich erachteten permanenten Abhängigkeit zu befreien.
... Diesen Zweck ... factisch und nicht bloß auf dem Papiere zu erreichen,
erfordert jedoch nothwendig das Auffinden von Mitteln und Wegen, die sowohl
den Verpflichteten die wirkliche Abfindung möglich machen, als auch den
ohnehin schon verletzten Berechtigten für das ihm übrig gelassene
volle und sichere Entschädigung zu gewähren."
Dem Regierungspräsidenten war klar, dass der Pflichtige die zur Ablösung
notwendigen Summen nicht oder nur schwerlich würde aufbringen können.
Um den Zweck der Ablösungsordnung für alle Pflichtigen erreichbar
zu machen, schlug er daher die Einrichtung einer Leihbank vor. Dort sollte
das Ablösungskapital "unter Bedingung richtiger Verzinsung und Amortisation
.. unkündbar" ausgezahlt werden.
Da von der Horst einsah, dass der Staat nicht unbegrenzt Geld hinzugeben würde,
forderte er die "Errichtung eines Credit-Verbandes für die Pflichtigen."
Diesem müssten dann alle Pflichtigen beitreten. "Der Verband gäbe
Obligationen (Pfandbriefe) ... die 4 pro cent betrügen, und zu einem
5ten p.c. amortisiert würden." | 22 |
Für den Berechtigten habe dieser Kreditverband den Vorteil, dass er
nun mit sicheren Einnahmen rechnen könne, zumal er seinen Anspruch durch
den Kreditverband verbrieft in größeren Summen erhalte. "Der
ihm Verpflichtete sieht [nämlich] jetzt seine Leistungen wie ungerechte
Forderungen an, sucht sich überall ihnen möglichst zu entziehen
und seine Obliegenheiten schlecht und unordentlich zu erfüllen."
Der Gesamtheit und insbesondere dem Staat brächten diese Vorschläge
einen - auch hinsichtlich der Steuern - zahlungsfähigen Bauernstand. | 23 |
Die im Pro Memoria des Mindener Regierungspräsidenten geäußerte
Sorge um den Bauernstand zeigt den Willen, die Pflichtigen in ihrem Loslösungsprozess
zu unterstützen. Allerdings stieß dieser für die Provinz Westfalen
vorgesehene Plan auf Widerstand und wurde nicht umgesetzt. | 24 |
Nach Ansicht der Generalkommission, die zu dem Plan Stellung zu nehmen hatte,
waren die Vorschläge von der Horsts mit den Gesetzen von 1825 und 1829
sowie der allgemeinen Rechtsordnung unvereinbar. Insbesondere sah die Generalkommission
in der Proposition eine Verletzung der Privatrechte der Verpflichteten. Gerade
die vorgeschlagene solidarische Haftung der Verpflichteten für die Renten
der anderen widerspreche dem Gesetz von 1829. Dieses regele nämlich lediglich
das Verhältnis zwischen Verpflichteten und Dritten untereinander. | 25 |
Ein Kreditverband für alle Pflichtigen in ganz Westfalen war also noch
nicht durchsetzbar. Es blieb die Sorge um den Bauernstand, vor allem im Paderborner
Land. | 26 |
4. Die Paderborner Tilgungskasse |
Dieserhalb setzte sich der Paderborner Landrat von Spiegel 1832 für
Hilfsmaßnahmen wie eine staatliche Unterstützungskasse im Paderborner
Land ein. Davon, dass die Gutsherren und bäuerlichen Wirte einer derartigen
Maßnahme zustimmen würden, war der Landrat fest überzeugt.
Er sah nämlich in der erwarteten Dispositionsfreiheit hinsichtlich der
Grundstücke Vorteile für beide Seiten. Würde eine solche Hilfe
aber nicht angeboten, so würde "unser Landmann, mit seinen geringen
Kräften unterliegen, den Ackerbau noch notdürftiger als jetzt betreiben,
die Abgaben nicht bezahlen können, daher die Gerichte noch mehr als jetzt
einschreiten müssen, und endlich nur ein höchst trauriges Resultat,
zu erwarten stehen." | 27 |
Es setzte sich danach endlich die Erkenntnis durch, dass der Staat eingreifen
musste, wollte er nicht die Steuergleichheit mit dem Ruin der Steuerzahler
erkaufen.
Daher forderten nun der Oberpräsident Vincke sowie der westfälische
Provinziallandtag die Einrichtung einer Tilgungskasse zur Erleichterung der
Ablösung der Reallasten in Paderborn. | 28 |
Es zeigte sich eine grundsätzlich positive Einstellung zu einer solchen
Kreditanstalt. | 29 |
4.2. Erstes Reglement einer Tilgungskasse von 1834 |
Schließlich erging am 16. August 1834 ein erstes "Reglement für
die Tilgungskasse zur Erleichterung der Ablösung der Reallasten in den
Kreisen Paderborn, Büren, Warburg und Höxter". | 30 |
Statt der in der Ablösungsordnung von 1829 vorgesehenen Ablösung
zu einem 25fachen Jahressatz sah das Tilgungskassenreglement lediglich einen
15fachen Satz vor (§ 2 Nr. 1). Nur dem Berechtigten war es
nach § 3 möglich, auf die Ablösung, und zwar sämtlicher
und nicht bloß spezieller Abgaben und Dienste eines ihm Pflichtigen,
anzutragen. Der Berechtigte erhielt dafür von der Tilgungskasse Schuldverschreibungen,
die zu 4 % verzinst und mit Mitteln der Tilgungskasse abgetragen werden
sollten (§ 6). Zu den Schuldverschreibungen wurden Zinskupons ausgegeben,
die bei Fälligkeit von allen Staatskassen in der Provinz Westfalen angenommen
wurden, deren fälliger Betrag aber auch von der Steuer- und der Regierungshauptkasse
der Provinz ausgezahlt wurde (§ 7). | 31 |
Die Verpflichteten hingegen mussten, um von den an die Berechtigten durch
die Tilgungskasse ausgegebenen Schuldverschreibungen frei zu werden, eine
Geldrente an die Tilgungskasse zahlen (§ 10). Diese betrug 5 %
des Kapitalwerts der Schuldverschreibungen. Davon wurden 4 % als Zinsen
gerechnet, 1 % sollte zur Kapitaltilgung verwendet werden. Diese Rente
musste bis zur vollständigen Tilgung der Kapitalschuld gezahlt werden.
Entscheidend für die Verpflichteten war, dass sie mit der Ausgabe der
Schuldverschreibungen an die Berechtigten von ihren Leistungen befreit waren.
Die von den Pflichtigen an die Kasse zu zahlende Rente wurde zur Sicherung
des Kapitals und der Zinsen hypothekarisch eingetragen und nach vollständiger
Amortisation wieder gelöscht (§ 10 Nr. 4). | 32 |
Für die Verpflichtungen der Tilgungskasse garantierte der Staat (§ 9).
Gleichzeitig stattete er die Tilgungskasse mit ausreichenden Mitteln aus. | 33 |
Der Bauer war somit nicht mehr Schuldner eines privaten Gläubigers,
sondern des Staates. | 34 |
Ausgenommen von dem Verfahren der Tilgungskasse waren die den Domänen
pflichtigen Bauern. Domänenbauern waren die Bauern im Paderborner Land,
die dem Staat als Rechtsnachfolger des Fürstbischofs, der Klöster
oder des Domkapitels dienst- und abgabenpflichtig waren. Ihnen ging es im
Vergleich zu den privatgutsherrlichen Bauern etwas besser. Trotz des Endes
des fürstbischöflichen Staates Anfang des 19. Jahrhunderts
setzte sich bis in die zweite preußische Zeit der alte Spruch fort:
"Unterm Krummstab ist gut leben."
Zudem war im Falle der Domänenbauern der Staat selbst Gläubiger
der Abgaben und Dienste. Er bedurfte daher nicht einer besonderen Einrichtung,
die ihm Schuldverschreibungen vermittelte. | 35 |
Insgesamt reagierten die Betroffenen grundsätzlich positiv auf das Gesetz
von 1834. | 36 |
Allerdings wandten sich die Berechtigten relativ schnell nach der Veröffentlichung
des Tilgungskassenreglements insbesondere gegen den für sie zu geringen
15fachen Ablösungssatz. So hieß es in einem Zeitungsbericht aus
Warburg, dass nicht nur die Berechtigten, sondern auch die Verpflichteten
sich getäuscht fühlten. Vor allem entspreche es nicht den Interessen
der Grundherrn, 2/5 der Abgaben durch die Anwendung des Tilgungskassenreglements
zu verlieren, denn es galt der 15fache Satz statt des 25fachen nach der Ablösungsordnung
von 1829. | 37 |
Man ging also davon aus, dass "so wie die Sache jetzt .. [liege], die
Commission in Paderborn wenig .. zu tun bekommen" werde
und es durch das Tilgungskassenreglement überhaupt nicht zu Ablösungen
kommen werde. "Denn wenn ein Staat kein besseres Auskunftsmittel anzugeben
.. [wisse] als den Vorschlag zu einer Abfindung, bei welcher der Berechtigte
toller geplündert .. [werde], als wenn er dem Juden in die Hände
.. [fiele], so .. [dürfe] wohl jeder schließen, dass es mit der
Sicherheit des Eigentums und dem Staat selbst schlecht" stehe. | 38 |
Im April 1835 wurde dann eine Modifikation des Tilgungskassenreglements in
Erwägung gezogen. Die weitere Diskussion über eine Reform des Reglements
der Tilgungskasse hemmte weitere Ablösungen mittels der Tilgungskasse.
| 39 |
Die Grundbesitzer des Paderborner Landes sahen einerseits die Not der bäuerlichen
Bevölkerung und deren mangelnde Ablösungsmöglichkeiten und
hielten daher eine Vermittlung der Ablösung durch eine Anstalt wie die
Tilgungskasse für notwendig. Andererseits versuchten sie aber das Tilgungskassenreglement
dahingehend zu ändern, dass zumindest der in der Ablösungsordnung
von 1829 vorgesehene 25fache Ablösungssatz beibehalten blieb. | 40 |
Der Oberpräsident Vincke war hinsichtlich des Ablösungssatzes nach
dem Tilgungskassenreglement auch zu Kompromissen bereit. Den Umfragen bei
den Grundbesitzern zufolge waren diese grundsätzlich mit einer Ablösung
zu einem 18fachen Satz einverstanden. Vincke hielt daher eine entsprechende
Änderung des Tilgungskassenreglements für sinnvoll. Er hoffte, dass
sich die Berechtigten dann zu einer Ablösung bereit finden würden,
um den Bauernstand, "dessen Schicksal ihnen gleichgültig nicht sein"
könne, zu unterstützen und zu erhalten. | 41 |
4.3. Endgültiges Reglement der Tilgungskasse
von 1836 |
Nach dem ausgebliebenen Erfolg des ersten Tilgungskassenreglements von 1834
erging nur zwei Jahre später, am 8. August 1836 ein neues Reglement
für die - wie Vincke sie nannte - "armen Paderborner". | 42 |
Das neue Reglement behielt die Grundzüge des Tilgungskassenreglements
von 1834 bei. Nur in wenigen, zum Teil aber wesentlichen Punkten enthielt
es Änderungen und war ausführlicher gestaltet. | 43 |
Im Gegensatz zum ersten Reglement 1834 war nun eine Kapitalabfindung
- wie auch zuvor von Vincke vorgeschlagen - zum 18fachen Betrag der
jährlichen Gefälle vorgesehen (§ 3 Nr. 1).
Die Obligationen waren mit vier Prozent zu verzinsen. Zusätzlich
musste 1/6 Prozent geleistet werden (§ 11), das zur Finanzierung
der mit dem Ablösungsgeschäft und der Verwaltung der Tilgungskasse
verbundenen Kosten herangezogen wurde (§ 21). | 44 |
Die von den pflichtigen Bauern zu leistenden jährlichen Beträge,
die Zinsen, deckten nur die an die Berechtigten ausgegebenen Schuldverschreibungen
und einen Teil der Ablösungs- und Verwaltungskosten. Für die
Tilgung der bäuerlichen Schulden wurde daher ein Tilgungsfonds
eingerichtet, in den der Staat zur Abtragung der Schulden aus der Staatskasse
jährlich ein Prozent zahlte. Die Höhe des vom Staat getragenen
einen Prozent richtete sich nach der Gesamtsumme der ausgegebenen Obligationen
(§ 6). Zugleich wurde - wie bereits 1834 - festgelegt, dass die
Abtragung der Schulden durch Verlosung der Obligationen entsprechend
ihrem Nennwert und durch den Ankauf von Schuldverschreibungen aus freier
Hand stattfinden sollte. Die Amts- und Intelligenzblätter der Provinz
Westfalen gaben dreimal jährlich die ausgelosten Obligationen bekannt.
Sechs Monate nach dem Erscheinen der Losergebnisse konnten die Obligationen
bei der Tilgungskasse in Paderborn ausgezahlt werden. | 45 |
Eine weitere - auf ordnungspolitischen Überlegungen beruhende - Neuerung
enthielten die §§ 14 und 15 des Tilgungskassenreglements von
1836. Danach sollte die in § 11 auf 4 1/6 Prozent festgesetzte Rente
auf vier Prozent ermäßigt und nach einem Ablauf von 41 Jahren vollständig
erlassen sowie im Hypothekenbuch gelöscht werden, wenn sich der bäuerliche
Wirt folgenden Bestimmungen unterwarf: Erstens sollte es ihm zur Durchsetzung
des Anerbenrechts untersagt sein, seine Besitzungen mit anderen Hypotheken
als den Erbteilen der abzufindenden Miterben zu belasten oder den Hof im Erbfalle
unter den Erben aufzuteilen. Zweitens sollte die Erbabfindungen begrenzt werden.
Zur Absicherung sollten diese Bestimmungen im Hypothekenbuch eingetragen werden. | 46 |
4.4. Wirken und Erfolge der Tilgungskasse im Paderborner
Land |
Das neue Tilgungskassenreglement, das sowohl den Forderungen der Berechtigten
als auch den Bedürfnissen der Pflichtigen gerecht zu werden suchte, wurde
allgemein positiv aufgenommen. Man hoffte nun auf eine wesentliche Förderung
des Ablösungsgeschäfts im Paderborner Land. | 47 |
Schon kurz nach der Bekanntmachung des Tilgungskassenreglements von 1836
zeigten die Berechtigten Interesse an einer Ablösung mittels der Tilgungskasse.
Insgesamt schritten die Geschäfte der Tilgungskasse erfolgreich voran.
"Nur wenige Gutsbesitzer in den vier Paderbornschen Kreisen" hätten
sich, so der Zeitungsbericht des Kreises Paderborn für Juli 1838, "renitent
gezeigt[,] und auch diese wenigen dürften wohl bald dem Beispiele der
anderen folgen."
Mit dem starken Andrang schien die Tilgungskassendirektion nicht gerechnet
zu haben. Es bedurfte daher schon 1838 und auch in den folgenden Jahren der
Einstellungen von weiteren Mitarbeitern. | 48 |
Erfolgreich war die Tilgungskasse auch hinsichtlich der weiten Verbreitung
ihrer Nutzung. So berichtet die Tilgungskassendirektion in ihrem Jahresbericht
für 1843, dass "es .. sich voraussehen [ließ], dass bei Beginn
der Ablösung die damals nur in geringer Zahl vorhandenen vermögenden
Pflichtigen die ihnen durch das Gesetz gegebene Gelegenheit benutzen würden,
um die zu zahlenden Renten durch Barzahlung abzubürden, es war aber nicht
zu erwarten, dass die Tilgung der Renten in einem solchen Verhältnisse
fortdauern und dass auch die weniger bemittelten Verpflichteten davon Gebrauch
machen würden, was aber allerdings der Fall" sei.
Auch in den folgenden Jahren wurde in den jeweiligen Berichten der verschiedenen
Behörden der Erfolg der Tilgungskasse hervorgehoben und dabei die Zunahme
des Wohlstands mittels der Tilgungskasse betont. | 49 |
In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nahmen die Anträge auf
Durchführung der Ablösung unter Vermittlung der Tilgungskasse stetig
ab. Etwa 1845 waren die Ablösungssachen zum größten Teil festgestellt
und die Obligationen dafür ausgegeben worden. Den verfolgten Zweck, nämlich
die Loslösung der Bauern von den grundherrlichen Verpflichtungen und
die Mehrung des Wohlstands, sah man weitestgehend erreicht. Am 1. April 1853
schließlich wurden die Geschäfte der Tilgungskasse geschlossen,
so dass ab diesem Zeitpunkt keine neuen Ablösungsanträge mehr angenommen
werden konnten. | 50 |
Wegen der kaum vorhandenen Landablösung, also der Ablösung der
Dienste und Abgaben gegen Land der Bauern, und der besonderen Erleichterungen
für die Pflichtigen in den vier Hochstiftskreisen gab es keine einseitige
Besitzumverteilung zugunsten der Großgrundbesitzer. Im Vergleich zu
Ostelbien konnten daher mittlere und vor allem kleine Bauern sicher leben
und wirtschaften. | 51 |
Die Einrichtung der Paderborner Tilgungskasse übte eine Vorbildfunktion
für die gesamte preußische Monarchie und die benachbarten Staaten
aus. Wie ausgeführt, wurde gegen den Grundsatz einer äquivalenten
Ablösung aufgrund des Tilgungskassenreglements von 1836 der Ablösungssatz
zum Vorteil der Bauern abgesenkt. Der große Erfolg der Tilgungskasse
rührte daher, dass sie staatlich abgesicherte Schuldverschreibungen für
die Berechtigten anbot, die vorteilhafter waren als lange Prozesse und Subhastationen,
d.h. Zwangsversteigerungen, die den Pflichtigen immer dann drohten, wenn sie
im Rückstand waren mit Abgaben oder Diensten. Die Tilgungskasse konnte
diese Gefahr bannen. Auch mussten die Grundherren in der Folge keine Naturalien
mehr annehmen, sodass ihnen kein Vermarktungsrisiko entstand. Die zu diesem
Zeitpunkt bereits erfolgte Leistung in Geld dürfte eine weitere Motivation
der Grundherren gewesen sein, einer schnellen Ablösung zuzustimmen, um
an Bargeld zu kommen. Auch wenn die Bauern durch die Ablösung der Reallasten
nicht automatisch von ihren weiteren Schulden und Schuldenquellen befreit
waren, so erhielten sie doch relativ früh die Dispositionsfreiheit über
ihre Höfe. Der staatliche Eingriff wirkte sich damit positiv auf die
Liberalisierung des Agrarsektors aus, zumal der Staat durch Geldleistungen
unterstützend eintrat. | 52 |
Von den übrigen Teilen des Regierungsbezirks Minden war der Erfolg der
Tilgungskasse in den vier Paderborner Kreisen nicht unbeobachtet geblieben.
Insbesondere im benachbarten Wiedenbrücker Kreis, aber auch im Mindenschen
regte man daher die Errichtung ähnlicher Institutionen an. Wegen der
dort weniger stark ausgeprägten Armut lehnten aber insbesondere die Ministerien
und die Grundherren eine Ausweitung des Geschäftsbereichs der Tilgungskasse
oder die Übernahme des Tilgungskassenreglements durch benachbarte Gebiete
ab. | 53 |
Die Paderborner Tilgungskasse hatte dennoch letztlich eine Vorbildfunktion
für Preußen und sogar darüber hinaus. Vergleichbare Einrichtungen,
wie die 1839 für die Grafschaften Wittgenstein und Wittgenstein-Berleburg,
sowie die 1845 für die Kreise Heiligenstadt, Mühlhausen und Worbis
gegründeten Hilfskassen, beruhten auf dem Reglement der Paderborner Tilgungskasse.
Wenn der Historiker Koselleck davon spricht, dass der Staat hinsichtlich der
finanziellen Unterstützungsmaßnahmen für die Bauern "liberaler
[war], als er es sich hätte leisten dürfen",
dann wird die besondere Rolle der Paderborner Tilgungskasse erst recht deutlich.
Es handelt sich dabei um ein rühmliches, aber in Preußen zunächst
nur begrenzt weiter verfolgtes Unterfangen. | 54 |
Erst in den späten 40er Jahren des 19. Jahrhunderts erkannte das preußische
Königreich wirklich die Notwendigkeit staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
für seine bäuerlichen Untertanen. Das Rentenbankgesetz von 1850
für ganz Preußen orientiert sich deutlich am Paderborner Tilgungskassenreglement
von 1836. | 55 |
Damit hatte das Königreich Preußen bereits 1836 eine ordnungspolitische
Einrichtung in einer Zeit geschaffen, in der der Staat eigentlich seine
Funktion fast auf den Schutz der Person und des Eigentums reduziert hatte.
Staatlichen Eingriffen stand nämlich das Staatsideal des klassischen
Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - wie
es dem sogenannten Nachtwächterstaat
oft nachgesagt wird - eigentlich ablehnend gegenüber. | 56 |
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Fußnoten: |