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Reviewed by: Christiane Birr

Albrecht Cordes / Bernd Kannowski (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter

(Rechtshistorische Reihe, Band 262) Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main u.a. 2002. VII, 153 S.; 34.- €, ISBN 3-631-38161-1

 

Der Band ist aus einem Symposium hervorgegangen, das am 8. und 9. Dezember 2000 vom Graduiertenkolleg für Europäische Rechtsgeschichte der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. abgehalten wurde. Er enthält fünf der damals gehaltenen Vorträge (WEITZEL, KROESCHELL, ALTHOFF, NISHIKAWA und DILCHER); ergänzt werden diese durch zwei eigens für den Band verfasste Beiträge der Herausgeber, welche in die Problemstellung sowie den Forschungs- und Diskussionsstand einführen. Im folgenden sollen einige Beiträge für die Besprechung herausgegriffen werden. Doch sei bereits vorab gesagt, dass sämtliche Beiträge die Lektüre lohnen; der schmale Band bietet eine Fülle von Anregungen und Denkanstößen und zugleich eine gelungene Zusammenfassung und Zuspitzung der weitläufigen Debatte. Einziger Wermutstropfen ist das Fehlen eines Diskussionsberichts; gerade solche Berichte geben Aufschluss über Lebendigkeit und Intensität des Meinungsaustauschs und provozieren weitere Stellungnahmen, wie im vorliegenden Band der Beitrag von GERD ALTHOFF zeigt (S. 79 f.), der mehrfach auf bereits 1997 im Historischen Kolleg (München) geführte Diskussionen Bezug nimmt.1

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Die Diskussion um den Rechtsbegriff des Mittelalters geht in ihr viertes Jahrzehnt,2 die Zahl der Beiträge, die sich mit dem Thema beschäftigen, ist kaum überschaubar, und entsprechend aufwendig ist es, den Forschungsstand nachzuzeichnen. Deshalb ist BERND KANNOWSKI für seinen Eröffnungsbeitrag, "Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion", besonders zu danken. Er zeichnet in großen Linien die Debatte nach, wie sie sich seit Erscheinen von FRITZ KERNS berühmten Aufsatz "Recht und Verfassung im Mittelalter" im Jahr 19193 entwickelt hat. Um einen ersten Überblick zu erleichtern, strukturiert KANNOWSKI seine Darstellung durch die Gegenüberstellung von "Konsens" und "Kontroversen". Konsens bestehe in der Forschung über den "Abschied vom 'guten alten Recht'", über die elementare Verknüpfung mittelalterlichen Rechts mit dem Gerichtsverfahren ("mittelalterliches Recht ist im Kern Verfahrensrecht" und "Recht ist das, was vor Gericht gilt", S. 5 f.) sowie in der Akzeptanz des Konzepts der "Rechtsgewohnheit". An dieser Stelle (S. 6 Anm. 32) hätte man sich (Ehre, wem Ehre gebührt!) eine konkretere Rückführung auf KARL KROESCHELL vorstellen können: Er hatte das Wort "Rechtsgewohnheit" bei WILHELM ARNOLD gefunden4 und für die moderne rechtshistorische Forschung als Begriff fruchtbar gemacht. Erst KROESCHELLS überzeugende Konzeption der "Rechtsgewohnheiten" (nunmehr im Plural) und seine prägnante Formulierung ("Das mittelalterliche deutsche Recht kennt also Rechtsgewohnheiten, kein Gewohnheitsrecht")5 haben dem Begriff zur allgemeinen Akzeptanz verholfen.

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Natürlich leben solche Forschungsüberblicke stets von Vereinfachungen und können schon deshalb nur den Einstieg in die Lektüre der zitierten Autoren erleichtern, nicht die Lektüre selbst ersetzen. Deshalb wollen die folgenden Anmerkungen nicht als (ganz und gar unangebrachte) Beckmessereien verstanden werden, sondern eher als ein lautes Überlegen bei der Lektüre. Denn vielleicht ist der "Abschied vom 'guten alten Recht'" doch noch nicht so endgültig und im allgemeinen Konsens vollzogen, wie es der kurze Abschnitt im vorliegenden Beitrag glauben lässt. GERHARD DILCHER weist zu Recht auf die Prägung oraler Kulturen durch Regelhaftigkeit und vorgeformte Wiederholungsstrukturen hin, welche auch Sanktionen gegenüber abweichendem Verhalten umfasst.6 Unter diesen Voraussetzungen der Tradierung und Anwendung von Recht ist aber schwer vorstellbar, wie die Rechtfertigung der konkreten Entscheidungen erfolgen soll, wenn nicht durch Rekurs auf das althergekommene und bewährte Recht. Im übrigen, so DILCHER, verbiete es gerade die Akzeptanz der Vorstellung vom "guten alten Recht" als Beschreibung des Weltbildes oder der Mentalität einer oralen Kultur, eine angeblich archaische Statik des Rechts anzunehmen: wo sich die mündlich vermittelte Tradition in ständigem Fluss und Wandel befinde, passten sich auch die Rechtsgewohnheiten den jeweiligen (sozialen, ökonomischen, politischen, mentalen) Verhältnissen an.7 Selbst KARL KROESCHELL, lange Zeit entschiedener Gegner der KERN'schen These,8 beschreibt in einem neueren Beitrag, wie im traditionalen Recht des ländlichen Bereichs Veränderungen und Neuerungen "in der ständigen Wiederkehr des immer Gleichen ... kaum wahrgenommen" wurden und "rasch mit dem" verschmolzen, "was man nach eigener Überzeugung schon immer so gemacht hatte".9 Damit räumt auch er, wenngleich zögernd, dem "guten alten Recht" zumindest in der Mentalitätsgeschichte einen Platz ein.10

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Ebenfalls einführenden Charakter hat der Beitrag von ALBRECHT CORDES, "Rechtsgewohnheiten in lübischen Gesellschaftsverträgen". Er zeichnet zunächst die "Karriere" des Begriffes "Rechtsgewohnheiten" nach, um dann zu resümieren: Der Begriff habe "vor allem destruktive Potenz entwickelt" und keinen eigenen, allgemein akzeptierten Inhalt gewonnen. Das Symposium habe einem Versuch eben dieser inhaltlichen Klärung dienen sollen. Dass sich allerdings gerade KARL KROESCHELL auf diese Vorgabe wenig eingelassen hat,11 wertet CORDES als "Indiz dafür, dass sich die Diskussion um die Inhalte des Begriffs 'Rechtsgewohnheit' in einer Sackgasse befindet" (S. 34). Aus einer Sackgasse aber kommt man nur wieder heraus, indem man zurückgeht, und so schlägt CORDES vor, nicht weitere Theorien an die bereits "theoriegesättigte Diskussion" heranzutragen, sondern die terminologischen Probleme für den Augenblick ruhen zu lassen und stattdessen die Quellengrundlage für künftige Theorienbildung zu verbreitern. Seinen Vorschlag setzt er umgehend in die Tat um: In einer kurzen Fallstudie schildert er anhand lübischer Gesellschaftsverträge aus der Zeit um 1300 das Aufeinandertreffen einer von Handelsbräuchen geprägten Vertragspraxis mit einer statutarischen Norm. Die Vertragspraxis bestätigt sich in diesem Beispiel als "Zentrum der normativen Aktivität",12 als eine der treibenden Kräfte in der Entwicklung des Rechts. Letztlich unbeantwortet bleibt die Frage nach der Normqualität des Stadtstatuts, wobei CORDES eher dazu tendiert, es nicht als Sollenssatz, sondern als "Regelungsvorschlag" mit "Standardlösung für das fragliche Problem" (S. 36) zu betrachten. Überhaupt bekundet er Sympathie für das Schlagwort "Recht als Vorschlag", welches den Rechtsbegriff vom Erfordernis des "Normcharakters" befreien soll. Dieses nicht normative Recht soll auch Regeln erfassen, die weder gerichtlich erzwingbar noch überhaupt zur kontroversen Konfliktlösung geeignet sind; sie müssen auch nicht von einer übergeordneten gesetzgeberischen Autorität herrühren. Daran anschließend bietet er eine eigene Definition der "Rechtsgewohnheiten" an, ein Versuch, den bislang so "destruktiven" Begriff mit einem positiven Inhalt zu füllen: Rechtsgewohnheiten seien "eingeübte, vielfach wiederholte Verhaltensweisen auf einem Gebiet des Rechts, zu denen man nicht verpflichtet war, deren Verbindlichkeit erst durch Konsens und freiwillige Unterwerfung entstand und die über die konkrete Verabredung hinaus keine bindende Wirkung für die Zukunft entfalteten" (S. 37). Unverkennbar ist dieser Begriff der Rechtsgewohnheiten vom Modell des Vertrages geprägt. Die Übertragung dieser sehr harmonischen, auf Freiwilligkeit, Unverbindlichkeit und allseitigen Konsens abstellende Definition auf die Sphäre des Prozesses, also auf das zweite "Zentrum normativer Aktivität",13 will zumindest mir nicht recht gelingen. Und: Wie bestimmt sich das "Gebiet des Rechts", auf dem sich die Verhaltensweisen abspielen sollen und an das gerade die entscheidende Abgrenzung gegenüber dem rein sozialen, sittlichen oder moralischen Verhalten geknüpft ist? Nachdem der Teufel der Normativität ausgetrieben ist, meldet sich schon der Beelzebub des Rechtsbegriffes zur Stelle.

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Aus der Feder JÜRGEN WEITZELS stammt der Beitrag "'Relatives Recht' und 'unvollkommene Rechtsgeltung' im westlichen Mittelalter. Versuch einer vergleichenden Synthese zum 'mittelalterlichen Rechtsbegriff'". Auch er sichtet die in den Jahrzehnten gewachsene Diskussion, um zu sichern, was unter Rechtshistorikern jenseits aller Differenzen und Missverständnisse Konsens ist. Eindringlicher als bisher geschehen müssten die entwickelten Konzepte miteinander verglichen werden, um die Elemente des Rechtsbegriffs herauszuarbeiten, die bei weiteren Überlegungen nicht zur Disposition stünden. Um das Vorverständnis moderner Juristen von "Recht" aufzubrechen, spricht WEITZEL von "relativem" Recht oder von Recht "von unvollkommener Geltung". "Relativ" in WEITZELS Sinne ist Recht vor der Erlangung seiner spezifischen Eigenständigkeit, nämlich dann, wenn soziale und rechtliche Gewohnheit (noch) untrennbar miteinander verwoben sind. "Relativ" ist außerdem solches Recht, das sich zwar bereits vollkommen von Sitte oder Religion getrennt hat, aber in seiner Geltungsstruktur unvollkommen oder reduziert ist. Mit dem Begriff der "relativen" oder "unvollkommenen" Rechtsgeltung umschreibt WEITZEL zwei charakteristische und aus Sicht des heutigen Juristen besonders verstörende Phänomene des vormodernen Rechts: die Abhängigkeit der Normanwendung vom Ansehen der jeweils betroffenen Person und den "Normenkampf" (S. 49), d.h. das dauerhafte Konkurrieren verschiedener Normgeber und normativer Regelungskonzepte, welche sich in ihrer tatsächlichen Anwendung gegenseitig beschneiden und relativieren. Eine solche "relative" Geltung des Rechts scheint ihm dort "mit Händen zu greifen", wo "zunächst normfreies Regelverhalten und wertfreie Sitte auf dem Wege konstanter Vertragspraxis in Rechtsgewohnheit(en) umgewandelt werden" (S. 52) und Normen in "konkret-konsensuale[n]-relative[n] Beziehungen" ihren Ausgangspunkt haben (S. 54). Auch im Prozess diagnostiziert WEITZEL die "unvollkommene Rechtsgeltung", diesmal im Hinblick auf bereits existente Rechtsgewohnheiten. Schriftloses Recht kann jederzeit von einer Partei vor Gericht existentiell in Frage gestellt werden, nur ein erneut im Gericht zwangsweise hergestellter Konsens ist in der Lage, bestrittene Rechtsgewohnheiten überdauern zu lassen. Deshalb dürfen Gerichtsverfahren und Urteil als Form und Ergebnis verbindlicher Konkretisierung des Rechts nicht in ihrer Qualität relativiert werden: "Das Gerichtsverfahren ist keine beliebige Kommunikationsform und das im Urteil artikulierte Recht keine beliebige Sozialnorm" (S. 62).

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Damit spricht WEITZEL direkt GERD ALTHOFF an, der in seinem Beitrag "Recht nach Ansehen der Person. Zum Verhältnis rechtlicher und außerrechtlicher Verfahren der Konfliktbeilegung im Mittelalter" den Ball aufnimmt. Er betont wie schon in seinen vorigen Arbeiten die starke Konkurrenz, welche der gerichtlichen Austragung von Konflikten aus anderen, auf sozialen Gewohnheiten, Spielregeln der Politik, Verwandtschafts- und Freundschaftsbindung etc. basierenden Regelungsformen erwuchs: "Und es ist kein höherer Geltungsanspruch der gerichtlichen Regelungen festzustellen - manchmal sogar das Gegenteil" (S. 82). ALTHOFF strukturiert seinen Beitrag anhand drei zentraler Thesen (S. 83). Deren erste besagt, dass gütliche Formen der Konfliktlösung namentlich dann den gerichtlichen vorgezogen wurden, wenn Angehörige der Führungsschicht in diese Konflikte verwickelt waren. Dabei wurde die gütliche Konfliktbeilegung nicht von den Gerichten angeregt bzw. vorgeschrieben, sondern von den Adligen selbst beansprucht. So sieht ALTHOFF einen Zusammenhang zwischen dem Rang der Personen und der Art der Konfliktlösung und weist auf die Rolle der Vermittler hin, die sich in einem komplexen Geflecht sozialer Beziehungen zu beiden Parteien um die Schlichtung bemühen. Gerade am Tätigwerden der Vermittler ließe sich die Schwierigkeit, zwischen rechtlichen und sozialen Gewohnheiten zu unterscheiden, besonders gut zeigen. In seiner zweiten These formuliert ALTHOFF: Man konnte gerichtliche Entscheidungen durch außerrechtliche Aktivitäten beeinflussen, verändern oder auch aufheben, und solche Aktivitäten werden nicht als Verstoß gegen rechtliche Gepflogenheiten angesehen, sondern sind ein "akzeptierter Teil des gesamten Regelsystems" (S. 86). Gerade diese in der Tat überaus häufig zu beobachtende Flexibilität des Rechts, der individuelle, im Ergebnis höchst verschiedene und kaum je vorhersagbare Erfolg von Fürsprache und sozialen Interventionen, verbietet es allerdings in meinen Augen, von einem "Regelsystem" zu sprechen. In seinen Beispielen rekurriert ALTHOFF immer wieder auf politisch brisante Konfliktfälle bzw. Prozesse, in denen nicht allein auf rechtlicher, sondern - häufig in erster Linie - auf politischer Ebene eine Lösung zur Wiederherstellung eines für alle Beteiligten erträglichen modus vivendi gefunden wird. Natürlich ist in der Politik, damals wie heute, ein gerichtliches Verfahren stets nur eine von mehreren Optionen und nicht immer die beste. Dennoch sind beide Ebenen auch in den Augen der Beteiligten offenbar voneinander getrennt. Dass die Rechtsgeschichte einen weiten und flexiblen Rechtsbegriff braucht, liegt auf der Hand. Aber er muss (und kann) eben nicht auch politische Phänomene umfassen, wie ALTHOFF andeutet (S. 87); was in den Augen der Zeitgenossen getrennt war (hier die sententia a iudicibus decernitur, dort die Intervention einflussvoller Fürsprecher mit dem Ziel, die gratia regis für den Verurteilten zu gewinnen), kann in der historischen Analyse nicht in dem gemeinsamen Topf des sozialen Verhaltens landen. Im übrigen geht es ALTHOFF um dasselbe Phänomen, welches WEITZEL mit seinem Begriff der "unvollkommenen" Rechtsgeltung erfassen will: die Abhängigkeit der Normanwendung vom Ansehen der jeweils betroffenen Person und damit auch das Bestehen von Konfliktlösungsmöglichkeiten neben und anstelle des Rechts. Um diese geht es ALTHOFF auch in seiner dritten These: Gerichtliche Entscheidungen hatten für das Umfeld des Verurteilten nicht die Konsequenzen, die sie nach den heutigen rechtshistorischen Lehrbücher eigentlich gehabt haben müssten (S. 83), was ALTHOFF am Beispiel zweier Achtfälle illustriert, in denen die gebannten Herzöge keineswegs von allen Getreuen verlassen wurden. ALTHOFF rennt bei Rechtshistorikern offene Türen ein, wenn er abschließend formuliert: "Für die Zeiten des Mittelalters aber ist es in jedem Fall ein Anachronismus, wenn man nicht berücksichtigt, dass in dieser Zeit der Satz: Vor dem Gesetz, dem Recht oder dem Gericht sind alle gleich, nicht galt" (S. 92). Wie aber ein Rechtsbegriff aussehen soll, der in der Lage ist, die "Gemengelagen rechtlicher und außerrechtlicher Strategien der Konfliktbewältigung ohne Vorrang der rechtlichen einzuschließen" (S. 92, Hervorhebung von mir), bleibt wohl sein Geheimnis.

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Den Abschluss bildet GERHARD DILCHER mit seinem umfangreichen Beitrag "Die Zwangsgewalt und der Rechtsbegriff vorstaatlicher Ordnungen im Mittelalter". Auch er sieht - wie CORDES - die Diskussion, die von den Thesen FRITZ KERNS ihren Ausgangspunkt nahm, als festgefahren an. Für ihn landen alle Bemühungen, welche den Rechtsbegriff aus dem Selbstverständnis der Quellen ableiten wollen, letzten Endes in einem hermeneutischen Zirkel, "der als solcher nicht hintergehbar ist" (S. 117). Um der Gebundenheit an die Begrifflichkeiten der (lateinischen) Quellen zu entgehen, wählt DILCHER, von MAX WEBER geprägt, das Kriterium des Rechtszwangs zum analytischen Ausgangspunkt, um sich dem Rechtsbegriff mit Hilfe eines äußeren, soziologisch erkundbaren Kriteriums zu nähern. Methodisch will DILCHER zunächst die Ausübung von Zwang konstatieren, um dann nach den dahinterstehenden normativen Vorstellungen und dem entsprechenden Rechtsbegriff zu fragen (S. 120). Er meint, Überzeugungen der Rechtsgemeinschaft von einer "Ordnung" ausmachen zu können, wenn auch in einer oralen Kultur der "intersubjektive Inhalt dieser Ordnung stets unsicher bleibt und von Fall zu Fall durch Konsens festgestellt werden muß" (S. 137). Daher spricht er von einer "konsensualen 'Überzeugungsordnung'" (S. 138) und fragt nach ihrer Interaktion mit Formen vorstaatlichen Zwangs. Die normativen Überzeugungen, die in einer oralen Kultur gelten, sind nur in zwei indirekten Formen greifbar: als normative Aussage, wenn sie zur consuetudo redacta in scriptis verfestigt sind und als Wertungsgrundlage eines berichteten Einzelfalls. DILCHER ist optimistisch hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten; nach der Schilderung eines Beispieles aus Kastilien (es handelte sich um ein Handhaftverfahren nach einem Diebstahl, den ausgerechnet der Sohn des Alcalden an fremden Reisenden begangen hatte; der Dieb wurde erdrosselt), resümiert er: "Die normativen Überzeugungen, die den Hergang beherrschen und leiten, sind ebenso einfach wie klar - und übrigens im gesamten europäischen Mittelalter verbreitet", nämlich: der heimliche, nächtliche Diebstahl stelle ein besonders ehrenrühriges Vergehen dar (S. 138). Gerade im Hinblick auf den Diebstahl hat aber kürzlich HARALD SIEMS aufgezeigt, auf welch tönernen Füßen die Annahme solcher "normativer Überzeugungen", die noch dazu überregionale und überzeitliche Geltungskraft besessen haben sollen, stehen und wie groß die Gefahr ist, Gedankenkonzepte des 19. Jahrhunderts auf das Mittelalter zu projizieren.14

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Fußnoten:

1 Gemeint ist der Diskussionsbericht in DIETMAR WILLOWEIT (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 45. München 2000), S. 323-340. Auf ihn bezieht sich auch KANNOWSKI in seinem Beitrag im vorliegenden Band.

2 Nach JÜRGEN WEITZEL, "Relatives Recht" und "unvollkommene Rechtsgeltung" im westlichen Mittelalter. Versuch einer vergleichenden Synthese zum "mittelalterlichen Rechtsbegriff" im besprochenen Band, S. 43, der die Anfänge der Diskussion an den 1968 erschienenen Publikationen KARL KROESCHELLS festmacht: Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht (Göttingen 1968); Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (Vorträge und Forschungen XII, Konstanz-Stuttgart 1968) S. 309-335, Nachdruck in: KARL KROESCHELL, Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht (Berlin 1995) S. 277-309.

3 FRITZ KERN, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919), S. 1-79 (Nachdruck u.a. Tübingen 1952, Darmstadt 1992).

4 W. ARNOLD, Cultur und Rechtsleben (1856) S. 270 ("Erst allmählich wurde aus der Sitte eine Rechtsgewohnheit und daraus ein Recht"). Dazu vgl. KARL KROESCHELL, Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte. Das Beispiel des Mittelalters, in: ZRG GA 111 (1994) S. 310-329, 314 mit Anm. 15. Zu W. ARNOLD vgl. DERS., Ein vergessener Germanist des 19. Jahrhunderts: Wilhelm Arnold (1826-1883), in: STEN GAGNÉR (Hrsg.), Festschrift für Hermann Krause (Köln 1975) S. 253 ff.

5 KARL KROESCHELL, Deutsche Rechtsgeschichte 2 (1250-1650) (8. Auflage, Opladen 1992, in erster Auflage: Reinbek bei Hamburg 1973) S. 86. Die entgegenstehenden Beharrungskräfte mag ein Schlaglicht verdeutlichen: Noch 1990 bezeichnet REINER SCHULZE auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag in Nimwegen KROESCHELLS terminologischen Vorschlag als "leider bislang wenig beachtet": REINER SCHULZE, "Gewohnheitsrecht" und "Rechtsgewohnheiten" im Mittelalter - Einführung, in: GERHARD DILCHER u.a., Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Berlin 1992) S. 9-20, 12.

6 DILCHER, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: DERS. u.a. (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Berlin 1992), S. 21-65, 51.

7 DILCHER, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit (wie Anm. 6) S. 59 f.

8 Vgl. etwa KROESCHELL, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert (wie Anm. 2); DERS., Deutsche Rechtsgeschichte 2 (wie Anm. 5) S. 253-255. Dabei darf das Erscheinungsdatum der 8. Auflage des Lehrbuchs (1992) nicht über die Entstehungszeit des Textes täuschen; er ist an dieser Stelle wohl seit der ersten Auflage 1973 unverändert geblieben; als "bis zur Stunde" gilt ein Aufsatz HATTENHAUERS in der ZRG GA 83 von 1966 (ebda., S. 253) und die "neueste Zeit" reicht in der zitierten Literatur nicht über das Jahr 1971 hinaus (ebda., S. 253 f.).

9 KARL KROESCHELL, Von der Gewohnheit zum Recht. Der Sachsenspiegel im späten Mittelalter, in: HARTMUT BOOCKMANN/LUDGER GRENZMANN/BERND MOELLER/MARTIN STAEHELIN (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil (Bericht der Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 bis 1995; Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 228; Göttingen 1998), S. 68-92, 78.

10 Ausdrücklich in KROESCHELL, Von der Gewohnheit zum Recht (wie Anm. 9) S. 78 Anm. 67.

11 Vgl. die "Vorbemerkung" KROESCHELLS zu seinem Beitrag im vorliegenden Band (S. 63).

12 JOACHIM RÜCKERT, Die Rechtswerte der germanistischen Rechtsgeschichte im Wandel der Forschung, in: ZRG GA 111, S. 275-309, 303.

13 RÜCKERT, Rechtswerte (wie Anm. 12) 303.

14 HARALD SIEMS, Die Lehre von der Heimlichkeit des Diebstahls. Zugleich eine Untersuchung zu Raub und Diebstahl im gelehrten Recht, in: JÜRGEN WEITZEL (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen, Band 7. Köln-Weimar-Wien 2002) S. 85-152.

Review by March 11, 2004
© 2004 fhi
ISSN: 1860-5605
First publication
March 11, 2004

  • citation suggestion Reviewed by: Christiane Birr, Albrecht Cordes / Bernd Kannowski (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter (March 11, 2004), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2004-03-birr/