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Carsten Fischer*

Die Täufer in Münster (1534/35) - Recht und Verfassung einer chiliastischen Theokratie -

I. Einleitung

1Die Täuferherrrschaft1 in Münster vom Februar 1534 bis zum Juni 1535 stellte den Höhepunkt der religiösen Auseinandersetzungen im Westfalen der Reformationszeit dar. Ihr Ende bedeutete das Scheitern der Reformation in dieser Region: Münster wurde wieder katholisch.

2Die 1534/35 dort stattfindenden religiösen Umwälzungen hatten grundlegende rechtliche Umgestaltungen zur Folge: Münster erlebte die Entwicklung von einer Bischofsstadt mit Ratsverfassung zu einer theokratischen Monarchie, dem „Neuen Jerusalem“ auf westfälischem Boden. Die grundsätzliche Trennung von Stadtverfassung und Religion wurde aufgehoben, die Verklammerung von Revolution, Religion, Theologie und Recht durch die Bibel in ihrer Auslegung durch die Täufer begann. Ziel der militärischen wie rechtlichen Maßnahmen der Täufer war die Verwirklichung der „Gemeinde Christi“, einer von Andersgläubigen streng abgeschirmten Gemeinschaft von Rechtgläubigen in Erwartung der Wiederkehr Christi und des Beginns seines Tausendjährigen Reiches auf Erden. Das täuferische Münster wurde eine gelebte Umsetzung der chiliastischen Deutung der Apokalypse (20,1-6) des Johannes.

3Als im Juni 1535 Münster nach sechzehnmonatiger Belagerung durch Fürstbischof Franz von Waldeck und seine Verbündeten fiel, ging das täuferische Utopia in einem Blutbad unter. Und mit ihm endete der erste und einzige ernstzunehmende Versuch einer großen Stadtgemeinde, selbstbestimmt abseits von Luther und Zwingli einen radikal- reformatorischen Kurs einzuschlagen.

4Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die wichtigsten rechtlichen Entwicklungen Münsters unter der Herrschaft der Täufer in ihrer chronologischen Reihenfolge darzustellen. Dabei sollen sie in den jeweiligen theologischen und geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet und zu Grunde liegende Tendenzen aufgezeigt werden. Den Untersuchungen zu Recht und Verfassung des täuferischen Münster (III.) geht dabei eine einführende Schilderung der Reformation im Reich und in Münster voraus (II.).

II. Voraussetzung und Rahmen täuferischen Wirkens: Die Reformation

5Die rechtlichen Entwicklungen Münsters in den Jahren 1534/352 waren in das reichsweite Geschehen der Reformation eingebettet. Dessen Kenntnis ist deshalb zum Verständnis der münsterischen Rechtsgeschichte unerlässlich. Ereignisgeschichte und Personen werden daher – in gebotener Kürze – im Folgenden dargestellt.

1. Die Situation im Reich

6Prägend für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts und bestimmend für die Ereignisse in Münster war die hauptsächlich durch Dr. Martin Luther (Wittenberg) und Huldrych Zwingli (Zürich) initiierte Reformation. Die Hinterfragung abendländischer theologischer Grundsätze, gepaart mit ökonomischen Krisen, sozialer Unzufriedenheit und weitgehender Zersplitterung der politischen Landschaft im Deutschen Reich, sowie dem Dualismus zwischen geistlicher und weltlicher Macht, schufen ein Klima der Unruhe und Aufbruchstimmung. Die lauffeuerartige Verbreitung der lutherischen Lehre zeigt die breite Zustimmung weiter Reichsteile zu der Kritik aus Wittenberg an bestehenden kirchlichen und theologischen Missständen. Luther zielte auf eine Besserung einzelner reformierungsbedürftiger Umstände, wehrte sich jedoch zunächst gegen eine Kirchenspaltung. Aber die von ihm und Zwingli angestoßene Bewegung entwickelte eine kaum zu kontrollierende Eigendynamik, die z.B. auch zum Bauernkrieg (1524-26) führte3.

7Rasch bildeten sich innerhalb der Reformation verschiedene theologische Richtungen aus, die in ihrer Kritik am Bestehenden unterschiedlich weit gingen4. In diesem Zusammenhang sind die Täufergruppierungen zu sehen. Ihre Überzeugungen entfernten sich weiter von der etablierten Lehrmeinung als die der gemäßigteren Reformatoren Luther und Zwingli. Dadurch gerieten sie alsbald reichsweit zwischen Hammer und Amboss: Die Altgläubigen lehnten die Täuferlehren ohnehin als Ketzerei ab, die gemäßigten Reformationskräfte distanzierten sich von ihnen, um - jenseits der theologischen Debatte - ihre seit dem Wormser Edikt von 1521 auch offiziell als Ketzerei verbotene Sache nicht weiter zu gefährden. Ihnen war es darüber hinaus wohl nicht nur darum zu tun, eine drohende Zersplitterung der Reformation zu vermeiden. Vielmehr konnten sich die Lutheraner und andere in ihrer Abgrenzung zu den täuferischen Gruppierungen dem katholischen Lager als das kleinere Übel darstellen und diesem zumindest teilweise die Angst vor einer durch die Reformation drohenden uferlosen Verwerfung der gegenwärtigen Ordnung nehmen5. So einigten sich die Vertreter der alten Ordnung und der Reformation am 25. April 1529 auf dem Reichstag zu Speyer darauf, fortan die Täuferlehren unter Androhung der Todesstrafe zu verbieten6.

8Nachdem es den Täufern gelungen war, in Münster die Macht zu ergreifen, kamen weitere Gründe für ein Eingreifen sowohl der Altgläubigen wie der Reformationsanhänger hinzu7: Die Machthaber beider Seiten - geistliche und weltliche Herrscher auf der katholischen, die weltlichen Landesherren auf der evangelischen - mussten eine Bedrohung ihrer Position durch eine Ausbreitung des Täufertums fürchten. Das Beispiel Münsters hatte nur allzu deutlich gezeigt, dass die Reformation durchaus einen anderen Weg gehen konnte, als den in den meisten deutschen Städten eingeschlagenen, wo Konfessionsstreitigkeiten oder ein Übertritt zum anderen Glauben überwiegend im Rahmen der durch die Stadtverfassung geregelten Konfliktlösungsmechanismen vonstatten gingen8. Zwar war auch in Münster die Täuferpartei legal an die Macht gelangt9. Allerdings war der Stadtherr, Fürstbischof Franz von Waldeck, an diesem Vorgang nicht - wie noch kurze Zeit zuvor bei der Einführung der Reformation (Erster Vertrag von Dülmen, 152610) - beteiligt gewesen. Zudem waren die Verwüstungen des Bauernkriegs jedermann noch in guter Erinnerung. An einer Begrenzung sozialrevolutionären Potentials und damit an einer Eindämmung der radikalen Flügel der Reformation, zu denen auch die Täufer gehörten, war demnach allen Fürsten gelegen. Die Errichtung des „Neuen Jerusalem“ in Münster, das theoretisch keine Rücksicht auf weltliche Herrschaft nahm, sondern ganz in Erwartung des „Tausendjährigen Reichs“ lebte, musste demnach von den Vertretern der bestehenden Ordnung im Reich als Kampfansage verstanden werden. Und die Fürsten nahmen - wenn auch nach einigem Zaudern - diesen Kampf auf.

2. Die Situation in Münster11

9Nachdem es bereits 1525 erste reformatorische Unruhen in Münster gegeben hatte12 begann 1531 Bernhard Rothmann, Kaplan in der Stiftskirche St. Mauritz vor der Stadt, die Reformation zu predigen. Rothmanns Lehre fand in Münster rasch Anhänger, so dass er am 23. Februar 1532 Pastor der Hauptkirche St. Lamberti werden konnte und darüber hinaus im Sommer 1532 alle Stadtkirchen mit evangelischen Predigern besetzt wurden. Im selben Jahr kam es zum Konflikt zwischen Fürstbischof Franz von Waldeck und der Domstadt über die Rücknahme der durch Rothmann eingeführten reformatorischen Neuerungen. Dieser Streit wurde im Februar 1533 durch den Zweiten Dülmener Vertrag13 beigelegt, an dessen Abschluss maßgeblich Philipp, Landgraf von Hessen und zugleich einer der Wortführer der protestantischen Fraktion im Reich, beteiligt war. Resultat war ein Teilsieg der Reformation: Münster erhielt die Erlaubnis, in allen Pfarrkirchen evangelisch zu predigen. Die Gottesdienste in Dom und Klöstern hingegen blieben katholisch.

10Rothmanns theologische Position veränderte sich allerdings in der Folgezeit unter dem Einfluss niederländischer Melchioriten14. Er lehnte schließlich die Kindertaufe ab und befürwortete eine Bekenntnistaufe Erwachsener. Dem Richtungswechsel Rothmanns folgten auch viele Münsteraner, so dass es im Januar 1534 zu Massentaufen erwachsener Bürger kam. Mit der Ankunft melchioritischer Prediger im selben Monat, unter ihnen Jan Bockelson aus Leiden, genannt Jan van Leiden, erhielt der Radikalisierungsprozess weiteren Schwung. Van Leiden, der sich selbst für einen Propheten hielt, und Rothmann gewannen mehr und mehr Bürger für die Täuferbewegung, es kam zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Altgläubigen, Lutheranern und Täufern. Einig waren sich jedoch die Protestanten und die Täufer darin, dass sie sich jegliche Einmischung des Fürstbischofs in diese Angelegenheit verbaten: Die Täufer fürchteten ihre Verfolgung, die Protestanten eine Gegenreformation im Zuge der Täuferbekämpfung und somit den Verlust der durch den Zweiten Dülmener Vertrag gewonnenen Freiheiten. Befürworteten die Katholiken eingangs ein Eingreifen des Bischofs, so ließen auch sie sich schließlich nach Verhandlungen mit den beiden anderen Gruppen von der Gefahr des Verlustes städtischer Freiheiten und der unterschiedslosen Bestrafung aller Einwohner durch Franz von Waldeck überzeugen15. Während des deshalb vereinbarten Burgfriedens gelang es den Täufern, in der Ratswahl am 23. Februar 1534 die Mehrheit der Ratssitze zu erlangen. Tatsächlich war die Macht dem Rat jedoch faktisch bereits größtenteils entglitten und auf den Mitte Februar in Münster eingetroffenen Propheten Jan Matthijs, einen Bäcker aus Haarlem in den Niederlanden, und - in geringerem Maße - den eloquenten Theologen Bernhard Rothmann übergegangen. Noch vor der Ratswahl ordnete Franz von Waldeck Maßnahmen zur Vorbereitung einer Belagerung an. Am 23. Februar 1534 ließ er sein Hauptquartier in Telgte einrichten und begann, die Stadt einzuschließen. Die Belagerung hatte damit begonnen. Da die Herrschaftszeit der Täufer fast deckungsgleich war mit der Belagerungszeit, ist die religiöse und rechtliche Entwicklung, die Münster in dieser Zeit nahm, vor dem Hintergrund der durch die Belagerung ausgelösten Zwangslage zu sehen.

III. Recht und Verfassung des täuferischen Münster

11Die Herrschaft der Täufer lässt sich zeitlich und sachlich in drei Phasen unterteilen. Die erste, gekennzeichnet durch das Nebeneinander von gewähltem Rat und selbsternanntem Propheten, endete mit dem Tod des Jan Matthijs bei einem Ausfall aus der Stadt am 5. April 1534. Hieran schloss sich der Aufstieg des Jan Bockelson aus Leiden an. Der niederländische Täufer nahm Matthijs’ Position ein, beseitigte die Ratsverfassung und führte eine Ältestenverfassung ein. Anfang September 1534 begann die dritte Phase, als Jan van Leiden noch einen Schritt weiter ging und sich zum König von Münster, dem „Neuen Jerusalem“, ausrufen ließ. Gleichzeitig schaffte er auch die Ältestenverfassung wieder ab. Mit der Erstürmung Münsters am 25. Juni 1535 durch die Truppen Franz von Waldecks und seiner Verbündeten fanden das Königtum Jan van Leidens und die Herrschaft der Täufer ihr Ende.

1. Die Errichtung des Neuen Jerusalem: Von der Ratswahl bis zum Tod des Propheten Jan Matthijs (Februar – April 1534)

a) Münsters innerstädtische Verfassungssituation vor der Ratswahl

12Zu Beginn des Jahres 1534 lag die politische Macht innerhalb Münsters in den Händen zweier Institutionen16: Gesetzgebungs- und Exekutivorgan war der Rat. Seine 24 Mitglieder wurden einmal jährlich von 10 Wahlmännern, den „Koergenoten“ (Kurgenossen) gewählt. Die Kurgenossen wiederum wurden von den Bürgern der 6 Leischaften (Bezirke) der Stadt aus ihrer Mitte bestimmt.

13Das zweite Zentrum politischer Willensbildung lag in der Gesamtgilde, dem Zusammenschluss der 17 Einzelgilden der Stadt. Jede dieser Einzelgilden bestimmte zwei „Mesterlude“ (Gildemeister) und diese 34 Gildemeister wiederum wählten zwei „Olderlude“, die Sprecher und Vertretungsorgane der Gesamtgilde. Über diese Olderlude partizipierte die Gesamtgilde an den Entscheidungen des Rats. So hatten sie z.B. Mitsprache- und Vetorechte und mussten vor der Verhaftung eines Gildemitglieds angehört werden. Dabei verstand sich die Gesamtgilde nicht nur als Vertretungsorgan der Gildebrüder, sondern vielmehr auch als Sprachrohr der „Gemeinheit“, d. h. aller Gildenbürger und nicht-gildenfähigen Bürger17.

14Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Münsters Stadtverfassung den männlichen, mit Bürgerrechten versehenen Einwohnern (sog. „gude lude“) die Beteiligung an der Stadtpolitik in mehreren Formen und auf unterschiedlichen Ebenen der mittelbaren Demokratie erlaubte: Über die Wahl der Koergenoten, bei den Gildebrüdern zusätzlich über die Wahl von Mester- und Olderluden, und schließlich für die Gemeinheit die Möglichkeit, auf Entscheidungen des Rats über die Gesamtgilde Einfluss zu nehmen.

b) Rat und Propheten

15In den regulär anstehenden Ratswahlen am 23. Februar 1534 gewannen Sympathisanten der Täufer die Mehrheit der Ratssitze18. Die Täufer hatten sich demnach im Rahmen der Stadtverfassung, also auf legalem Wege, durchgesetzt. Allerdings blieb es nicht allein bei diesem Wahlerfolg. Die Verfassung wurde umgestaltet. Zwar wurden die bisherigen Strukturen nicht angetastet, doch kam ein neues, das weitere Geschehen prägendes Element hinzu: das Prophetenamt. Hatte Jan Matthijs bei seiner Rede am 24. Februar vor der Bürgermeisterwahl19 in seiner Funktion als Prediger noch außerhalb der Verfassungsstrukturen gestanden, so gelang ihm jetzt die stille Institutionalisierung des Prophetenamts. Neben die bisherigen politischen Einrichtungen traten also die Propheten. Der erste Schritt zur Verquickung von Theologie und Recht war damit getan: Legitimation für das Propheten-Amt war nunmehr allein das göttliche Berufensein, oder vielmehr die Überzeugung der Gläubigen hiervon. Die Wahl politischer Entscheidungsträger wurde durch Akklamation ersetzt, der Wahlvorgang entfiel mithin. An die Stelle demokratischer Legitimation zur Machtausübung trat theologische Überzeugungskraft20. Erwartungsgemäß kam es in der Folgezeit zu ersten Kompetenzkonflikten zwischen dem Rat und den Propheten Matthijs und van Leiden. Zwischen Ende Februar und Mitte März21 hatte der Schmied Hubert Rüscher ersteren öffentlich kritisiert22. Daraufhin sprachen die beiden Propheten sowie die täuferischen Prädikanten auf dem Domplatz vor der versammelten Wehrgemeinde und in Anwesenheit Rüschers das Todesurteil über diesen aus mit der Begründung, der Schmied habe mit seiner Kritik am gottgesandten Propheten Gotteslästerung getrieben und dadurch Gottes Zorn erregt. Er müsse nun als „Unreiner“ aus der Gemeinde des heiligen Volkes getilgt werden23. Anschließend vollstreckte Matthijs eigenhändig das Urteil24. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist nicht allein die radikale Brutalität des Propheten, sondern auch dass das Einschreiten der Stadtorgane die Hinrichtung nicht hatte verhindern können. Weder Bürgermeister noch Olderlude25 hatten der Anmaßung von Gerichtsgewalt durch die Propheten etwas entgegen zu setzen. Darüber hinaus richteten sich ihre Einwände auch gar nicht gegen das Strafmaß, sondern vielmehr gegen das Verfahren. Ihrer Meinung nach hätte Rüscher von einem öffentlichen Stadtgericht verurteilt werden müssen. Auch ein ausbleibendes nachträgliches scharfes Vorgehen gegen die Propheten macht klar, dass sich die Machtverhältnisse in der Stadt innerhalb kürzester Zeit entgegen der Verfassung faktisch zu ihren Gunsten verschoben hatten26. Dafür spricht ebenfalls, dass die von Matthijs am 24. Februar 1534 gepredigte Austreibung der Taufunwilligen27 am 27. Februar durch eine Anordnung des Rats verwirklicht wurde. Hiernach hatten die noch immer Ungetauften sich entweder einer Taufe zu unterziehen oder umgehend die Stadt zu verlassen28. Der neu gewählte Rat gab damit die am 30. Januar und 11. Februar 1534 von seinen Vorgängern gegebene Zusicherung religiöser Toleranz auf, und folgte in seiner politischen Handlungsweise dem theologischen Ansinnen Matthijs’ nach29.

c) Gütergemeinschaft

16Nach der Institutionalisierung des Prophetenamtes und der Gleichschaltung von Stadtgemeinde und religiöser (Täufer-) Gemeinde durch Zwangstaufen und Austreibungen war die Einführung der Gütergemeinschaft in der Stadt die letzte bedeutsame Verfassungsänderung dieser ersten Phase der Täuferherrschaft30. In der Theologie des Bernhard Rothmann waren bereits früh Ansätze zu einer Gütergemeinschaft angelegt31. Ab Januar 1534 wurden diese im mehr oder minder heimlichen Gemeindeleben der Täufer verwirklicht, indem einzelne wohlhabende von ihnen Teile ihres Vermögens der Gemeinde zur Verfügung stellten, damit diese es an Not leidende und arme Täufer verteile. Theologische Anknüpfungspunkte Rothmanns waren dabei die Urchristengemeinde und die Apostelgeschichte32. Im Februar nun wurde religiöses Gebot zu weltlicher Stadtordnung und in einigen Einzelanordnungen genauer formuliert: Es wurden „Diakone“ eingesetzt, die den Bestand an Lebensmitteln und später auch Kleidung jedes einzelnen Haushaltes inventarisierten und teilweise auch einsammelten33. Der Geldverkehr wurde abgeschafft, an seine Stelle trat die Tauschwirtschaft. Geld, Gold, Silber und Schmuck waren bei vier hierzu neu ernannten Beamten abzuliefern34. Trotz des Verbots des Geldverkehrs ließen die Täufer jedoch während des später folgenden Königtums eigene Münzen prägen35. Die gesammelten Wertgegenstände sowie die neugeprägten Münzen wurden in der Folgezeit zur Anwerbung von Landsknechten sowie zum Ankauf von Waffen und Nahrung verwandt.

17Neben dieser Umgestaltung des wirtschaftlichen Lebens sollte auch im alltäglichen Rechtsleben ein klarer Schnitt und Neubeginn gemacht werden. Schuldscheine, Rechnungen und sonstige Rechtsdokumente jeglicher Art wurden vernichtet36. Der Verbund der Gütergemeinschaft sollte in Zukunft nicht von weltlichen Forderungen belastet werden.

18Im Gegensatz zur Einführung des Prophetenamtes und ähnlich wie bei den Zwangstaufen und Austreibungen standen hinter der Verwirklichung der Gütergemeinschaft nicht nur theologische Überlegungen, sondern auch militärische. Zwar war zu dieser Zeit der Belagerungsring um Münster noch so durchlässig, dass die Stadt vom Verkehr mit der Außenwelt nicht vollkommen abgeschnitten war. Folglich konnten immer noch - und noch ungefähr ein Jahr lang - Lebensmittel und Waffen zugekauft, Nachrichten ausgetauscht werden37. Trotzdem blieb eine Lebensmittelknappheit bei fortdauernder Belagerung wahrscheinlich. Die Erfassung aller kriegswichtigen Güter war also nicht nur dem Idealbild einer Urchristengemeinde geschuldet, sondern auch - und wohl vor allem - der Kriegsnot. Gleiches gilt für die Austreibungen: Verrat in der Stadt sollte vermieden, illoyale Esser beseitigt werden, entweder durch Einschwören auf den gemeinsamen Verstoß gegen Reichsgesetz38 und Bischofswillen39, also die Bekenntnistaufe, oder durch Austreibung.

19Anders als bei dem Prophetenphänomen gingen bei der Gütergemeinschaft und den Taufen bzw. Austreibungen also Theologie und kriegsbedingte Notwendigkeit Hand in Hand.

2. Theokratie: Die Abschaffung der Ratsverfassung und die Einführung des Ältestenrats (April – September 1534)

20Als am 5. April (Ostersonntag) 1534 nicht, wie von Matthijs vorausgesagt40, die Wiederkunft Christi auf Erden und das Strafgericht eintraten, sah sich der Prophet veranlasst, einen Ausfall zu unternehmen, bei dem er umkam41. Angesichts der geringen Erfolgsaussichten für den nur von wenigen vorgetragenen Angriff ist anzunehmen, dass Matthijs seinen Tod billigend in Kauf nahm. Damit hatte die „Gemeinde Christi“ zwar nicht ihren wichtigsten Theologen (Bernhard Rothmann), aber - und vielleicht schlimmer - einen der Verkünder göttlichen Willens verloren. Durch den Tod Matthijs’ genoß Jan van Leiden nunmehr uneingeschränkte Autorität als Prophet. Er vermochte es, die verunsicherten Bürger zu beschwichtigen, Matthijs’ Tod theologisch zu erklären42 und machte sich umgehend daran, die Verfassung der Stadt Münster umzugestalten.

a) Abschaffung der Ratsverfassung und Einführung des Ältestenrats

21Spätestens am 8. April 153443 beseitigte van Leiden die Ratsverfassung der Domstadt44. Der gewählte Rat wurde von ihm durch einen „Rat der Ältesten der zwölf Stämme Israels“ ersetzt. Führte er zwar diese Ältesten in ihr neues Amt ein, so scheint van Leiden dennoch nicht ohne Zustimmung der einheimischen und zugewanderten Täufer gehandelt zu haben, denn die Verteilung der Sitze im Ältestenrat entspricht verhältnismäßig ungefähr der Zusammensetzung der Einwohnerschaft45. Eine Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen an der Herrschaft war somit durch die Verleihung eines hohen Amtes an ihre jeweiligen Honoratioren sichergestellt.

22Der neu konstituierte Rat erließ alsbald zwei Gesetze, die „Ordnung des weltlichen Regiments in der Stadt Münster“ und die „Öffentliche Verordnung der Zwölf Ältesten“.

b) Die „Ordnung des weltlichen Regiments in der Stadt Münster“

23Die Ordinatio46 besteht aus einem Einleitungssatz und 33 Einzelvorschriften. Das genaue Datum ihres Erlasses ist unbekannt. Die folgende Übersicht soll die Regelungsgegenstände und -schwerpunkte verdeutlichen:

Regelungsgegenstand
(Das * bezeichnet Vorschriften, die sich mit der Verteilung und Durchführung militärischer Aufgaben i.w.S. beschäftigen,
s.u. im Rahmen der Bewertung der Ordinatio.)
Vorschrift Nr.Anzahl der auf den Reglungs- gegenstand verwandten Vorschriften
Verknüpfung von religiösem Gebot / Verbot und Strafregiment der 12 Ältesten durch eine Generalklausel11
Gottesgnadentum der neuen Regierung, Strafgewalt21
Organisatorisches (je 1 Diener für die 12 Ältesten [3], 4 Trabanten für
den Schwertträger [8])
3, 82
Aufsicht über die Wachen4, 52
Rechtssprechung / Gerichtszeiten4761
Verhältnis Prophet Rat71
Generalklausel (Bibel als Verhaltensmaßstab); Berufung Knipperdollings48 zum „Schwertträger“81
Essensordnung, Aufrechterhaltung der Disziplin hinsichtlich der Lebensmittelvorräte*91
Regelung der Essenszeiten der Wachen*101
Aufgabenverteilung / Ressourcenverteilung und -überwachung / Ausübung bestimmter Berufe bestimmten Personen vorbehalten*11-17, 20-
28, 31
16
Davon befassen sich mit der Verwaltung der Lebensmittel49*11, 12, 20,
21, 25-27
6
und mit militärischen / verteidigungstechnischen Aufgaben i.e.S.50*15, 19, 23,
24, 28
5
Modevorschriften5117, 182
Berufung Heinrich Krechtings zum „Notar und Geheimschreiber“191
Bestellung vierer Bürger zu Kämmerern211
Verhör Fremder durch den Schwertträger, Bericht an den Ältestenrat*291
Verbot des Verkehrs mit Fremden und Ungetauften*301
Militärische Ordnung (Fahnenflucht / Verlassen der eigenen und Anschluss an andere Einheit ohne Einwilligung der Ältesten)*321
Verbot der Leichenfledderei / Plünderung (täuferischer Toter!)*331

24Die Ordinatio enthält damit zunächst einmal die schriftliche Verfassung der neuen, göttlich legitimierten politischen Ordnung der Stadt. Theologischer Hintergrund dieser Verfassungsänderung ist die Aufgabe der chiliastischen Naherwartung und der Wahrnehmung Münsters als Neuem Jerusalem. Die Münsteraner orientierten sich jetzt am Konzept des Neuen Israel, also der Stadt- und Täufergemeinde als auserwähltem Volk Gottes, das Vorbildwirkung für die anderen Städte des Reichs haben soll52. Diesem neuen Selbstverständnis entsprechend werden die 12 Ratsmitglieder die „Ältesten der 12 Stämme Israels“ genannt.

25Mit der neuen Verfassung verlieh Jan van Leiden gleichzeitig seinem Prophetenamt Verfassungsrang53. Dadurch gelang es ihm, das ungeklärte Nebeneinander von Rat und Propheten, wie es zur Zeit Jan Matthijs’ bestand und für Konflikte sorgte, aufzulösen: Zwar beschränkte er in Art. 7 der Ordinatio54 seine Rolle auf diejenige des Sprachrohrs des Ältestenrats. Gleichzeitig ließ er sich darin aber als „treuer Diener des Allerhöchsten und der hochheiligen Obrigkeit der Gemeinde Christi und der ganzen israelitischen Gemeinde“55 ausweisen. Die Reihenfolge seiner Herren und die verwendeten Steigerungsformen machen deutlich, dass er sich zunächst Gott, nicht dem Ältestenrat verpflichtet fühlte. Diese Klarstellung in Verbindung mit seiner Eigenschaft als Verkünder göttlichen Willens lassen das angeordnete Weisungsverhältnis zwischen Ältestenrat und dem Propheten inhaltsleer erscheinen. Zudem machte auch die Einführung der 12 Ältesten dem „Volke Israel“ deutlich, wer die engere Verbindung zu Gott und damit im Zweifelsfalle die größere Autorität hatte. Van Leiden übergab ihnen in einer weihevollen Zeremonie auf dem Domplatz als Zeichen ihrer Amtswürde jeweils ein Schwert56. Die Ordinatio führte also zu einer fortgesetzten Institutionalisierung des Prophetenamtes durch schriftliches Gesetz, zur Beilegung der österlichen Unruhe und zur Festigung der persönlichen Macht Jan van Leidens.

26Mit Erlass der Ordinatio wurde uno actu der alte, gewählte Rat abgeschafft57. Ebenso wie dieser Rat spielten in der Folgezeit Einzelgilden und Gesamtgilden, Mester- und Olderlude keine Rolle mehr. Einen Bruch mit den alten Herrschaftseliten stellte dieser Vorgang jedoch nicht dar: Viele der 12 Ältesten und der in der Ordinatio genannten Amtsträger entstammten der alten Gildenführung, die sich bereits 1532/33 für die Reformation stark gemacht hatte58. Angesichts der personellen Kontinuität von Gildenführung und Ratsmitgliedern in dem neuen Ältestenrat und anderen Ämtern59 ist daher ein fließender, mit der politischen Führung Münsters abgestimmter Übergang zwischen der Beendigung der Ratsverfassung und der Einführung der Ältestenverfassung am wahrscheinlichsten60.

27Neben diesen und einigen wenigen anderen „Verfassungsvorschriften“, z.B. denjenigen bzgl. des Notariats und des Schwertträgeramtes, beschäftigt sich die Ordinatio in der Mehrzahl ihrer Vorschriften mit der Verteilung und Durchführung militärischer Aufgaben i.w.S.61, sowie deren Überwachung. Hierauf verwendet sie ca. 23 Vorschriften (in der Tabelle mit einem * versehen), deren Inhalt sich auf grundlegende Regelungen beschränkt wie z.B. die Besetzung von Schlüsselpositionen62. Diese Normengruppe kann man unter dem Begriff „Verwaltungsvorschriften“ zusammenfassen.

28Betrachtet man diese Zweiteilung von Normen in Verfassungs- und Verwaltungsvorschriften, so wird deutlich, dass es sich bei der Ordinatio um ein Konsolidierungswerk handelt. Die neue Regierungsform sollte unter Beseitigung des Gegensatzes zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft eingeführt und auf ein festes, normatives Fundament gestellt werden. Gleichzeitig wurde die Verteidigungsorganisation der Stadt in gesetzesähnlicher Form klar strukturiert. Dies war der Einsicht der Belagerten geschuldet, dass die Ankunft Christi und das Weltgericht nach deren Ausbleiben zu Ostern und dem Tod des Jan Matthijs nunmehr in weitere Ferne gerückt waren. Die Naherwartung wich zunächst Enttäuschung und Verzweiflung, dann - geleitet durch Jan van Leiden - einer veränderten Auffassung vom eigenen Auftrag, welcher nun ein Ausharren in der Stadt vorsah63. Damit musste aber auch eine Neuformulierung des Verteidigungskonzeptes einhergehen. War dieses bislang nur auf ein Aushalten der Belagerung bis zur Erlösung am Ostertag, also knapp zwei Monate vom Beginn der Belagerung an, ausgerichtet, so mussten die Einwohner nun selbstverständlich dauerhaft die Eroberung der „Gemeinde Christi“ verhindern, und wenn möglich auch die „Gottlosen“ vertreiben. Folgerichtig wurde daher in der Ordinatio die Verteidigung der Stadt durch organisatorische Maßnahmen auf einen langen Zeitraum eingerichtet.

29Die Ordinatio stellte also in ihrem Verfassungsteil einen Einschnitt und Neubeginn dar. Die Verwaltungsvorschriften folgten der durch den Verfassungsteil gegebenen neuen Ordnung und der außerhalb des Gesetzes entwickelten neuen theologischen Zielrichtung.

c) Die „Öffentliche Verordnung der Zwölf Ältesten“

30Zusammen mit der Ordinatio erließ der Ältestenrat ein Strafgesetz, die „Öffentliche Verordnung der Zwölf Ältesten“64 (im Folgenden: Verordnung). Sie besteht aus einer längeren Einleitung, 13 Artikeln und einem Schlussteil.

31Die Einleitung, ausweislich derer sich das Gesetz an „ganz Israel, das Volk Gottes“65 richtet, also an die münsterischen Täufer66, zeichnet sich durch drei Hauptmerkmale aus: Erstens enthält sie einen generalklauselartigen Verweis auf die Gebote der heiligen Schrift67. Die nachfolgenden Strafnormen waren demnach bei weitem nicht als abschließend gedacht, vielmehr erhielten alle in der Bibel enthaltenen Ge- und Verbote über die Einleitung Gesetzeskraft68. Eine solche Generalklausel findet sich auch im Schlussteil der Verordnung, der „conclusio“, wieder69.

32Zweitens wird im Folgenden die große Bedeutung religiösen Handelns in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes betont70. Mehrere Bibelzitate streichen heraus, dass gottgefällig und religiös wertvoll allein das gute Handeln, die guten Taten, nicht das bloße Reden sei. Der theologische Kurs und die Gemeindezucht wurden damit verschärft, die Gemeinde sollte in vorbildlicher Weise auf die Bibel eingeschworen werden.

33Drittens betont die Einleitung das Gottgewolltsein der neuen Herrschaftsform. Demnach sei diese Teil der göttlichen Ordnung, Verstöße gegen ihr Regiment seien damit Verstöße gegen Gottes Willen71. Dadurch untermauert die Einleitung im Verein mit entsprechenden Bibelstellen die neu errichtete Verfassung theologisch, die Unauflöslichkeit weltlicher und geistlicher Herrschaft in Münster wurde vor Augen geführt.

34Anders als die Ordinatio enthält die Verordnung in ihrem Hauptteil keine Verfassungs- oder Verwaltungsvorschriften, sondern ausschließlich Strafnormen in Form eines Sündenkatalogs. Der Überleitungssatz zwischen Einleitung und Hauptteil zieht die Sanktion für Verstöße - die Todesstrafe - vor die Klammer dieser Aufzählung. Gleichzeitig wird aber eine Ausnahme für Einsichtige und Bußfertige gemacht72. Damit war die Vollstreckung der Todesstrafe nominell in die Entscheidung des Ältestenrats gestellt, faktisch aber hing ihre Aussetzung vom Wohlwollen des Propheten ab.

35Die nun folgenden 13 Artikel enthalten biblische Ge- und Verbote, die in der Verordnung mit den jeweiligen Bibelstellen belegt sind. Der Schrifttext ist also direkt in den Gesetzestext mit aufgenommen. Ihrer Funktion nach ist die Verordnung somit einer „Überleitungsvorschrift“ vergleichbar, die den geistlichen Anordnungen der Bibel weltliche Geltung verleiht.

36Verbote waren demnach:
Art. 1: Gotteslästerung
Art. 2: Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit
Art. 3: Ungehorsam gegenüber den Eltern und Ungehorsam der Frau gegenüber ihrem Ehemann
Art. 4: Ungehorsam des Gesindes gegenüber dem Hausherrn, Verstoß des Hausherrn gegen seine Pflichten dem Gesinde gegenüber
Art. 5: Ehebruch
Art. 6: Hurerei, Vergewaltigung, Unkeuschheit, „Männerschändung“, Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten, Geschlechtsverkehr mit Frauen während ihrer Menstruation
Art. 7: Geiz und Raffsucht
Art. 8: Diebstahl
Art. 9: Betrug
Art. 10: Lügen und Verleumdungen
Art. 11: Geschwätz und „müßige Worte“
Art. 12: Streit, auch wohl Körperverletzungen
Art. 13: „Verleumdungen, Murren und Aufruhr“

37Die ersten vier Artikel positivierten in bislang ungekannter Deutlichkeit die zukünftige Geschlechter- und Sozialhierarchie. Die Reihenfolge Gott - Obrigkeit - Eltern / Ehemann / Hausherr ist Ausdruck einer für mittelalterliche und frühneuzeitliche Gemeinwesen zwar nicht ungewöhnlichen patriarchalischen Ordnung. Bemerkenswert ist jedoch der in diesen vier Vorschriften enthaltene umfassende Geltungsanspruch, der über die Regelung einzelner Lebensteilbereiche, wie z.B. des beruflichen Tätigwerdens und der Familie, hinausgeht. Neben der damals wohl empfundenen Notwendigkeit, in Verfolgung abweichender religiöser Überzeugungen das theologische Weltbild in weltliches Recht umzusetzen und damit in den Denk- und Wahrnehmungsmustern der Zeitgenossen greifbarer werden zu lassen, darf der Propagandaeffekt nicht unterschätzt werden. Die angesprochenen Artikel hinterlassen den Eindruck einer rigiden Gesellschaftsordnung. Sie können daher wohl auch als Mittel im bald nach Aufnahme der Belagerung einsetzenden Propagandakrieg bewertet werden, in dem von beiden Seiten aus der jeweiligen Perspektive die moralische Verderbtheit des Gegners angeprangert wird.

38Die Vorschriften Nr. 2-4 der „Öffentlichen Verordnung“ sind ferner die erste ausdrückliche Normierung jenes Gedankens, der - neben anderen - später in der Einführung der Mehrehe Gestalt fand, mit der dieser in der „Öffentlichen Verordnung“ enthaltene Ansatz strenger Sozial- und Geschlechterhierarchie auf konsequent-extreme Weise umgesetzt wurde73.

39Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die letzte Vorschrift. Sie sollte Umsturzversuche und Meuterei innerhalb der Stadt verhindern, und knüpft damit an den Inhalt der Einleitung an, das Gottgewolltsein täuferischer Herrschaft.

40Die „conclusio“ hält zum Abschluss noch einmal die Rechtsfolge für Verstöße fest: Bann und Hinrichtung74. Im Gegensatz zur Einleitung wird also hier nicht nur mit der Todesstrafe, sondern auch mit dem Ausschluss aus der Täufergemeinde gedroht. Theologisch ist dies folgerichtig, da diese Strafe - der Ausschluss aus dem „Volk Gottes“ - für gläubige Täufer mindestens genauso schrecklich gewesen sein muss wie die Todesstrafe. Tatsächlich ist allerdings kein einziger Fall eines solchen Banns bekannt. Schon die Gefahr, die für das Gemeinwesen von solchen potentiell für Verrat anfälligen ehemaligen Täufern ausging, dürfte die Richter und den Propheten veranlasst haben, von dieser Strafalternative keinen Gebrauch zu machen. Zudem konnte die Bannandrohung allein solche Einwohner nicht schrecken, die die (Zwangs-) Taufe nur hingenommen hatten, um weiterhin ihre Familien sowie Hab und Gut innerhalb der Stadtmauern schützen zu können75.

41Die Strafen waren - wie schon im Überleitungssatz angedeutet - allerdings nicht automatisch bei jedem Vergehen verwirkt. Die „conclusio“76 wie die Einleitung räumten die Möglichkeit ein, bei reuigen Sündern und Bußfertigen von Bestrafung abzusehen. Hiervon wurde auch tatsächlich Gebrauch gemacht77.

d) Die Einführung der Mehrehe

42Die wohl bekannteste und gleichzeitig – sowohl bei Zeitgenossen78, wie auch bei nachfolgenden Generationen79 – unpopulärste Maßnahme der Täuferherrschaft ist die Einführung der Polygamie. Im Juli schlug Jan van Leiden sie den zwölf Ältesten vor. Kombiniert werden sollte dies mit einer allgemeinen Pflicht zur Eheschließung. Dabei war allerdings die Vielehe als strikt „halbseitige Polygamie“ ausgestaltet, d.h. es war lediglich Männern gestattet, mehrere Ehefrauen zu haben (Polygynie)80. Der Vorschlag stieß auf großen Widerstand, doch schließlich vermochte sich der Prophet – vor allem unter Berufung auf alt- und neutestamentarische Vorbilder81 – durchzusetzen82.

43Die Bewertung der Vielehe war in den letzten Jahrzehnten einem starken Wandel unterworfen. Wurde noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jhs. die münsterische Polygynie als moralisch verwerflich und nur der persönlichen Zügellosigkeit und Verderbtheit des Jan van Leiden geschuldet angesehen83, so beziehen neuere Untersuchungen84 die Gesamtsituation der belagerten Stadt mit ein. Von dieser Perspektive her betrachtet werden einige funktionale Dimensionen der Vielehe sichtbar, die bei einer ausschließlich moralisierenden Bewertung allzu schnell aus dem Blickfeld zu geraten drohen:

44Münster hatte im Zeitpunkt des van Leiden-Vorschlags ca. 8-9.000 Einwohner. Davon waren ungefähr 5.000 Frauen, weit mehr als 1.000 Kinder und schätzungsweise 2.000 Männer85. Auf einen Mann kamen demnach 2-3 Frauen. Die Überzahl der Frauen musste sich zwangsläufig während der Belagerung weiter vergrößern, denn meist waren ausschließlich Männer und männliche Jugendliche an Kampfhandlungen beteiligt und regelmäßig kamen einige von ihnen dabei um.

45Der große Überhang an Frauen hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen scheint das Täufertum insbesondere auf Frauen eine große Anziehungskraft ausgeübt zu haben. Bislang waren sie von der aktiven, gestalterischen Teilnahme am religiösen Gemeindeleben ausgeschlossen. Der Zugang zu geistlichen Ämtern blieb auf das Klosterleben beschränkt86. Das änderte sich nun. Gerade in der Anfangszeit der Täufer in Münster (Januar - Februar 1534) erhielten viele Frauen Eingebungen, hatten Gesichte und Visionen87 und spielten damit eine maßgebliche Rolle in der Verbreitung der Täuferlehre. Zudem hatten die Frauen (wie auch die Männer) mit der Erwachsenentaufe die Möglichkeit erhalten, sich bewusst für eine religiös-soziale Gemeinschaft zu entscheiden. Die Ablehnung der Kindstaufe und die große Bedeutung, die die Täufer der bewussten Entscheidung für eine theologische Lehre in der Erwachsenentaufe zumaßen, unterstrichen Selbstverantwortlichkeit und Willens- bzw. Glaubensfreiheit des einzelnen. Sie stellten damit auch die Freiheit der Frau heraus, sich ggf. gegen den Willen ihres Mannes für die Taufe zu entscheiden. Insgesamt also hatte das Täufertum insbesondere den Frauen vieles zu bieten.

46Die Austreibungen am 27. Februar 1534 und die anschließenden Zwangstaufen (27. Februar - 1. März 1534) taten ihr Übriges, um den Frauenüberschuss in der Stadt zu befördern. Viele Familien entschieden sich dafür, dass ein Teil in der Stadt bliebe und sich taufen ließe, um über das familiäre Hab und Gut zu wachen. In den meisten Fällen war dies die Frau88. Diese Entwicklung lässt sich wohl damit erklären, dass die Frauen im Falle der Eroberung der Stadt durch den Bischof - mit der diese zerrissenen Familien ja rechneten - Schonung erwarten konnten, zumal wenn die Familie nur nolens volens in der belagerten Stadt verblieben war. Die täuferischen Männer hingegen - als die eigentlich kriegführenden Elemente in der Stadt - mussten damit rechnen zu fallen, bei Plünderungen, die regelmäßig nach der Eroberung einer feindlichen Stadt durch Landsknechte stattfanden89, getötet oder in Vollstreckung des Bischofsbefehls vom 23. Januar 1534 und Reichsgesetzes90 hingerichtet zu werden. Diese unterschiedlichen Aussichten machen die Entscheidung solcher Familien nachvollziehbar.

47Die geschilderte Situation erforderte es aus Täufersicht, die zurückgebliebenen zwangsgetauften Frauen einer stärkeren sozialen Kontrolle zu unterstellen. Nach dem neuen Kirchenrecht wurde die erneute Verheiratung bereits verheirateter Ehepartner durch die Ungültigerklärung der vor Empfang der Bekenntnistaufe geschlossenen Ehe ermöglicht91. Mittel zum Kontrollzweck war die Vielehe, durch die die alleinlebenden Frauen in einen Familienverband eingegliedert werden konnten92.

48Darüber hinaus hatte die Verordnung in ihren Artikeln 1-4 einen deutlichen Wandel des Verständnisses von der Gemeinde- und Gesellschaftsordnung gezeigt93. Sie etablierten eine patriarchalische Gesellschaftsstruktur, die Stellung des Mannes als Oberhaupt der Familie und „Herr des Hauses“ wurde gestärkt und betont, diejenige der Frau verschlechterte sich im Gegenzug. Diese neuen religiös-sozialen Vorstellungen waren später - die Restitution erscheint im Oktober - auch in Bernhard Rothmanns Schrift „Restitution rechter und gesunder christlicher Lehre“ enthalten94. Ihnen entspricht die Einführung der Mehrehe in münsterischer Ausprägung.

49Diese teils handfesten, teils theologisch geprägten Hintergründe für die Vielehe95 wurden vor allem durch zwei theologische Argumente begründet, deren erstes das oben bereits angesprochene biblische Vorbild z.B. der Erzväter Israels war96. Da die zwölf Ältesten kurz zuvor in der Verordnung biblischen Ge- und Verboten Gesetzeskraft verliehen hatten, Verstöße gar mit der Todesstrafe ahnden wollten, musste es ihnen jetzt äußerst schwer fallen, an dieser Stelle wider die heilige Schrift zu streiten. Denn auch wenn diese keine ausdrückliche Anordnung zur Vielehe enthält, so wog der Umstand, dass die Führer des Volkes Gottes sie laut Bibel praktizierten, schwer97. Die zweite argumentative Stütze war das alttestamentarische Fruchtbarkeitsgebot98. Und dieses wurde in der Folgezeit tragende Erwägung und ratio des Ehegebotes und der Vielehe. Die Vermehrung, der Zeugungszweck bestimmten die Ausgestaltung der Vielehe in Münster99. So durften sich verheiratete Männer erst dann eine weitere Frau nehmen, wenn ihre erste Frau schwanger geworden war. Ebenso wurde bei dritten und weiteren Frauen verfahren100. Da neben dem Zeugungszweck gleichrangig der Patriarchatsgedanke stand, wurden auch gebärunfähige Frauen in dieses System einbezogen, indem sie sich in ein „Patronat“, unter die Schirmherrschaft eines Mannes begeben mussten101. Umgekehrt durften sich später allerdings auch Frauen von zeugungsunfähigen Männern trennen102.

50Aber auch nachdem die zwölf Ältesten die neue Eheordnung akzeptiert hatten, blieb diese nicht unwidersprochen. Die Unzufriedenheit einiger Bürger und in der Stadt lebender Landsknechte mit der Täuferherrschaft im allgemeinen und der Eheordnung im besonderen machte sich im Aufstand des Heinrich Mollenhecke103 am 29. Juli Luft. Die Aufständischen wurden zwar am folgenden Tage geschlagen und 47 von ihnen kurz darauf ohne Verhandlung hingerichtet104. Der Rest musste in Prozessen Zeugen für seine erst späte Beteiligung an der Erhebung anführen. Wem dies nicht gelang, der wurde ebenfalls hingerichtet. Die Erhebung machte aber deutlich, dass Jan van Leiden mit seiner neuen Eheordnung die Grenzen der Zustimmung und des Reformwillens der münsterischen Täufer erreicht hatte. Selbst nach den dem Aufstand folgenden Exekutionen widersetzten sich immer wieder einzelne Frauen der neuen Ordnung, so dass es ab September 1534 aus diesem Grund zu weiteren Hinrichtungen kam105.

51Zu den Spannungen, die zum Mollenhecke-Aufstand führten, zählen auch die neuen und ungewohnten Belastungen des Ehe- und Familienlebens, wie sie sich u.a. aus dem Nebeneinander von Erst- und weiteren Frauen ergaben106. Die Täufer reagierten und billigten den Frauen im Herbst 1534 befristet ein eingeschränktes Scheidungsrecht zu. Angesichts der grundsätzlichen Unauflöslichkeit der Ehe stellt dies einen revolutionären Vorgang dar. Vom neuen Scheidungsrecht machten ca. 100 Frauen Gebrauch107.

52Die für Männer nunmehr bestehende Möglichkeit, mit mehreren Frauen zusammenzuleben, missbrauchten einige von ihnen, und es kam zu Fällen von Vergewaltigung, auch von Ehe-„Frauen“, die dem Kindesalter noch nicht entwachsen waren108.

53Die Polygynie wurde bis zum Fall der Stadt beibehalten109. War sie eigentlich - wie eben dargelegt - ein Instrument der patriarchalischen Gesellschaftsordnung und der Befolgung des göttlichen Vermehrungsgebots, so entwickelte sie sich jedoch auch zu einem Ventil von Standesdünkel und -bewusstsein. Offenbar spiegelte sich schon bald der tatsächliche oder vermeintliche soziale Status in der Anzahl der Frauen, mit denen Männer verheiratet waren110.

54Damit entsteht das Bild eines radikalen Bruchs mit den gängigen Eheauffassungen. Inwieweit die Einführung der Vielehe allein auf Jan van Leiden zurückzuführen ist111, bleibt wohl ungeklärt. Dass aber sexuelle Zügellosigkeit den täuferischen Lehren widersprach, lässt sich Rothmanns Schriften entnehmen112. Moralisch geprägte Wertungen gegenüber der neuen Eheordnung greifen daher zu kurz.

3. Der König der letzten Tage: Das Königstum des Jan van Leiden (September 1534 – Juni 1535

55Die letzte und zugleich längste Phase der täuferischen Herrschaft wurde im September 1534 eingeleitet: das Königtum Jan van Leidens. Aus rechtlicher Sicht sind die vier herausragenden Ereignisse dieser Zeit die Abschaffung der Ältestenverfassung und das Ausrufen van Leidens zum König, der Erlass einer Hofordnung und eines weiteren Gesetzes, des sog. Artikelbriefs, sowie die Einsetzung von zwölf „Herzögen“.

a) Die Thronbesteigung

56Im September 1534 ließ sich Jan van Leiden vom neuen Propheten der Gemeinde, Johann Dusentschuer113, als König Münsters ausrufen114. Wie alle vorangegangenen Verfassungsänderungen so war auch diese theologisch legitimiert. Sie entsprach nicht nur dem durch Bibelexegese erkennbaren Willen Gottes, sondern sogar seinem direkten Befehl: Sowohl Dusentschuer wie auch van Leiden berichteten der auf dem „Berg Zion“, dem ehemaligen Domplatz, versammelten Gemeinde, dass Gott ihnen das Königtum Jan van Leidens befohlen habe115. Die maßgebliche Legitimation lag also in der Berufung auf eine neue Offenbarung.

57Wie schon bei der Abschaffung der Ratsverfassung nach dem Tode Jan Matthijs’ und den enttäuschten Erlösungshoffnungen der münsterischen Täufer, so nutzte Jan van Leiden auch im September 1534 wieder eine Zeit innerer Unruhe, um die Herrschaftsstruktur Münsters umzugestalten. Die Königskrönung fällt in die Zeit nach der erfolgreichen und für die Belagerer sehr blutigen Abwehr eines zweiten Sturmangriffs auf die Stadt am 31. August 1534. Dieser große militärische Erfolg und der damit verbundene psychologische Auftrieb der Täufer sind Voraussetzung und Rahmen für die Verfassungsänderung, denn die Gemeinde war auf Grund des errungenen Sieges verstört: Einerseits hatte sie ihre Angreifer in die Flucht schlagen und sich - und ihr Gemeindekonzept - erneut behaupten können, andererseits stand das Gelingen des Angriffs auf Messers Schneide, das Scheitern der Fürstlichen war zwar schlussendlich eindeutig, aber knapp erfochten116. Den Münsteranern wurde abermals das Ausmaß der äußeren Bedrohung deutlich. Nach der Eintönigkeit und Gleichförmigkeit der Belagerung war für den Propheten nunmehr die Gelegenheit gekommen, in der nach dem Sieg entstandenen Bewegung seine Position weiter auszubauen.

58Mit der Einführung der Monarchie schaffte Jan van Leiden die von ihm selbst eingerichtete Ältestenverfassung wieder ab. Doch obwohl auch dieses Mal - wie bei der Absetzung der Ratsherren im April 1534 - alle bisherigen Inhaber ihrer Ämter verlustig gingen, wurden sie doch auch weiterhin in die Machtstrukturen der Stadt eingebunden. Viele vormalige „Älteste der zwölf Stämme Israels“ fanden sich bald darauf mit hohen Ämtern bekleidet im königlichen Hofstaat wieder117. Abermals also vermochte van Leiden die Stärkung seiner Position und die Änderung der Verfassung ohne größeren Widerstand der täuferischen Honoratioren durchzuführen118.

59Über die Natur des Königtums Jan van Leidens herrscht Streit. Hielt er sich und die täuferische Gemeinde Münsters ihn für den „Neuen David“, der den Königsthron in Erwartung der Ankunft des „Neuen Salomon“, also Christi, für diesen als Platzhalter innehatte119? Oder erstreckte sich der Herrschaftsanspruch Jan van Leidens als König Münsters auf die gesamte Welt, war also nicht lediglich auf eine verteidigende „Reichsverweserrolle“ beschränkt120? Für beide Ansichten lassen sich gute Gründe anführen, von denen hier nur einige angedeutet werden sollen. Die Aussendung der Prädikanten am 13. Oktober 1534121 und die Vergabe von 12 Herzogtümern an Gefolgsleute innerhalb Münsters im Mai 1535122 sprechen für die zweitgenannte Ansicht. Ebenso der weltlich- königliche Prunk, mit dem van Leiden sich fortan umgab123, insbesondere sein Siegelzeichen und Wappen, das er auch an einer Kette um den Hals trug: zwei einen Reichsapfel durchstoßende Schwerter124. Wohl bewusst lehnte sich dieses Wappen an die Zweischwerterlehre und die Reichsinsignien an. Die Gegenansicht weist auf die Hervorhebung des Weltherrschaftsanspruchs und der Anmaßung der Königswürde durch die Belagerer hin. Für sie ist die „Weltherrschafts-Legende“125 bischöfliche Propaganda, dazu bestimmt, anderen Fürsten die Bedrohung für die eigene Machtstellung vor Augen zu führen und sie zur Unterstützung der Belagerer zu bewegen.

b) Die Hofordnung

60Bei der Einführung des Königtums orientierte Jan van Leiden sich an bekannten und augenfälligen Vorbildern: den weltlichen Reichsfürsten. Amtsinsignien, Wappen, Zeremonien und Prunk bildeten die äußere Legitimation seiner Stellung als weltlicher und geistlicher Herrscher126. Theologisch untermauert wurde das neu eingeführte Königtum bei der Amtseinführung durch den Propheten mit der Zitierung entsprechender Bibelstellen127.

61Gleich nach der Machtergreifung begann van Leiden mit der Machtverteilung: Er errichtete einen Hofstaat, ein festes Gefüge von Schlüsselpositionen innerhalb der Stadt. Diese neue Struktur, die Hofordnung, ist in einem Flugblatt und einer Abschrift erhalten geblieben128. Kurz nach der Stürmung der Stadt am 25. Juni verbreiteten die Belagerer diesen Druck129, der im ersten Teil die Nachricht von der Eroberung enthält. Die diesem Abschnitt nachfolgend geschilderte Hofordnung van Leidens zerfällt in drei Teile: die Auflistung der Hofämter und ihrer Inhaber, diejenige der Frauen van Leidens, also der „Königinnen“, inklusive einer kurzen Beschreibung des Verfahrens, anhand dessen sich der König seine jeweilige Bettgefährtin für die kommende Nacht erwählte (!), und schließlich die Nennung des Hofgesindes der Königinnen.

62In ihrer Ausführlichkeit - genannt sind 148 Personen - ist die Hofordnung Ausdruck des Selbstverständnisses des Königs. Von höchsten Ämtern, wie z.B. dem „Worthalter“ (Bernhard Rothmann), dem „Statthalter“ (Bernd Knipperdolling) und vier Räten, über Hofhandwerker bis zum Pagen130 enthält sie den deutlich formulierten Herrschaftsanspruch van Leidens und markiert einen weiteren Wendepunkt in der täuferischen Verfassungsgeschichte, an dem diesmal die landesherrlichen Höfe als Verfassungsvorbild herangezogen werden.

c) Der Artikelbrief

63Das letzte täuferische Gesetzeswerk Münsters wurde am 2. Januar 1535 erlassen. Dieser sogenannte „Artikelbrief“ ist eine unsystematische Zusammenstellung von Vorschriften (Artikeln) aus verschiedenen Regelungsbereichen131. Er ist in mehreren, teilweise in der Anzahl der Vorschriften voneinander abweichenden Kopien oder Berichten überliefert132. Da es nicht die Zielrichtung dieser Arbeit und wohl auch nahezu unmöglich ist, soll an dieser Stelle nicht versucht werden, die ursprüngliche Fassung aus den verschiedenen Quellen wiederherzustellen. Vielmehr werden in die Betrachtungen alle erhaltenen Einzelvorschriften aufgenommen133.

64Dem Vorschriftenteil vorangestellt ist eine Einleitung, ihm nach folgt eine Schlussformel. Schon die Einleitung macht ausdrücklich klar, welchen Zweck die Gesetzessammlung verfolgte. Als Adressaten nennt sie sowohl Täufer wie auch Nicht-Täufer134. Sie sollte also nicht nur innerhalb der Stadt normative Funktionen erfüllen, sondern war auch Propagandazwecken zu dienen bestimmt. Gleichzeitig macht sie das Selbstbewusstsein deutlich, mit dem das junge Königtum Münsters seinen Gegnern und seinen auswärtigen Anhängern gegenübertrat. Dementsprechend forsch bezeichnete sich Jan van Leiden als „gerechter König auf dem Stuhle Davids“135. Bemerkenswert hieran ist, dass bislang der Schriftverkehr mit den Belagerern und der Außenwelt im allgemeinen nicht unter dem Namen des Königs stattfand, sondern hierfür zeichneten vielmehr die „Regenten und Gemeinde Münsters“ - ohne nähere namentliche Nennung der Regenten - verantwortlich136. Dieser Versuch, die Verhandlungspartner und Adressaten der Nachrichten nicht durch den Affront und die Herausforderung des täuferischen Königtums zu verprellen137, wird also im Artikelbrief aufgegeben, zumindest aber durchbrochen. Die Schlussformel138 führt diese Ansätze fort und betont noch einmal das Gottesgnadentum van Leidens.

65Die Vorschriften selbst lassen sich in verschiedene Gruppen gliedern, wobei einige Artikel mehreren Gruppen zugeordnet werden können:

Gruppe
Art.-Nr. (dahinter eine stichwortartige Kurzangabe des Regelungsgegenstands)
insges.
1. Kriegsartikel7: Verbot übermäßigen Trinkens, der Spielerei und der Unzucht
8: Verbot der Meuterei
9: Verbot von Rauferei und Zank (einzelner)
10: Verbot der Schlägerei (also handfesten Streits unter Beteiligung mehrerer)139
12: unerlaubtes Entfernen aus dem Lager140
14: Verbot, die Wachen abzulenken oder zu stören
15: Verbot, Unterstützer der katholischen Kirche, die nicht deren Funktionsträger sind, zu schädigen, es sei denn, diese leisten bewaffneten Widerstand141
16: Verbot der Beuteunterschlagung 20: Straflosigkeit des Verkehrs mit
wohlgesonnenen Nicht-Täufern
21: freies Geleit für Händler
9
2. Verfahrensvorschriften2: Gesetzlichkeit der Täuferherrschaft, Gleichheit vor dem Gesetz
25: Bestimmungen zu einem geordneten Gerichtsverfahren für gefangene Gegner der täuferischen Ordnung: Gerichtsverhandlung mit Verteidigungsmöglichkeit
2
3. Artikel mit theokratischem oder theologischem Hintergrund1: formuliert Anspruch, dass allein täuferisch legitimierte Herrschaft rechtmäßig sei
4: Gesetzesrang göttlichen Willens142 5: Verbot der „falschen“, also von den
Täufereliten nicht gebilligten Schriftauslegung
6: Verbot „falscher“ Prophetie 17: Verbot der Apostasie
19: Gemeindewechsel
22: Verbot des Aufruhrs / Widerstandes gegen jegliche weltliche Obrigkeit, sofern diese die Täufer nicht verfolgt; gleichzeitig Aufruf zum Widerstand gegen den Klerus
23: kein Asyl für Nicht-Täufer, sofern diese gegen göttliche Gebote verstoßen haben, also sich nach geltendem münsterischen Recht strafbar gemacht hätten
8
4. Herrschaftsorganisation2: Formulierung eines umfassenden Herrschaftsanspruchs143
3: klare Ämterverteilung und Kompetenzabgrenzung in der Stadt
2
5. Allgemeine strafrechtliche Vorschriften
(ohne besonderen Bezug zur Belagerungssituation und daher nicht als Kriegsartikel erfasst)
11: Verbot falscher Anklage und der Falschverdächtigung1
6. Eherecht13: Frauen Flüchtiger dürfen sich neu vermählen144
24: freie Wahl des Ehepartners; Verbot der Zwangsausübung auf einen anderen, um ihn zum Eheschluss zu drängen
25: körperliche Gebrechen als Ehehindernisse 26: Verbot der Täuschung über die
Jungfräulichkeit
27: Gebot des Patronats, der Schirmherrschaft für jegliche Frau
5
7. Sonstiges18: Verbot des Geldhandels / betrügerischen Verhaltens im Geschäftsverkehr
24: Bestimmungen zur Bürgschaft
2

66Das Zahlenverhältnis der Vorschriftengruppen zeigt drei Regelungsschwerpunkte: das Kriegs- und Eherecht sowie die theologische Basis der Täuferherrschaft. Dabei gingen das Ziel, verbindliche Regelungen zu treffen einerseits und Werbe-145 und Propagandaabsicht andererseits in den einzelnen Vorschriften fließend ineinander über. Gute Beispiele hierfür sind die Art. 20 und 21. Zum einen legen sie für die Wachen verbindlich die Behandlung von aufgegriffenen Nicht-Täufern fest, zum anderen sollen sie Händler und Bauern dazu ermuntern, Handel mit der eingeschlossenen Stadt zu treiben.

d) Die Einsetzung der Herzöge

67Am 3. Mai 1535, also gut sieben Wochen vor dem Fall der Stadt, nahm Jan van Leiden die letzte Verfassungsänderung vor146. Im Rahmen einer fingierten Wahl ließ er scheinbar die Bevölkerung Münsters zwölf Männer zu ihren Führern wählen147. Diese zwölf, tatsächlich enge Vertraute van Leidens, ernannte er zu „Herzögen“ und setzte sie in Lehen im Deutschen Reich ein148. Neben diesem nur symbolischen Akt erhielten die Herzöge allerdings auch weitgehende Aufgaben und Kompetenzen innerhalb Münsters. Jeweils einem von ihnen oblag die Verteidigung eines Mauerabschnitts oder Tores, sie verwalteten und überwachten jeweils einen Stadtbezirk149. Diese Maßnahme scheint überraschend, schließlich hatte van Leiden mit seiner Krönung die - wenn auch nur formale - Machtteilung mit den zwölf Ältesten beseitigt. Sie lässt sich aber - zumindest auch - mit der Lage innerhalb der Stadt erklären. Die Bevölkerung hungerte bereits seit einigen Wochen150, dazu kam der zunehmende militärische Druck von außen151 sowie die misslungenen Werbeversuche und Entsatzunternehmungen vor allem niederländischer Täufer152. All dies zusammen konnte in den Einwohnern Zweifel an ihrem Erfolg und die Bereitschaft für das Überlaufen und den Verrat nähren. Die Herzöge, ausgestattet mit einem Stab an Bewaffneten und Beamten153, konnten dieser Gefahr wirksam entgegentreten und die Stimmung in den einzelnen Stadtteilen beobachten und unter Kontrolle halten154.

IV. Der Untergang des täuferischen Münster und seine Nachwirkungen

68Mit der Erstürmung der Stadt am 25. Juni 1535 fand das Täuferreich zu Münster sein Ende, und mit ihm oder kurz darauf die meisten der täuferischen Protagonisten. Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling sowie Bernd Krechting wurden gefangen genommen und verhört. Am 6. Januar 1536 wurden sie verurteilt, am 22. Januar in Münster öffentlich hingerichtet und ihre Leichname anschließend in Käfigen am Turm der Lambertikirche hinaufgezogen. Ob Rothmann den Sturm überlebte, ist zwar nicht mit Sicherheit festzustellen, aber sehr wahrscheinlich. Heinrich Krechting wurde freier Abzug aus der Stadt gestattet. Er ließ sich später in Ostfriesland nieder und wandte sich dem gemäßigteren Flügel der Reformation zu.

69Für die westfälischen Täufergruppierungen war das Scheitern des Täuferreichs der Anfang vom Ende. Nach einigen Jahren härtester Verfolgung war täuferisches Gemeindeleben hier erloschen155.

70Die Bedeutung der Täuferherrschaft für Münster selbst greift weit über die turbulenten Belagerungsereignisse hinaus. Münster ging vieler Rechte und Privilegien verlustig, die es erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte zum Teil wieder zurückerlangen konnte. Das Verhältnis der Bürger zu ihrem Landesherrn, dem Fürstbischof, blieb gespannt. Von überregionaler Bedeutung war allerdings, dass die 1533 friedlich durchgesetzte Stadtreformation nicht mehr als eine kurze Episode blieb. Sie wurde nach der Einnahme wieder rückgängig gemacht, und Münster schied damit für immer aus der Reformationsfraktion im Reich aus.

V. Ergebnis

71Tritt man von der Untersuchung der einzelnen täuferischen Rechtssetzungsmaßnahmen einen Schritt zurück, so lassen sich mehrere rechtliche Tendenzen durch die verschiedenen Phasen der münsterischen Täuferherrschaft verfolgen.

72Als die beiden großen Triebfedern rechtlichen Tätigwerdens der Täufer sind zum einen ihr theologischer Hintergrund, zum anderen die durch die Belagerungssituation hervorgerufene Notlage auszumachen. In den meisten Gesetzen scheinen beide Motive zu gleichen Teilen durch. Das beste Beispiel hierfür sind wohl die Einführung der Gütergemeinschaft und der Vielehe156.

73Dabei darf nicht angenommen werden, dass hier religiöse Überzeugung durch erdverbundenen Pragmatismus verwässert wurde: Für die münsterischen Täufer kam die Verteidigung ihrer Gemeinde, damit der Stadt, der Verteidigung ihres Glaubens gleich. Insofern entspringen die rechtlichen Antworten auf den Belagerungsalltag wiederum religiöser Überzeugung.

74Im Recht des täuferischen Münster begegnet ferner nicht nur der Regelungs-, Ordnungszweck, sondern es erfüllt auch eine Propagandafunktion157. 1534 wird Krieg auch mit Druckerzeugnissen geführt. Daher müssen bei der Untersuchung des (neu-) geschriebenen Rechts Münsters sowohl dessen rechtliche, wie auch seine propagandistische Reichweite in den Blick genommen werden, um Zweck und Form mancher täuferischer Norm richtig einordnen zu können. Einige sind in ihrer Unbestimmtheit als gesellschaftlich-theologische Absichtserklärung und Gegenentwurf zur „ungetauften“ Welt zu verstehen158. Gleichzeitig transportiert die bloße Existenz eines geschriebenen, originär täuferischen Rechts ohne Rücksicht auf dessen Inhalte den Eindruck von Ordnung. Die Schnelligkeit, mit der unter Jan van Leiden alte Normen aufgehoben und durch täuferische ersetzt worden sind zeigt, dass die münsterischen Eliten sich der Bedeutung einer rechtlichen Verfasstheit ihrer Gemeinde und der Wirkung dieser Verfasstheit auf die Umwelt bewusst waren. Umfassendes gesetzgeberisches Tätigwerden sollte damit nach der Überwerfung der alten Ordnung dem Eindruck von Ordnungslosigkeit entgegenwirken.

75Die Täufer standen vor der Aufgabe, der Stadtgemeinde und der Außenwelt Machtwechsel, Herrschaftskonzepte und die Legitimität ihrer Herrschaft zu vermitteln. Dabei fällt auf, dass sie sich trotz aller religiösen Radikalität und Abwendung von überkommenen Gesellschaftsstrukturen an die hergebrachte Herrschaftssymbolik hielten. Ob Bekleidung mit einem Amt durch Übergabe von Gewaltsymbolen wie dem Schwert159, ob Amtskette inkl. auf die Zweischwerterlehre anspielendes Wappen, um Ansprüche auf die Königswürde kenntlich zu machen160, ob stark nach sozialer Bedeutung gestaffelte Hofordnung161: Die Täuferführer wie auch die -gemeinde waren mit der Herrschaftssymbolik ihrer Zeit vertraut und bedienten sich ihrer Mittel. Obschon sich im Verlaufe der Jahre 1534/35 Inhalte und Zielrichtung der Täuferherrschaft änderten, die Formen und Sprache der Macht blieben gleich. Die Täufer hatten sich also dazu entschieden, innerhalb der bestehenden, allgemein verständlichen Regeln ihren Ansprüchen Ausdruck zu verleihen.

76Begleitet wurde diese Kontinuität in der Kommunikation von einer personellen Kontinuität. Wenngleich die Täufer die bisherigen Regeln städtischen Gemeindelebens in Münster z.B. durch die Einführung der Gütergemeinschaft und der Vielehe einschneidend änderten, zu einem Bruch mit den alten Machteliten kam es nicht. Auch das neue System wurde von diesen getragen162. Einem hauptsächlich religiös motivierten Wandel in der Ausgestaltung städtischer Verfasstheit stand damit die Kontinuität im personellen Herrschaftsprofil Münsters gegenüber.

Zu Fussnote 117: Übersicht zu den 12 Ältesten und den später von ihnen nach der Hofordnung eingenommenen Ämtern:

Die 12 ÄltestenAmt in der HofordnungS. Kirchhoff:
Die Täufer in Münster (wie Anm. 18), S.:
1. Antonius Guldenarm– (fällt beim ersten Sturm der Belagerung am 25. Mai 1534)144
2. Johan OssenbeckWeinherr (Westfälische Zeitschrift 113, 358, 359)203
3. Johan Pallick (bei Kerssenbroch irrtümlich „B. tor Moer“)Schmied (WZ 113, 358, 361)506
4. Hinrick RodeHofmeister der Königin (WZ 113, 358, 363)577
5. Hinrick SanctusRüstmeister (WZ 113, 358, 359)600
6. Hermann TilbeckHofmeister (WZ 113, 358)700
7. Gerlach van WullenFeldherr (WZ 113, 358)769
8. Lambert Mapertinckevtl. Vogt (WZ 113, 358, 360, Nr. 85)
9. Johann Eschmann (aus Warendorf)?
10. Lambert Bilderbeck (aus Coesfeld)evtl. Vogt (WZ 113, 358, 360, Nr. 85)
11. Peter Symonsonevtl. Küchenmeister im Hofgesinde der Königin (WZ 113, 358, 363, dort
„Peter Symesen“)
12. Lambert von LüttichFeldherr (WZ 113, 358)

Articles Aug. 12, 2004
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Aug. 12, 2004

  • citation suggestion Carsten Fischer, Die Täufer in Münster (1534/35) - Recht und Verfassung einer chiliastischen Theokratie - (Aug. 12, 2004), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net2004-08-fischer