journal Debates Adjudication Cultures

Hans-Peter Haferkamp

Richterkulturen im 20. Jahrhundert – Eine Skizze über den Nutzen der DDR-Ziviljustizgeschichte

Inhalt
I. Einführung
II. Frühe Missverständnisse im Umgang mit der DDR-Ziviljustiz
III. Vergleich anhand von Beispielen aus der Zivilrechtsjudikatur
IV. Sonderwege der DDR-Ziviljustiz
V. Auswahlbibliographie zur DDR-Justizgeschichte

I. Einführung

Wenn der Eindruck nicht täuscht, so geht die Beschäftigung mit der DDR-Justizgeschichte in der Historiographie, nach den großen Projekten in den 1990er Jahren, momentan wieder zurück, während die Beschäftigung mit der bereits kleinteilig erforschten NS-Justizgeschichte eher wieder zunimmt1. Dies könnte daran liegen, dass das ungleich höhere Maß der Verbrechen im Nationalsozialismus die in Zeiten von Drittmittelzwängen unerlässliche öffentliche Aufmerksamkeit eher garantiert.

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Damit rückt eine Epoche der Deutschen Justizgeschichte langsam wieder aus dem Blick, die gerade für eine vergleichende Justizgeschichte, die Richterkulturen thematisiert, in ihrer Sonderstellung von ganz besonderem Interesse ist.

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II. Frühe Missverständnisse im Umgang mit der DDR-Ziviljustiz

Wie eigenständig die DDR-Justiz funktionierte, zeigten bereits Missverständnisse im Umgang mit der DDR-Justiz nach 1989. Die Bundesdeutsche Justizgeschichte nach 1945 war von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus geprägt. Schon früh bestimmte dabei die für das deutsche Rechtsdenken im 20. Jahrhundert so typische Methodenfixierung den Blick. Schuldfragen wurden über die Perspektive der Rechtsbeugung an Methode festgemacht, Bindung galt als schuldlos, Fortbildung als schuldhaft. Exkulpativ meinte Weinkauff: „Der Positivismus hat uns wehrlos gemacht“!2 Anklagend hielt Rüthers dem die „Unbegrenzte Auslegung“ entgegen3. Wie prägend und zugleich begrenzt diese Perspektive war, zeigte sich kurz nach dem Mauerfall. Rüthers hatte 1988 sein bereits älteres Plädoyer für „Methodenbewußtsein als Umdeutungsbremse“4 zu 24 „Lehren aus der Rechtsperversion des Nationalsozialismus“5 verdichtet. Dieses Lernen aus der NS-Geschichte6 fand sehr schnell Anwendung, als der Bundesgerichtshof nach dem Mauerfall sich mit der Frage der Rechtsbeugung von DDR-Richtern auseinander setzen musste. Kraut, der diese Judikatur des BGH analysierte, kam zu dem Ergebnis: „Die von Rüthers entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Umwertung des Rechts und der Rechtsbegriffe durch den Nationalsozialismus lassen sich ohne größere Probleme auf die marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie übertragen.“7 Bald erschien eine Dissertation, die für § 138 BGB in der Judikatur des Obersten Gerichts der DDR feststellte8: „So bemühte man sich in beiden Systemen, den jeweils relevanten Auslegungsmaßstab der guten Sitten zu verschleiern. Hierdurch wurde es möglich, ihn einer kritischen Kontrolle zu entziehen.“9

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III. Vergleich anhand von Beispielen aus der Zivilrechtsjudikatur

Schon ein oberflächlicher Blick auf die DDR-Justizgeschichte lässt die hier durchklingende Vorstellung wenig plausibel erscheinen, ein Teil der Justiz oder des Staatsapparates, bei Rüthers die ideologisch bewusst lenkenden „Zauberer“10, hätten daneben existierende, eigentlich kritische, aber eben durch Methode instrumentalisierte „Zauberlehrlinge“ beherrscht. Schon bald stellte sich daher auch heraus, dass die „Lehren“ aus der Rechtsgeschichte der NS-Zeit den Blick auf die DDR-Justizgeschichte blockierten. Dies möchte ich an drei Urteilen aus den Jahren 1938, 1954 und 1957 exemplifizieren.

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Eines der berüchtigtsten nationalsozialistischen Urteile im Zivilrecht stammt aus dem Jahr 1938 vom Amtsgericht Berlin-Schöneberg11. Ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen wollte einer jüdischen Mieterin unter Hinweis auf § 2 MietSchG kündigen. Die Vorschrift war Teil der Wohnungsnotgesetzgebung des Jahres 192312. Die Vorschrift lautete:

Nach § 2 MietSchG kann der Vermieter auf Aufhebung des Mietverhältnisses klagen, wenn der Mieter sich einer erheblichen Belästigung des Vermieters schuldig macht und das Verhalten des Mieters derart ist, daß dem Vermieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

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Der Richter sah im Judentum der Mieterin eine „erhebliche Belästigung“, da „ja das Tun und Lassen nur die Lebensäußerungen der Persönlichkeit sind“. Diese Belästigung sei verschuldet im Sinne der Norm, denn der jüdische Mieter sei „ein Fremdkörper innerhalb der Gemeinschaft der deutschen Hausbewohner, ihm fehlt auch darüber hinaus die notwendige innere Einstellung zu einer Gemeinschaft mit Deutschen.“ Auch die 6-Monatsfrist ab Kenntnis „von dem Aufhebungsgrunde“ (§ 2 Abs. 3 MietSchG), die eigentlich ab Mietbeginn am 27. Mai 1927 oder doch wenigstens mit der nationalsozialistischen Rassepolitik ab 1933 hätte laufen müssen, stand für den Richter nicht entgegen: „Es handelt sich dabei um einen Dauerzustand, so dass die Frist des § 2 Abs. 3 MietSchG nicht in Lauf treten kann“.

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Ein deutlich antisemitisches Urteil und man kann bezweifeln, ob die Argumentation damalige Juristen methodisch überzeugt hat. Mit Blick auf den Begründungsstil ist aber vor allem auffallend, dass auch dieses Urteil justizförmig daherkommt, nicht als politische Kampfschrift verstanden werden will. Dem Richter hatte sich auch eine andere Argumentation geboten, indem das klagende Wohnungsunternehmen ganz allgemein auf die Bedeutung der Rassegesetzgebung hinwies. Dem hielt der Richter entgegen:

„Die von dem erkennenden Gericht vertretene Ansicht mag tatsächlich zu einer Lockerung des Mieterschutzes für jüdische Mieter führen. Diese Auswirkung wird nicht durch eine Entsch. außerhalb des geltenden Rechts herbeigeführt, sondern durch eine Auslegung des § 2 MietSchG. Zu einer Auslegung dieser Bestimmung ist das erkennende Gericht nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Deshalb sind die Ausführungen der Bekl. über Bedeutung des Nürnberger Gesetzes ohne Einfluß auf die Entscheidung.“

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Der Richter musste kaum mit politischen Schwierigkeiten rechnen. Die nationalsozialistischen Vorgaben für einen solchen Fall waren eindeutig. Und dennoch kam es ihm offenbar darauf an, hier ein Gesetz anzuwenden, nicht frei politisch zu entscheiden.

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Dass man auch anders begründen kann, zeigt ein Urteil des Obersten Gerichts aus dem Jahr 195413. Es ging um einen „Funkenflugfall“, bundesrepublikanischen Juristen als Problem der Geschäftsführung ohne Auftrag gut bekannt14. Das Oberste Gericht musste entscheiden, ob sich der private Eigentümer einer Scheune gegen deren Zerstörung durch den Funkenflug einer Dampflokomotive der Reichsbahn gem. § 906 BGB wehren kann. Im Gewande des BGB ging es um Staatshaftung, politisch also ein heikler Fall. Das Gericht ließ es ausdrücklich dahin gestellt, ob das hier vorgebrachte Konzept der Aufopferung „überhaupt nach unserer Rechts- und Gesellschaftsauffassung möglich ist“ und nicht auf „einer überholten extremen Anschauung von den Ausschließungsbefugnissen des Grundeigentümers beruht“. Jedenfalls komme ein solcher Anspruch bei einer „normalen Durchführung des Fahrbetriebes einer öffentlichen Eisenbahn“ nicht in Betracht: „Die dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen sind für die Durchführung des Wirtschaftsprozesses und damit für die Gesellschaft von so entscheidender Bedeutung, daß es undenkbar ist, den Anliegern ein Verbotsrecht gegen irgendwelche von ihrem Fahrbetrieb ausgehenden Einwirkungen zuzugestehen“. Ein solcher Anspruch sei „ohne Rücksicht auf die Bestimmung des § 906 BGB schlechterdings nicht gegeben“15.

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Ganz in diesem Sinne wurde es 1957 abgelehnt, den gutgläubigen Erwerb von Volkseigentum zuzulassen: „Das staatliche sozialistische Eigentum (Volkseigentum) ist die entscheidende ökonomische Grundlage der Arbeiter- und Bauern-Macht in der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist zugleich die Eigentumsform, die entscheidend auf den Charakter aller gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse in unserem Staat und damit auf die planmäßige, proportionale Entwicklung unserer Volkswirtschaft einwirkt. Die von unserem Staat als fortgeltend sanktionierten Bestimmungen des deutschen Zivilrechts können also insoweit nicht angewendet werden, als sie diese Entwicklung stören oder beeinträchtigen würden. Das gilt auch für die Anwendung der in den §§ 932-936 BGB enthaltenen Vorschriften über den Eigentumserwerb in gutem Glauben. Zwar genießt auch das private, insbesondere das persönliche Eigentum der Bürger den Schutz der Verfassung und der Gesetze, aber gerade das Interesse unserer Arbeiter und Bauern verlangt eine Regelung des zivilrechtlichen Schutzes des Volkseigentums, die die ungesetzliche Veräußerung volkseigener Sachen verhindert, insoweit dadurch Störungen in der Wirkung des ökonomischen Gesetzes einer planmäßigen Entwicklung unserer Volkswirtschaft eintreten können.“

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Während der DDR stellte sich somit ein ähnliches Problem wie nach 1933: Das BGB bestand formell fort und die Justiz stand vor der Aufgabe, es den völlig gewandelten politischen Vorgaben anzupassen. In beiden Systemen erfüllte die Justiz die in sie gesetzten Erwartungen. Dennoch fanden sich ganz andere Begründungsstile. Während in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus das angesichts der extremen politischen Abweichungen von den Prämissen des BGB eigenartige Bemühen dominierte, Umwertung methodenkonform zu erreichen, hat der ganze Aspekt der Gesetzesbindung bei überkommenem Recht in der DDR offenbar einen viel geringeren Stellenwert. Die Verwendung von Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuches war auch für die Anfangszeit der DDR nach 1950 gerade kein Kennzeichen der DDR-Justiz16. Bei allem auch innerhalb der DDR wiederholt beklagten Verharren in „bürgerlichem Rechtsdenken“17 passt das Methodenarsenal, das in der deutschen Methodendiskussion seit 1900 diskutiert worden war, nicht, um die Besonderheiten der DDR-Begründungskultur zu verstehen. Die NS-Richter gerierten sich höflich-unpolitisch, die DDR Richter offen politisch. Indem man somit die DDR-Richter mit dem überkommenen Methodenblick schwer einordnen kann, blieben die NS-Richter uns Heutigen irgendwie methodisch vertraut.

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IV. Sonderwege der DDR-Ziviljustiz

Auch an diesem Beispiel bestätigte sich die These der Ausgangsdebatte um Richterkulturen, dass Rechtsprechungsstile bzw. Begründungsstile Ausdruck von Richterkulturen bzw. Justizkulturen sind. Dies kann für die DDR-Ziviljustiz vorliegend nur skizziert werden.

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Hintergrund der offen politischen Urteilsbegründung war zunächst der nicht einfach anwendende, sondern auch erzieherische Auftrag der Zivilrechtsjustiz. Der Austrag von zivilrechtlichen Konflikten vor den Gerichten wurde nicht primär als legitime Verwirklichung subjektiver Rechte begriffen sondern – mit Marx‘ Diktum von den „Muttermalen der alten Gesellschaft“ – als ein Zurückbleiben des gesellschaftlichen Bewusstseins des Bürgers interpretiert. Dies führte in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren zur soziologischen Untersuchung von Konfliktursachen und der Ausbildung einer differenzierten Konflikttheorie. Mit Stalins Betonung der „aktiven Kraft des Überbaus“ begannen das Zivilrecht und die Ziviljustiz in den fünfziger Jahren eine aktive Erziehungsfunktion zu übernehmen. Diese Erziehungsarbeit, mit „Kritik und Selbstkritik“, führte im Zivilrecht zum Primat der Schlichtung vor dem des Entscheides. In manchen Prozessgruppen betrug die Vergleichsquote daher 90%. Zudem wurden ganze Konfliktbereiche der innergesellschaftlich verstandenen, also außergerichtlichen Schlichtung übertragen. Dies galt insbesondere für die Konfliktkommissionen im Arbeitsrecht und auch für die Schiedskommissionen, die im Mietrecht tätig waren.

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Die Methode der „offensiven Begründung“ war zudem Teil eines ideologischen Methodenkonzepts, welches sich grundlegend vom früheren Methodenprogramm unterschied. Die in den 50er Jahren entwickelte „Form-Inhalt-These“ ging, als Spielart des Basis-Überbau-Theorems, davon aus, dass mit dem Wechsel der Staatsform die Gesetze einen neuen Inhalt bekommen. Im Rahmen der dialektisch verstandenen „sozialistischen Gesetzlichkeit“ war also bei überkommenen Gesetzen nicht der Gesetzeswortlaut bindend sondern der in ihn hinein zu interpretierende politische Inhalt. Da sich dieser nicht einfach durch das Selbststudium von Karl Marx und auch nicht durch die selbständige Analyse der Parteitagsbeschlüsse ergab, unterlagen die Richter direkten politischen Vorgaben.

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Betrachtet man die Justizgeschichte des 20. Jahrhunderts, so erstaunt, gerade auch mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, wie stabil sich die Justiz gegenüber unmittelbarer politischer Steuerung verhielt, seien es die Richterbriefe, seien es die Eingriffe durch Partei und Gestapo, gegen die sich das Reichsjustizministerium erbittert zur Wehr setzte. Die Richter nach 1933 funktionierten politisch durchaus im Sinne der Machthaber, sie taten es aber unter steter Betonung ihrer institutionellen und methodischen Autonomie.

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Einzig die DDR-Justizgeschichte bildet hier eine Ausnahme. Eine auf Autonomie bedachte Richterkultur wurde für die spätere DDR bereits in der SBZ beseitigt. Während im Westen Deutschlands NS-belastete Richter unbehelligt blieben, ja an manchen Gerichten nach 1945 mehr (ehemalige) Parteimitglieder judizierten als vor 1945, kam es in der SBZ bereits zwischen 1945 und 1948 zur Entlassung von 905 Richtern18, die der NSDAP oder einer anderen Parteiorganisation angehört hatten. 80% der Richter waren solchermaßen belastet, und von diesen wurden 90% entlassen. Die örtlichen Kommandanten versuchten zunächst, die Lücken durch sog. „Richter im Soforteinsatz“ zu schließen. Regional unterschiedlich übernahmen juristisch halb- oder ungebildete Kommunisten und „bewährte Antifaschisten“ die Rechtsprechung. 1946 begannen die ersten Volksrichterlehrgänge, die juristisch kaum geschulte Richter produzierten, die weit mehr nach „Klassenstandpunkt“ entschieden als nach juristischer Dogmatik. Durch diesen in der deutschen Rechtsgeschichte einmaligen Austausch der Justizeliten kam es zu einem weitgehenden Bruch mit der überkommenen Richterkultur, etwas, was den Nationalsozialisten nach 1933 nie gelang. Damit standen Richter bereit, die nicht in den traditionellen Techniken erzogen worden waren sondern ihre Aufgabe offen als politisch empfanden.

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Um diese bereits politisierten Juristen zu kontrollieren, wurde in der DDR eine Intensität staatlicher Justizsteuerung herausgebildet, wie sie sich in keiner anderen Justizepoche des 20. Jahrhunderts findet. Dies betraf bereits die Auswahl der Studenten in der Schule und setzte sich in einer intensiven Politisierung der Juristenausbildung fort. Durch die Doppelstellung als Richter und Mitglied in den Parteiorganisationen blieb der Richter in ein doppeltes Sanktionssystem eingebunden. Im Gericht übernahm der Gerichtsdirektor die Mittlerstellung zu den politischen Instanzen. Er steuerte die Verfahren durch die Geschäftsverteilung, wöchentliche Rapporte und Einzelgespräche sowie, wie auch sonst üblich, durch seine Beurteilungen. Das Oberste Gericht beeinflusste die Untergerichte nicht nur durch veröffentlichte Entscheidungen. Es konnte Urteile kassieren und anders entscheiden. Es kontrollierte die Untergerichte über „Wochenmeldungen“, Aktenanforderungen, Inspektionen, Tagungen, Aussprachen und Materialien zur Anleitung der Rechtsprechung. Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft als „Hüterin der sozialistischen Gesetzlichkeit“ im Zivilprozess sorgte für eine politische Kontrolle in der Verhandlung.

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Die Richterkultur der DDR unterscheidet sich damit in einer ganzen Reihe von Aspekten deutlich von der Richterkultur zwischen Kaiserreich, Weimar, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik. Die Beschäftigung mit der Richterkultur der DDR zeigt auf, wie verhältnismäßig homogen in Zusammensetzung, Rechtstechnik, politischer Einstellung und Selbstverständnis die Deutsche Justiz zwischen 1900 und jedenfalls 1968 außerhalb der DDR war. In längerfristiger Perspektive wird die Sonderstellung fast noch deutlicher. Wohl zu keinem Zeitpunkt der Deutschen Justizgeschichte findet sich eine derart radikale Umsetzung eines politisch-ideologischen Konzepts durch den Aufbau einer völlig neuen Justiz. In ihrer politischen und ideologischen Radikalität war die Richterkultur der DDR ein Experiment, welches eine vergleichende Justizforschung nicht unbeachtet lassen sollte.

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V. Auswahlbibliographie zur DDR-Justizgeschichte

Frohmut Müller, Ehrenamtliche Richter in der Rechtsordnung der DDR, in: NJ 1989, S. 133f; Helga Welsh, Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948), München 1989; Klaus Westen, Die Eingabe als Rechtsbehelf im Zivilrecht der DDR, in: ROW 1989, S. 69 ff; Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hofmann-Riem u.a. (Hrsg.), Rechtssoziologie in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1990, S. 253-265; Wolfgang Behlert, Recht als Organisation und sozialer Status der Richter und Rechtsanwälte in der DDR, in: KJ 24 (1991), S. 184-191; Thomas Feltes, Gesellschaftliche Gerichte, Schlichtungs- und Schiedskommissionen. Rechtspolitische Möglichkeiten oder historische Irrtümer?, in: ZRP 3 (1991), S. 94ff; Diemut Majer, Die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten in der ehemaligen DDR. Ein Beitrag zur Organisation, Wirksamkeit und Akzeptanz des Neuaufbaus der Justiz in den Bundesländern, in: ZRP 1991, S. 171-179; Diemut Majer, Verfassungstreue und Schuldenfreiheit. Eine Analyse der Fragebogen zur Überprüfung der der Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR, in: DRiZ 1991, S. 349-356; Loni Niederländer, Lokale Justizkulturen in der DDR, in: ZfRsoz. 1991, S. 57-69; Rudolf Wassermann, DDR-Richter als Instrument des DDR-Regimes, in: DRiZ 1991, S. 438-445; Falco Werkentin, Gelenkte Rechtsprechung – Zur Strafjustiz in den frühen Jahren der DDR, in: NJ 1991, S. 479-483; Falco Werkentin, Scheinjustiz in der frühen DDR. Aus den Regiehaften der „Waldheimer Prozesse“ des Jahres 1950, in: KJ 24 (1991), S. 333ff; Gilbert Furian, Der Richter und sein Lenker. Politische Justiz in der DDR, Berichte und Dokumente mit Nachbemerkungen von Gottfried Fork, Berlin 1992; Gerd Janke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der SBZ und in DDR, in: NJ 1992, S. 429ff; Inga Markowitz, Die Abwicklung – Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993; Julia Pfannkuch, Volksrichterausbildung in Sachsen 1945-1950, Berlin u.a. 1993; Rainer Schröder, Zivilrechtssprechung in der DDR während der Geltung des BGB. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit vergleichender Bertachtung des Zivilrechts im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zu Justizforschung, Geschichte und Theorie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1993, S. 527-580; Manfred Wille, Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1948, Magdeburg 1993; Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Steuerung der Justiz der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der DDR. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 10: Rechtspflege, Gerichte, Verfahrensstatistik 1971-1990, Wiesbaden 1994; Hermann Wentker, Geschichte der Justiz in der DDR, in: Neue politische Literatur 39 (1994), S. 442-458; Jörn Eckert, Das ZGB in der Rechtssprechung, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975. Rechtswissenschaftliches Kolloquium an der Universität Potsdam, Potsdam 1995, S. 9-17; Henning Frank, Die Juristenausbildung nach 1995 in der SBZ/DDR, in: NJ 1995, S. 403-407; Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. 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Drei Urteile der DDR-Justiz gegen ehemalige Funktionshäftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, in: Herbert Diercks (Hrsg.), Abgeleitete Macht. Funktionshäftlinge zwischen Widerstand und Kollaboration, Bremen 1998, S. 69-81; Hubert Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, in: Ulrich Drobing (Hrsg.), Die Strafrechtsjustiz der DDR im Systemwandel. Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung, Berlin 1998, S. 25-41; Clemens Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik. Staatssicherheit und die "Sicherung" der DDR-Justiz, in: Deutschland Archiv 31 (1998), S. 221-238; Hermann Wentker, Justiz im Übergang. Die sowjetische Besatzungsmacht, die deutschen "Täter" und die Anfänge der politischen Strafjustiz in der SBZ/DDR, in: Jürgen Weber (Hrsg.), Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates, München 1998, S. 171-190; Jan-Erik Backhaus, Volksrichterkarrieren in der DDR, Frankfurt a. M. 1999; Regina Mathes, Volksrichter – Schöffen – Kollektive. Zur Laienentwicklung an der staatlichen Rechtspflege der SBZ/DDR, Frankfurt a. M. 1999; Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? Studien zur Ideologie und Praxis der Gesellschaftsgerichte in der DDR mit dem Schwerpunkt der nachbarschaftlichen Sozialkontrolle durch die Schiedskommissionen in den Wohngebieten, Baden-Baden 1999; Marcus Flinder, Die Entstehungsgeschichte des Zivilrechtsbuchs der DDR, Frankfurt a. M. 1999; Andrea Baer, Die Unabhängigkeit der Richter in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, Berlin 1999; Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in den osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45-1989), Bd. 1: Enteignung, Bd. 2: Justizpolitik, Frankfurt a. 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Transformationen und Rolle ihrer zentralen Institutionen, München 2001; Gerhard Sälter, Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz, 1954-1966, Dresden 2002; Marion Wilhelm, „Wir sind Kinder unserer Zeit“. Qualitative Analyse narrativer Interviews von Justizjuristen in der DDR, Berlin 2002; Hans-Andreas Schönfeld, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission. Normdurchsetzung durch territoriale gesellschaftliche Gerichte in der DDR, Frankfurt a. M. 2002; Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR, Berlin 2003; André Gursky,Zivilcourage. Der 17. Juni 1953 in Halle. Die Verfolgung und Verurteilung von Teilnehmern des Volksaufstandes, dargestellt auf der Grundlage von Akten der Justiz und des Ministeriums für Staatssicherheit, Magdeburg 2003; Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess, Berlin 2005; Friedrich Wolff, Einigkeit und Recht - Die DDR und die politische Justiz. Politik und Justiz vom Schießbefehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum "Schießbefehl" Erich Honeckers, Berlin 2005; Bernhard von Elling, Die Stellung des Geschädigten im Strafverfahren der DDR, Berlin 2006; Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren … - „Asoziale“ in der DDR, Frankfurt a. M. 2006; Inga Markovits, Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006; Annette Weinke, Von den frühen Schauprozessen des "verschärften Klassenkampfes" zur fernsehkompatiblen Rechtsberatung der Honecker-Ära. Überlegungen zum Verhältnis von Justiz, Rechtspropaganda und massenmedialen Justizdiskursen in der DDR, in: Klaus Marxen (Hrsg.), Inszenierungen des Rechts. Schauprozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, Berlin 2006, S. 37-81; Marion Hager, Betriebliche Konflikthandhabung in der DDR und in der Bundesrepublik. Qualitative Analyse und rechtspolitische Perspektiven, Hamburg 2008; Niels Albrecht, Ein Oberschüler vor Gericht. Das politische Todesurteil der DDR-Justiz gegen Hermann Flade von 1951, Bremen 2008; Lena Gürtler,Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen 2010.

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Fußnoten:

1 Vgl. den Überblick von Hinrich Rüping, Justiz und Nationalsozialismus. Ein Forschungsfeld und seine Geschichte, in: Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.), Justiz und Nationalsozialismus - Kontinuität und Diskontinuität, Baden-Baden 2003, S. 4 ff.

2 Bittere Pointe dieser Nutzanwendung von Radbruchs Selbstanklage des Jahres 1946 war, dass Rechtsphilosophen sozusagen zu vorweggenommenen Tätern wurden, die mit ihrem Gesetzespositivismus ganz überwiegend gerade nicht dem Nationalsozialismus sondern der Weimarer Republik gedient hatten; zu Weinkauffs These Daniel Herbe, Hermann Weinkauff, Tübingen 2008, S. 273 ff., 281 ff.

3 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Aufl. Heidelberg 1991.

4 Bereits Unbegrenzte Auslegung, Nachwort 1991, S. 486.

5 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 22 ff.

6 Vgl. Anna Lübbe, Aus der Geschichte lernen?, in: RJ 7 (1988), S. 417 ff.; Michael Stolleis, Lehren aus der Rechtsgeschichte? Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Bernd Rüthers, in: Rainer Eisfeld / Ingo Müller (Hrsg.), Gegen Barbarei. Essays Robert M. W. Kempner zu Ehren, Frankfurt a. M. 1989, S. 385 ff.

7 Gerald M. Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates (Münchner Universitätsschriften 130), München 1997, S. 16 Anm. 83.

8 Jens Wanner, Die Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte im totalitären Staat. Eine rechtshistorische Untersuchung zur Auslegung und Anwendung des § 138 Absatz 1 BGB im Nationalsozialismus und in der DDR (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 79), München 1996.

9 Wanner (wie Anm. 11), S. 310.

10 So Rüthers in der Entgegnung auf Lübbe und Behrends (siehe sogleich): Aus der Geschichte lernen? Eine Erwiderung, in: RJ 8 (1989), S. 381 ff., 387: „...Naivität der Zauberlehrlinge, die an solche Scheinbegründungen und Umdeutungskunststücke glauben und ihnen willig folgen.“

11 JW 1938, S. 3045.

12 Hierzu Staudinger / Kiefersauer, 10. Auf. 1937, Vorbem. § 535 Rn. 40 ff.

13 OGZ 3, 1956, S. 218 ff. vom 8. 11. 1954.

14 Vgl. BGHZ 40, S. 28 ff.

15 OGZ 3, 1956, S. 220 f.

16 Analyse anhand der veröffentlichten Entscheidungen des OG: Hans-Peter Haferkamp, Begründungsverhalten des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 in Zivilsachen verglichen mit Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR vor 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR 2, Berlin 2000, S. 15 ff.; zustimmend anhand der unveröffentlichten Judikatur Verena Knauf, Die Zivilentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR von 1950-1958. Veröffentlichungspraxis und Begründungskultur, Berlin 2007, S. 126 ff., 157 ff.

17 Dies war ein Hauptthema der Babelsberger Konferenz 1958, hierzu zusammenfassend Michael Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit, München 2009, S. 49 ff.; die von Inga Markovits in ihrer Dissertation: Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, Köln 1969 getroffene Feststellung, die DDR habe sich auch nach Babelsberg nicht von bürgerlichem Rechtsdenken emanzipiert, wurde vom Politbüro so ernst genommen, dass nach Erscheinen eine Kommission eingerichtet wurde, die sich mit diesen Thesen auseinander setzen sollte, vgl. Marcus Mollnau, Die Bodenrechtsentwicklung in der SBZ/DDR, Berlin 2001, S. 470.

18 Zahlen bei Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ/DDR (Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR 1), Köln / Weimar / Wien 1996, S. 138 f.

Date added May 6, 2011
© 2011 fhi
ISSN: 1860-5605
First publication
May 6, 2011

  • citation suggestion Hans-Peter Haferkamp, Richterkulturen im 20. Jahrhundert – Eine Skizze über den Nutzen der DDR-Ziviljustizgeschichte (May 6, 2011), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net2011-05-haferkamp