1„1002 Seiten in drei Teilbänden“ (S. xii)! Angesichts des physischen Umfangs der Arbeit von Marek Wejwoda über den spätmittelalterlichen Juristen Dietrich von Bocksdorf könnte einem geradezu angst und bange werden und man ertappt sich bei einem Anflug von Dankbarkeit, dass dieses Mammutwerk in vier Einzelmonographien und damit quasi portioniert vorliegt1. Deren eine zu besprechen ist Aufgabe der vorliegenden Rezension, und um es gleich zu sagen: Die Rezensentin wird sich die anderen Bände auch noch besorgen.
2Der Biographie eines vermeintlich oder tatsächlich großen Mannes haftet gern der Ruch der Mythenbildung an, der Überbetonung des Einzelfalls, gar des erbsenzählenden Positivismus. Entsprechend hatte sich die Geschichtswissenschaft von diesem Genre zugunsten struktur- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen, zugunsten kollektiver Biographien abgewandt, welche verallgemeinerbare Aussagen über das Leben in vergangenen Epochen ermöglichen sollten. In letzter Zeit lässt sich allerdings eine Zunahme an biographischen Arbeiten feststellen, welche versuchen, diese strukturgeschichtlichen Überlegungen mit der Untersuchung des historischen Einzelfalls und des Individuums zu harmonisieren. In dieses Genre ist auch die Arbeit von Marek Wejwoda einzuordnen, der sich mit Dietrich von Bocksdorf einen zwar prominenten Juristen, jedoch keine der Leuchtturmgestalten spätmittelalterlicher juristischer Kultur zum Gegenstand genommen hat. Die Wahl erweist sich aus mehreren Gründen als weiterführend. Erstens zeichnet sich Dietrich von Bocksdorf durch ein ausgesprochen umfangreiches juristisches Werk aus, das zweitens Texte unterschiedlichster juristischer Genera und Zielsetzungen enthält. Drittens, und dies ist hervorzuheben, ermöglicht seine Biographie den Blick auf einen vielfältig orientierten Juristen des fünfzehnten Jahrhunderts in der oftmals belächelten deutschen Provinz, der sich – anders als etwa der Italiener Lodovico Pontano2 – nicht an der Jagd nach prestigeträchtigen akademischen Stellen und fürstlichen Auftraggebern beteiligt hat, sondern in seiner Heimat das Tagesgeschäft des Juristen mit großem auch finanziellem Erfolg betrieben hat. Im Gegensatz zu den zahlreichen prosopographischen Studien zu den Gelehrten des Spätmittelalters, wo Fürstendienst und akademische Würden gerne als Ziel und Krönung einer wissenschaftlichen Karriere vorgestellt werden, tritt hier ein erfolgreicher Jurist in seinem lokalen Umfeld und mit seinen alltäglichen Mandaten und Tätigkeiten auf. Dazu passt, dass die Bischofsstelle in Naumburg, welche Dietrich von Bocksdorf am Ende seines Lebens noch einnehmen konnte, von Wejwoda nachvollziehbar nicht als Höhepunkt, sondern als „Gnadenbrotstelle“ dieser Karriere präsentiert wird, welche den verdienten Akademiker in den letzten Jahren seines Lebens wohl eher versorgen sollte, als dass von ihm prägender Einfluss auf die Geschicke des Bistums erwartet worden wäre.
3Wejwoda stellt in Kapitel 1 kurz das Erkenntnisinteresse seines Werkes vor und bricht dabei besonders eine Lanze für die Erforschung und auch akademische Sichtbarmachung der spätmittelalterlichen Jurisprudenz zumal auf dem Gebiet des Römisch-Deutschen Reiches, die wegen der herausragenden Stellung der italienischen und französischen Universitäten bis heute zu wenig wahrgenommen wird. Der Autor plädiert für die dringend notwendige Erschließung und Untersuchung der tatsächlich umfangreichen juristischen Überlieferung im Reich, welche bis heute in weiten Teilen unbekannt ist. Dies ist umso bedauerlicher, als diese Texte über den Stand des juristischen Denkens und der juristischen Praxis im Deutschen Raum ebenso Aufschluss geben, wie sie eine faszinierende Quelle für die Alltagsgeschichte des Spätmittelalters darstellen, indem sie die rechtlichen Probleme und Streitfälle auch der sogenannten kleinen Leute dokumentieren. Die vorliegende Arbeit liefert zugleich den Beweis für die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes.
4Das zweite Kapitel ist dann dem Lebensweg des Dietrich von Bocksdorf gewidmet, den Wejwoda aufgrund seiner stupenden Quellenkenntnis und -erfassung in erstaunlicher Vollständigkeit rekonstruieren kann. Der Spross einer niederadeligen Familie aus der Niederlausitz konnte nach einer nicht nachgewiesenen, aber mit guten Gründen anzunehmenden Schulbildung das Studium zunächst der Artes, danach des Kirchenrechts in Leipzig aufnehmen. Im Jahre 1434 immatrikulierte er sich an der Universität in Perugia, um fünf Jahre später als gefragter Lehrer an die Universität in Leipzig zurückzukehren, für die er auch als Gutachter in Rechtsfragen tätig war. Doch beschränkte sich Dietrich nicht auf den akademischen Bereich. Auch für die Belange der Stadt wie der Bürger von Leipzig setzte er sich als Gutachter ein und war als Schiedsrichter akzeptiert. Und nicht nur an der Universität und in der Stadt war er als juristischer Experte gefragt: Auch Kurfürst Friedrich II. von Sachsen sicherte sich die Dienste Dietrichs von Bocksdorf und setzte ihn als seinen Unterhändler auf verschiedenen Reichstagen ein, ohne dass aus dieser Tätigkeit jedoch eine diplomatische Karriere erwachsen wäre. Wohl auch auf Betreiben dieses Fürsten konnte Dietrich dann seine letzten Jahre auf dem Bischofsstuhl von Naumburg verbringen. Diese Ausführungen gehen weit über die Nacherzählung einer Gelehrtenbiographie hinaus, indem sie stets den Anschluss an aktuelle Studien zu Berufsbild und Einsatzfeldern von akademisch gebildeten Juristen im Spätmittelalter suchen. Besonders hervorzuheben sind die Überlegungen zum Berufsethos der Rechtsgelehrten dieser Zeit: Dietrich von Bocksdorf sah sich nach Aussage seiner Schriften in besonderer Weise der Wahrung und Durchsetzung des Rechts wie der Wahrheit verpflichtet und wandte sich mehrfach aktiv gegen Prozessgegner, welche offenbar juristische Belege und Allegationen bloß erfanden und so die mangelnde Textkenntnis von Richtern wie der weiteren Beteiligten in betrügerischer Absicht ausnutzten. Hier erschließt Wejwoda einen Weg in die Rechtspraxis und das Rechtsdenken der Zeit, der nebenbei auch bekannte und gerne als topisch bezeichnete Vorbehalte der Zeit gegen die juristische Zunft aus der Lebenspraxis belegt.
5Dieser Gedanke leitet zum vierten Kapitel über, das ganz dem äußerst umfangreichen schriftlichen Werk des Dietrich von Bocksdorf gewidmet ist. Selbst ein Autor von der Belesenheit Wejwodas muss hier zugeben, dass eine komplette Lektüre und Würdigung aller von Bocksdorf hinterlassenen Texte unmöglich war – und mit ihm wünscht man sich, dass dieses Werk seinen Bearbeiter finden möge. Von Bocksdorf sind neben einer großen Anzahl von Gutachten auch zahlreiche akademische Schriften überliefert, die gemeinsam einen erstaunlich trennscharfen Einblick in das Lebens- und Arbeitsumfeld des Juristen liefern, wie über seine Interessen als akademischer Lehrer informieren. Wejwoda untersucht die Texte auf den Einzugsbereich ihres Autors wie auf den sozialen Rang der involvierten Personen und kann so am Einzelbeispiel viele Befunde der aktuellen Gelehrtenforschung, etwa hinsichtlich der langfristigen Netzwerke der Beteiligten, bestätigen. Von besonderem und bleibendem Wert sind jedoch die Untersuchungen zu den Arbeitsbereichen des Juristen, die das geistliche ebenso wie das weltliche Gericht einschlossen und damit den Bereich des gelehrten, kanonischen Rechts sowie des Sachsen-, mithin Gewohnheitsrechts umfassten und integrierten. Dabei beweist Bocksdorf eine große Aufgeschlossenheit für das tradierte, lokale Recht, das er gleichberechtigt neben den gelehrten Rechten behandelt und nach gelehrtem Muster kommentiert. Besondere und seinen Nachruhm sichernde Bedeutung hatten die juristischen „Hilfsmittel und Handreichungen“ (328), die Dietrich von Bocksdorf für die Unterweisung von juristisch tätigen Personen verfasste und die im Falle des auch im Druck erschienenen „Remissorium“ etwa dem Gedanken einer leichteren und schnelleren Durchdringung des Sachsenspiegelrechts verhaftet sind. Besonders bei den Ausführungen zu diesem Buch und zum Sachsenspiegelrecht insgesamt läge die – im Buch leider nicht angestellte – Überlegung nahe, inwiefern hier bereits Einflüsse humanistischen Denkens anzunehmen sein könnten, das sich im juristischen Bereich bekanntlich in neuer Weise systematisierend und ordnend ausgewirkt und sich vor allem im französischen Raum auch der Erschließung des Gewohnheitsrechts zugewendet hat. Dazu würde auch passen, dass Dietrich auf der Suche nach dem besten Text des Sachsenspiegels in ganz humanistischer Manier den Gang in staubige Klosterarchive nicht scheute (331). Die Tätigkeit von Bocksdorfs ist jedenfalls im Kontext der oft beschriebenen „Verwissenschaftlichung des deutschen Rechtswesens“ (349) zu verorten, die hier aus nächster Nähe zu beobachten ist.
6Die knappe Zusammenfassung bündelt die Ergebnisse der vorigen Kapitel und weist noch einmal in besonderer Weise und zu Recht auf die Position Dietrichs von Bocksdorf als „'freiberuflicher' praktizierender Jurist“ (349) hin. In dieser Eigenschaft ist er vermutlich für seinen Berufsstand repräsentativer als viele der Fürstendiener und Kirchenpolitiker, welche das Bild des gelehrten Juristen in der Forschung oft prägen. Denn obwohl Bocksdorf in den großen politischen Vorgängen der Zeit nicht oder kaum vorkommt, obwohl er an der römischen Kurie kaum nachzuweisen ist, ist er doch in keiner Weise ein Gescheiterter, dessen Karriere irgendwie unvollendet geblieben wäre. Im Gegenteil, wir sehen einen lokal äußerst erfolgreichen Juristen, der als reicher und angesehener Mann stirbt. Damit ist er der Lebensrealität der doch recht zahlreichen Absolventen juristischer Fakultäten wahrscheinlich näher, als die Gestalten vom Format eines Niccolo de Tudeschis oder eines Nicolaus von Kues.
7An den darstellenden Teil schließt sich die Edition einiger wichtiger Dokumente aus dem Leben Dietrichs von Bocksdorf an, bei denen man sich lediglich etwas ausführlichere Regesten gewünscht hätte. Die im Großen und Ganzen solide durchredigierte Arbeit wird durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen.
8Mit dieser Biographie eines spätmittelalterlichen Gelehrten zwischen akademischer und volkssprachiger Rechtstradition macht Marek Wejwoda neugierig auf seine anderenorts erschienenen Monographien zum Werk dieses Juristen wie zur juristischen Fakultät der Universität Leipzig im 15. Jahrhundert, die zusammengenommen geradezu ein Panoptikum rechtswissenschaftlichen Wirkens in der oft stiefmütterlich behandelten deutschen Provinz darstellen dürften.