Einleitung
Rule, Britannia! Rule the waves:
Britons never will be slaves.1
11740, als dieses Gedicht zur Musik von Thomas Augustine Arne in Cliveden uraufgeführt wurde,2 brachten Handelsschiffe unter britischer Flagge 21.422 Sklaven von Afrika in die Neue Welt.3
2Der Vers, der zugleich der Refrain des Liedes ist, steht symbolhaft für eine bestimmte Periode der britischen Geschichte. Geschrieben wurde er ungefähr 30 Jahre nach dem Act of Union, als England, Schottland und Wales unter dem Union Jack vereinigt, sich bemühten eine Nation zu werden. Obwohl das Gedicht in seinem spezifisch historischen Bezugsrahmen den Handelskrieg mit Spanien thematisiert, vermittelt es doch ein weiterreichendes Bild der „Britishness“:4 Die nationale Identität. Der oben zitierte Refrain konstruiert zwei zentrale Elemente: Britannien soll über die Weltmeere herrschen und die Britons sollen niemals Sklaven sein. Während der erste Aspekt den Kampf um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren und die Handelssuprematie Großbritanniens artikuliert, wirft das zweite Element, die Propagierung eines freien Briten der das Gegenteil eines Sklaven sein soll, ein konfliktträchtiges Problem auf: Der Handelskrieg mit Spanien war auch ein Krieg um Marktanteile im transatlantischen Sklavenhandel, an dem Großbritannien, wie alle Kolonialmächte der Epoche, gut verdiente.5 Weite, vor allem die wirtschaftlich profitablen, Teile des damaligen Britischen Imperiums waren auf Sklaven zur ertragreichen Bewirtschaftung angewiesen, allen voran die Zuckerinseln der West Indies. Die Sklaven hielten damit den Großteil des frühkapitalistisch-globalisierten Wirtschaftskreislaufs im Empire in Schwung. Der ökonomische und der moralische Anspruch gerieten zunehmend in Widerstreit und ein breiter Diskurs über das Für und Wider der Sklaverei begann.
3Ausgehend von einigen protestantischen Gemeinden in Nordamerika, den Quäkern beispielsweise, griff eine immer weitergehende, auch das Mutterland erfassende, Debatte um die moralische Legitimierung bzw. Delegitimierung der Sklaverei als Institution, aber zunächst vor allem des als besonders grausam geltenden transatlantischen Sklavenhandels, um sich.6 Dieser Diskurs wurde auf zahlreichen Ebenen der Gesellschaft geführt. In der (Moral-) Theologie, genauso wie in Literatur, Publizistik und Politik.7 Er machte auch vor der Justiz nicht halt. Im Jahr 1772 wird Somerset v. Steuart vor dem Court of King’s Bench anhängig. Der Sachverhalt ist schnell erzählt:8
41749 wurde James Somerset als Sklave von Afrika in die neue Welt gebracht. In Virginia wurde er an Charles Steuart, einen schottischen Kaufmann und Sklavenhändler verkauft, der nach 1765 als hochrangiger Zollbeamter tätig war. 1769 brachte Steuart Somerset mit nach England. Nach zwei Jahren unternahm Somerset einen Fluchtversuch. Daraufhin beschloss Steuart ihn nach Jamaika zu verkaufen und ließ ihn in Ketten legen. Zu dieser Zeit begann sich in London ein Netzwerk von Abolitionisten um den anglikanischen Geistlichen Granville Sharp9 zu formieren, das von dem Fall erfuhr und ihn nur zu gerne nutzte, um eine Entscheidung eines englischen Gerichts herbeizuführen.10 Sie versuchten daher von Lord Mansfield, dem vorsitzenden Richter des Court of King’s Bench, einen Habeas Corpus Writ zu erlangen, um die Freilassung Somersets zu erreichen.11
5Der Fall gilt als „Landmark Case“ auf dem Weg zur Abschaffung der Sklaverei.12 Brachte ein Gerichtsurteil die entscheidende Wende für den Abolitionismus? Immerhin setzte Lord Mansfield Somerset auf freien Fuß. In seinem Urteil heißt es: „[I]n a case so odious as the condition of slaves must be taken strictly, the power claimed […] was never in use here […], therefore the man must be discharged.“13
6Wie kam Mansfield zu dieser Argumentation? Sie ist vor allem vor dem Hintergrund, dass die Sklaverei ein zentrales Element des damaligen ökonomisch-politischen Systems war, das bereits mehr als nur ein Jahrhundert funktioniert hatte, erstaunlich und erklärungsbedürftig. Stellte Mansfield die Sklaverei aus ethisch-religiösen, oder u.U. naturrechtlichen Erwägungen heraus in Frage? War es die Stunde der Justiz, die zum moralischen Gewissen der Nation wurde und den ersten Schritt zur Universalisierung einer Menschenrechtsidee ging? Oder verlieh das Urteil vielmehr auch einer Angst in der britischen Bevölkerung Ausdruck, dass die Sklaverei nach Art der Kolonien in England selbst eingeführt werden könnte? Kurzum: Handelt es sich bei Mansfields Entscheidung in Somerset v. Steuart um die bewusste Provokation einer öffentlichen Debatte durch einen Richter, der nach seinem ethischen Gewissen und seiner Überzeugung urteilte, oder sucht auch Mansfield nur nach einem Interessenausgleich? Einem Ausgleich zwischen den ökonomischen Interessen der Kolonien, Sklavenhändler und Rohrzuckerpflanzer und dem Interesse des Staates an moralisch-ethischer Legitimierung seiner Herrschaft und der Sorge der Briten um ihre eigene Freiheit? Ist die Entscheidung Ausdruck der Reaktivierung naturrechtlicher Argumentationsmuster oder verwirklicht sie vielmehr Herrschaftsvorstellungen durch einen Ausgleich der Interessen von Mutterland und Kolonien, indem Rechtsräume getrennt werden?
7Um diesen Fragen nachzugehen, soll zunächst ein knapper Überblick über die soziale und rechtliche Lage der Sklaverei in England bis zur Entscheidung Mansfields gegeben werden (I.). Dann soll die sich daraus ergebende juristische Auseinandersetzung der Kläger und Beklagtenseite dargestellt werden, um aufzuzeigen wie auf juristischer Ebene die Debatte geführt wurde und welche rechtlichen Konsequenzen das Urteil hatte (II.).
8Vom Interpretationsspielraum, den das Urteil lässt, ausgehend, soll dann eine Auseinandersetzung mit der Publizistik und damit der öffentlichen Debatte um die Sklaverei stattfinden, um der Frage nachzugehen, wie das Urteil auf den Sklavereidiskurs rückwirkte bzw. wie der Diskurs die Bedeutung des Urteils selbst prägte (III.).
I. Status der Sklaverei in der englischen Gesellschaft und im Common Law bis 1771
9Im England des 16. und 17. Jahrhunderts wurde ein beträchtlicher Teil an Arbeit durch unfreie Arbeit erbracht.14 Ab dem späten 16. Jahrhundert nahm die Zahl von Schwarzen in England, die in irgendeiner Art unfrei waren, als Resultat des transatlantischen Sklavenhandels zu. Zur gleichen Zeit entwickelt sich ein Selbstverständnis der Engländer als freies und nicht versklavbares Volk „by virtue of their English birth and race“.15 Die „Sklaverei“ in der Form, wie sie in England existierte, hatte den Charakter eines unbefristeten, unfreiwilligen Dienstverhältnisses.16 Im Rahmen dieses Dienstverhältnisses durften die Herren durchaus erhebliche, körperliche Gewalt ausüben und hatten ein Verfügungsrecht über die Sklaven in dem Sinne, dass sie ge- und verkauft werden konnten. Bis ins späte 18. Jahrhundert sind Sklavenmärkte als Forum für solche Transaktionen in Liverpool, Bristol, Glasgow und London belegt.17 Trotz alledem hatte die Sklaverei in England, als soziales Phänomen wie auch in ihrer rechtlichen Ausgestaltung, einen anderen Charakter als in den Kolonien.
10Dies gilt, in gesellschaftlicher Hinsicht, zunächst für die Quantität. Die Zahl der in Großbritannien lebenden Schwarzen liegt im 18. Jahrhundert zwischen 3.000 und 15.000,18 von denen nicht alle notwendigerweise Sklaven waren.19 In den Kolonien, vor allem in den West Indies, stellten schwarze Sklaven aus Afrika die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung und wurden von wenigen weißen Aufsehern im Zaum gehalten.20 Die Nachfrage nach Sklaven für Wirtschaft und Produktion in England war relativ gering. Sie waren, anders als in den Kolonien, kein für den Produktionsprozess notwendiges Kapital, sondern zumeist „servants, drudges and entertainers“.21 Ein Großteil wurde als Arbeitssklaven (drudges) eingesetzt, aber im Unterschied zu den Kolonien gab es eine beträchtliche Zahl von Hausangestellten (servants) oder sie dienten schlicht zur Belustigung (entertainers). Der schwarze Sklave in England war also nicht notwendigerweise ein Arbeiter. Ganz im Unterschied zu den auf effektive Produktion für den Markt eingestellten Kolonien mit ihren Zuckerrohr-, Baumwoll- und Tabakplantagen. Dort waren Sklaven austauschbare Wirtschaftsgüter; kurz: Kapital. Ihrer Funktion im Produktionsprozess entsprechend standen sie dort, vergleichbar mit Vieh, im Eigentum ihres Herren. So wurden dort auch slave codes erlassen, die das sachenrechtliche Eigentum an den Sklaven regelten.22
11Die unterschiedliche soziale Lage der Sklaverei spiegelte sich auch im geltenden Recht wider. Während in den meisten Kolonien das Eigentum an den Sklaven in den slave codes geregelt war, war die Lage im Mutterland viel unübersichtlicher.23 Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts kristallisiert sich in der Rechtsprechung aber zunehmend eine Haltung heraus, die Sklaven nicht als sachenrechtliches Eigentum, sondern als in einem lebenslangen, unfreiwilligen Dienstverhältnis stehende Personen ansieht. So wurde etwa 1696 in Chamberlain v. Harvey24 entschieden: „No man can have property in the person of another while in England.“25 Dementsprechend konnte im Fall der Kläger, der Schadensersatz für den Wertverlust an einem Sklaven vom Beklagten begehrte, diesen nicht aus einem trespass de bonis asportatis (wegen des Wegschaffens einer Sache) sondern nur aus einem trespass per quod servitium amisit (wodurch er seine [des Dieners] Dienste verlor) erlangen. Dies mag auf den ersten Blick als juristischer Kniff erscheinen, um zu vermeiden die Dinge beim Namen zu nennen. Bezieht man jedoch den sozialgeschichtlichen Hintergrund in eine Analyse von Chamberlain v. Harvey ein, so wird klar, dass es sich bei der Entscheidung um mehr als nur einen Griff in die juristische Trickkiste handelt. Die Sklaven in England hatten eine grundsätzlich andere wirtschaftliche, aber auch soziale Funktion. Sie waren ein Statussymbol der Reichen. Aufgrund ihrer vielfältigeren Verwendung, die über die eines Arbeitssklaven hinausging, wurden sie weder von Wirtschaft, noch Gesellschaft und konsequent auch nicht vom englischen Zivilrecht als Sache behandelt, sondern vielmehr als dauerhaft abhängige Person. Insoweit konnten ihnen zumindest gewisse, wenn auch nur sehr schwach ausgeprägte, Rechte zustehen.
12Dementsprechend lässt sich die Sklaverei – in rechtlicher und sozialer Hinsicht – in den Kolonien als chattel slavery bezeichnen, wohingegen Sklaven in England in einem Gewaltverhältnis zu ihrem Herren lebten, das als near slavery oder slavish servitude umschrieben werden kann.26
II. Juristische Auseinandersetzung um den Rechtsstatus Somersets
13Hält man dieses Ergebnis fest, so hätte es eigentlich keine Auseinandersetzung um den Rechtsstatus Somersets geben dürfen. Die Kläger- und Beklagtenseite hätten sich vielmehr um die Reichweite des Gewaltverhältnisses near slavery streiten müssen, konkret um die Frage ob die Festnahme Somersets zu dem Zweck ihn außer Landes zu schaffen von diesem Verhältnis gedeckt war. Dass diese Auseinandersetzung in eine andere Richtung ging, ist dabei zum einen dem Umstand geschuldet, dass Somerset unter dem Recht von Virginia gekauft wurde. Es stellte sich somit die kollisionsrechtliche Frage, ob das englische Recht den Sklavenstatus nach dem Recht Virginias anerkennen würde. Zum anderen zeigt sich in der Debatte auch der wachsende Einfluss der entstehenden Abolitionistenbewegung mit ihrer theologisch-naturrechtlichen Argumentation gegen die Sklaverei an sich, deren Diskurs auf die rechtliche Ebene genauso einwirkt, wie die von der Sklavenhalterlobby vertretene, in der Yorke-Talbot Opinion von 1729 fixierte, Position, dass Sklaven als Wirtschaftsgüter im ganzen Empire als Eigentum ihres Herren zu behandeln seien und dass sich dieser Status weder durch das Betreten englischen Bodens noch durch die Taufe eines Sklaven ändere.27 Gerade dieser Antagonismus ist die Grundlage dafür, dass aus einem einfachen Sklavenfall, eine die Verfassung des Empires prägende Entscheidung wird.
14Die Argumente der Counsels der Klägerseite (Somerset) kreisen daher vor allem um zwei Punkte: Den Vorrang des englischen Rechts vor dem Recht Virginias in Bezug auf den Status Somersets und die Illegalität der Sklaverei im englischen Recht. Dabei ging es den Klägeranwälten zunächst darum, hervorzuheben, dass sich die Frage, ob eine Person in England als Sklave oder als freier Mensch zu behandeln ist, nur nach englischem Recht entscheiden kann.28 Insbesondere wurde argumentiert, dass nach dem Recht Virginias es Steuart erlaubt sei Somerset ungestraft tot zu schlagen oder ihm als Strafe für seinen Fluchtversuch ein Bein abzutrennen.29 Da dies jedoch in England in jedem Fall Verbrechen sind, könne der Sklavenstatus Somersets nach dem Recht Virginias nicht anerkannt werden, da so zugleich ein in England pönalisiertes Verhalten über den Umweg der Kolonien legal würde.
15Davon ausgehend gingen die Klägeranwälte einen Schritt weiter: James Mansfield30 – nicht verwandt mit Lord Mansfield – und Francis Hargrave31 argumentierten auf Basis des Naturrechts, dass die Sklaverei als Institution nur auf Grund von positivem Recht als legal angesehen werden könne. Sie knüpften damit einerseits an Überlegungen der Naturrechtsphilosophie, wie sie bereits im 17. Jahrhundert angestellt wurden, an.32 Andererseits verbanden sie die von Granville Sharp angestellten Überlegungen, dass die persönliche Freiheit eines Schwarzen höher wiegen müsse, als das Eigentumsrecht der Sklavenhalter mit dem verfassungsrechtlich verbrieften Selbstverständnis der Briten als freie Nation unter der Krone. So sei durch Zulassung der Sklavenpraxis Westindiens in England die “National Safety” eines “free Christian Country” gefährdet:33„[F]or every Negro Slave, being undoubtedly either man, woman, or child; he or she, immediately upon their arrival in England, becomes the King’s property in the relative sense […] and cannot, therefore, be out of the King’s protection”.34
16Das Kernargument der Vertreter Somersets fußt daher auf dem Gedanken, dass durch die Zulassung der Sklaverei in England – sei es, weil kollisionsrechtlich an das Recht Virginias angeknüpft wird oder sei es, weil die mittelalterliche villeinage als taugliche Rechtsgrundlage erachtet würde – die mühsam erkämpfte englische liberty aufgrund der ökonomischen und politischen Interessen der Kolonien am freien Warenverkehr mit Sklaven ausgehöhlt werden würde. Eine solche Beschränkung eines Rechts, das jedem, der als „the King’s property“ galt, zustand, wäre aber nur durch ein parlamentarisches Gesetz zu rechtfertigen gewesen.
17Die Argumentation der Vertreter Somersets besteht also vor allem in der Verknüpfung von naturrechtlich hergeleiteten Freiheitsgedanken, mit der diese Freiheit garantierenden Verfassung Englands. Sie findet sich teilweise auch im Urteil Lord Mansfields wieder:
So high an act of dominion must derive its authority, if any such it has, from the law of the kingdom where executed. A foreigner cannot be imprisoned here on the authority of any law existing in his own country: the power of a master over his servant is different in all countries, more or less limited or extensive, the exercise of it therefore must always be regulated by the laws of the place where exercised. The state of slavery is of such a nature, that it is incapable of now being introduced by Courts of Justice upon mere reasoning or inferences from any principles, natural or political; it must take its rise from positive law; the origin of it can in no country or age be traced back to any other source:35
18Führt man sich die rechtliche Ausgangslage der Sklaverei in England, sowie die Argumentation der Prozessparteien vor Augen, wird klar, dass Somerset v. Steuart vor allem als kollisionsrechtlicher Fall zu begreifen ist. Es geht primär darum, dass die Sklaverei nach Art der Kolonien mit dem britischen Selbstverständnis, aber vor allem dem Staats- und Verfassungsverständnis, unvereinbar ist; zumindest solange nicht das Parlament etwas anderes entscheidet. Letztlich würde durch die Anerkennung einer weitergehenden, fremden Rechtsmacht über Somerset die Souveränität des Königreichs in dieser Frage beschnitten: „So high an act of dominion must derive its authority […] from the law of the kingdom where executed.“36
19Gleichzeitig versucht die Entscheidung aber auch die Interessen der Sklavenhalter zu berücksichtigen, indem es den Weg zur Rechtsspaltung zwischen den Rechtsordnungen der Kolonien und dem Mutterland geht. Damit reagiert das Recht zum einen auf unterschiedliche soziale und ökonomische Bedingungen. Andererseits zeigt sich aber auch der herrschaftssichernde und herrschaftsorganisierende Charakter. Denn durch die Entscheidung wird der Rechtskreis der Kolonien gerade nicht berührt. Somerset bleibt seinem Status nach ein Sklave, allerdings wird die Reichweite dieses Rechtsverhältnisses auf das in England zulässige Maß, das eines servant, begrenzt.37 Mansfield vermeidet es der chattel slavery ihre Legitimationsfähigkeit abzusprechen, sondern erkennt die Kolonien als eigenständige Rechtsordnungen mit Rechtsetzungsmacht in dieser Frage an: „[T]he power of a master over his servant is different in all countries“.38 Durch seine Feststellung, dass positives Recht die Sklaverei legalisieren kann, werden die slave codes und mit ihnen die Sklaverei in den Kolonien gebilligt. Somit wird auf die für die Kolonien, aber auch für das Empire als Ganzes, wichtige Sklavenwirtschaft Rücksicht genommen und gleichzeitig die englische Verfassung gewahrt.
20Bei Lichte betrachtet, wird auch die near slavery Englands nicht angetastet. Mansfield sagt nicht, dass es keine Sklaverei auf englischem Boden geben könne.39 Die englische Sklaverei existierte aber immer nur in der Form eines dauerhaften, unfreiwilligen Dienstverhältnisses. Dieses Dienstverhältnis qualifizierte den Sklaven aber zu jeder Zeit als Untertan der Krone. Als solcher müssen aufgrund der Habeas Corpus Akte Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit durch ein Gesetz dieses Königreichs legitimiert sein. Ein Sklave konnte zwar wirtschaftlich relevant sein, aber er war, im Unterschied zum Rechtsverständnis der Kolonien, kein bloßes Rechtsobjekt. Die Subjektivierung des afrikanischen Sklaven im englischen Zivilrecht indes zeigt den bedeutenden kulturellen Unterschied von chattel slavery und near slavery auf. Insoweit, aber auch nur insoweit, manifestiert sich in Somerset v. Steuart die Menschenrechtsidee: Der schwarze Sklave ist ebenso Untertan und damit Mensch, wie der weiße villein. Und daher bedarf es einer, wie auch immer gearteten, Rechtsgrundlage, seine Freiheit zu beschneiden. Das englische Recht kannte aber kein Rechtsverhältnis, dass es einem Herren gestattet hätte, einen Untergebenen gegen seinen Willen außer Landes zu schaffen: „[No] farther than to determine that the master of such a servant shall not have it in his power to take him out of the kingdom against his will“40 reichte die Entscheidung, wie Mansfield dreizehn Jahre später klarstellte.
21Was war nun das Revolutionäre an Mansfields Entscheidung? Nach Wise wurden durch die Subjektivierung der Sklaven im englischen Recht, diese für das Recht überhaupt erst als Person sichtbar, was den Anfang vom Ende der Sklaverei einläutete.41 Wie eben gezeigt, gab es aber schon zuvor aus Sicht des englischen Rechts kein Eigentum an einem anderen Menschen.42 Zwar geriet diese Erkenntnis durch die Yorke-Talbot Opinion von 1729 ins Wanken, als zwei hochrangige Juristen für ein einheitliches, imperiales Eigentum an Sklaven plädierten. Diese Meinung fand jedoch in der Rechtsprechung auch vor Mansfield kaum Widerhall.43 Aus rechtsgeschichtlicher Sicht war der kollisionsrechtliche Weg zur Lösung eines innerimperialen Interessenkonflikts neu. Herrschaft verwirklicht sich hier durch die Trennung von Rechtsräumen. Eine Trennung indes, die den ethisch-moralischen Diskurs um die Sklaverei als „state so odious“ aufnahm, aber genügend Flexibilität bot ihn in die eine, wie die andere Richtung zu entscheiden.
III. Mansfields Entscheidung im Diskurs um die Legitimität der Sklaverei
22Eine Entscheidung, die nicht von einem Gericht zu fällen war. Die Rezeption des Urteils in der öffentlichen Debatte, war ein ausschlaggebender Beitrag für den Erfolg des Abolitionismus:
We have no slaves at home. – Then why abroad?
And they themselves, once ferried o’er the wave
That parts us, are emancipate and loos’d.
Slaves cannot breathe in England; if their lungs
Receive our air; that moment they are free;
They touch our country, and their shackles fall.
That’s noble, and bespeaks a nation proud
And jealous of the blessing. Spread it then,
And let it circulate through ev’ry vein
Of all your empire; that where Britain’s pow’r
Is felt, mankind may feel her mercy too.44
23William Cowpers Zeilen sind ein Beleg von Vielen für die Diskrepanz zwischen der engen, juristischen Bedeutung und der breiten, diskursiven Interpretation des Falles. Denn Schriftsteller, die gegen die Sklaverei zu Felde zogen, schrieben der Entscheidung eine viel weitergehende Bedeutung zu, als sie tatsächlich im rechtlichen Sinne hatte.45 So verbreitete und hielt sich nachhaltig die Ansicht, dass Mansfield die Sklaverei als Institution mit englischem Recht für unvereinbar erklärt habe. Und so sehr die Sklavenhalterlobby auch versuchte, ein engeres Verständnis der Entscheidung in der Öffentlichkeit durchzusetzen, hatte sie der attraktiven Verbindung von Freiheit mit der englischen bzw. britischen Identität „[that] bespeaks a nation proud“, nur wenig entgegenzusetzen:46 So betont etwa Colley, dass das Entstehen einer britischen Identität durch die Lösung des Schottisch-Englischen Konflikts bedingt war. Und als Hauptmerkmal einer gemeinsamen, britischen Identität kristallisierte sich der Glaube an den Wert der Freiheit heraus.47 Dem konnte die Prosklavereilobby, neben rein zweckrationalen, ökonomischen Argumenten, die die Sorge um den Wohlstand, der gerade durch die Sklaven in den Kolonien erwirtschaftet würde, in den Mittelpunkt stellten, nur das Eigentum als eigenständigen Wert entgegenhalten. Damit ging es letztlich um die Frage, welches Prinzip im englischen Recht höher wiegen würde: Freiheit oder Eigentum.48 Die Frage nach dem Gewicht der beiden Güter in der Rechtsordnung, ist dabei jedoch nicht auf die abstrakte, juristische Ebene beschränkt. Vielmehr spielt hier das Selbstverständnis der Briten als freies Volk eine entscheidende Rolle. Während in der Zeit vor Somerset v. Steuart die Argumente der Antisklavereiaktivisten auf Bibelinterpretation und Augenzeugenberichten über die Grausamkeit der Sklaverei aufbauten, um überhaupt erst das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken, war die Ausgangsposition nach dem Urteil wesentlich vorteilhafter: Durch die erfolgreiche Verbindung von Staat, Verfassung und englischer Freiheit und dem damit verbundenen Erwachen eines nationalen Bewusstseins darüber, war die Frage der Sklaverei zu einer staatspolitischen Angelegenheit geworden.49 Auch in dieser Hinsicht lieferte Mansfields Urteil den erforderlichen Stoff: Durch den herbeigeschriebenen Triumph des Konzepts liberty in Großbritannien, wurden die Risse in der imperialen Struktur zwischen Kolonien und Mutterland deutlich. Francis Hargrave verband in seiner Schrift über den Prozess erneut das nationale, gemeinschaftliche Interesse mit der Frage nach der Legitimität der Sklaverei in England. Wenn Steuart mit seinem Eigentumsrecht über die Freiheit Somersets obsiegt hätte, könnte die „domestick slavery, with it’s [sic] horrid train of evils, […] be lawfully imported into this country, at the discretion of every individual foreign or native“50. Damit vollzieht Hargrave den von Mansfield beschrittenen Weg der rechtlichen Trennung von Kolonie und Mutterland publizistisch nach und stellt das englische Recht in Kontrast zu dem der Kolonien. Die Freiheit, die die Briten von anderen Nationen unterscheidet, war als Identifikationsmerkmal und Abgrenzungskriterium in Bezug zu anderen Ländern (etwa Spanien oder dem Osmanischen Reich) bereits seit einiger Zeit wirkungsvoll etabliert.51 Damit wurden die Kolonien zu „corrupted satelites“52 des Mutterlandes und die Praxis der Sklavenhaltung und des Sklavenhandels zu einem Verrat an den Werten Großbritanniens.
24Und dieser Verrat wurde in einem zweiten Schritt zum Problem der Legitimation der Herrschaft über die Kolonien: „We have no slaves at home. – Then why abroad?53 Wenn das englische Recht und die britische Freiheit die Sklaverei nicht unterstützten, ihr sogar diametral gegenüberstanden, wieso konnte dann in den Kolonien, auf britischem Boden, Sklaverei existieren? An dieser Stelle – und das geschieht erst Mitte der 1780er Jahre – tritt die Debatte in eine neue Phase ein. Nachdem Großbritannien den Krieg mit den Kolonien in Nordamerika verloren und im Vertrag von Paris die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkennen musste,54 war das Konzept des Empire nachhaltig in Frage gestellt. Vor allem auch deshalb, weil sich die Amerikanische Revolution das Ideal der Freiheit auf die Fahne schrieb: „It was the moment when the British ideal of liberty bit back“55, konstatiert Ferguson. Die Herrschaft in den verbleibenden Kolonien, u.U. der Aufbau eines neuen Weltreiches verlangten nach einer Legitimation. Dem alten Empire war die Basis der Legitimation durch die Kriegsniederlage entzogen. Das Selbstbild musste erhalten und zugleich neu konstruiert werden: „How is it that the loudest YELPS for liberty come from the drivers of Negroes?“56 fragte Samuel Johnson in seiner Antiamerikanischen Schrift Taxation no Tyranny. Die britische Freiheit konnte ihre Überlegenheit gegenüber anderen Konzepten von herrschaftlicher Legitimation fortan nur noch dadurch unter Beweis stellen, dass sie in der Frage der Sklaverei eine Vorreiterrolle einnahm. Der Amerikanischen Revolution wurde der moralische Anspruch auf liberty durch den Vorwurf der Sklaventreiberei abgesprochen. Dieser Vorwurf war jedoch konsequent nur dann aufrecht zu erhalten, wenn Großbritannien an sich selbst und an seine Kolonien höhere Ansprüche stellte. „Spread it then,/And let it circulate through ev’ry vein/Of all your empire; that where Britain’s pow’r/Is felt, mankind may feel her mercy too.“57
25Während Mansfields Urteil die Trennung von Rechts- und Sozialraum zwischen Kolonie und Mutterland akzentuierte, brachte die Kriegsniederlage das Gegenteil, die Verantwortung des Mutterlandes für die Kolonien, mit sich. Die Kombination von beidem, die Verinnerlichung des Konzepts der Freiheit durch Abgrenzung gegenüber den Kolonien im Schreiben über Somerset’s Case im britischen Nationalbewusstsein, und der durch die Niederlage im Unabhängigkeitskrieg bedingte Export des Konzepts in die Kolonien, genauer gesagt die Anwendung des Konzepts auf die Herrschaft in den Kolonien, waren Wegbereiter für die Abschaffung der Sklaverei.
IV. Schlussbetrachtung
26Kehren wir an dieser Stelle zur Ausgangsfrage zurück. War Mansfields Entscheidung der Anfang vom Ende der Sklaverei? Auf diese Frage gibt es wohl zwei Antworten: Ja und Nein. Welche Antwort zutrifft, kommt auf den Blickwinkel der Fragestellung an.
27Betrachtet man das Urteil und den Prozess für sich, so muss die Antwort „Nein“ lauten. Die Entscheidung brachte im juristischen Sinne nicht viel Neues. Die Behandlung eines Sklaven als Rechtssubjekt war dem englischen Zivilrecht schon vorher bekannt. Auch die Anwendung der Habeas Corpus-Akte auf afrikanische Sklaven wurde schon in Shanley v. Harvey betont. Neu war indes die Rechtsspaltung zwischen Kolonie und Mutterland. Diese bereitet aber nicht den Weg in die Abschaffung der Sklaverei. Vielmehr hätte durch Mansfields kollisionsrechtliche Lösung die Sklaverei in den Kolonien erhalten werden können. Insoweit schuf er für Investoren sogar eine gewisse Rechtssicherheit, die so vor der Entscheidung nicht gegeben war, denn das Verhältnis von englischem Recht und dem der Kolonien war weitgehend ungeklärt.58 Die Entscheidung zeigt insoweit auch einen Weg zur Koexistenz von Freiheit und Unfreiheit innerhalb des Imperiums auf. So entschied ein englisches Gericht noch 1834, ein Jahr nachdem der Slavery Abolition Act verabschiedet wurde aber noch nicht vollständig in Kraft war, dass jamaikanische Sklaven auf einer Plantage nach jamaikanischem Recht als Zubehör zu dieser angesehen werden, und sich dementsprechend im Erbfall ein Eigentumsübergang nach jamaikanischem Recht ergab.59 Im Ergebnis konnte damit ein in England wohnhafter Erbe Eigentümer jamaikanischer Sklaven werden. Dies zeigt, wie weit die Toleranz für die sklavenhaltenden Kolonien ging.
28Der Grund dafür, dass Somerset’s Case und mit ihm Lord Mansfield in die Geschichte des Abolitionismus eingingen, liegt vielmehr in der Medienwirksamkeit des Prozesses, der bewusst von beiden Seiten zum Präzedenzfall stilisiert wurde. Dass dies wiederum so geschehen konnte, ist auf andere Faktoren zurückzuführen: Die zunehmende Verinnerlichung der Idee der Freiheit in das Selbstverständnis eines die Weltmeere beherrschenden Britanniens und der daraus resultierende Konflikt mit den Kolonien, denen durch diese Freiheitsidee ökonomische Nachteile drohten. Unter diesem Blickwinkel liest sich Mansfields Entscheidung nicht nur als Teil eines Konflikts zwischen Kolonie und Mutterland, sondern auch als Begrenzung eines totalen Kapitalismus. Menschen waren in der europäischen Wirtschaft der damaligen Zeit kein reines Kapital, kein austauschbarer Produktionsfaktor auf der Zuckerplantage, sondern vor allem Untertanen. Diese primäre Verantwortlichkeit gegenüber der Krone verhindert zugleich, dass ein anderer Herr mehr Macht über einen Untertanen hat, als die Krone selbst. Dieses Prinzip war nicht neu, wurde nicht von Lord Mansfield erfunden, es wird aber zum ersten Mal im Zusammenhang mit afrikanischen Sklaven so deutlich artikuliert und rezipiert. Insoweit trägt die Rezeption der Entscheidung dazu bei, den Freiheitsgedanken auf alle Untertanen auszudehnen, die Frage nach der Legitimität der Sklaverei zur nationalen Angelegenheit zu machen. Insoweit läutet ihre publizistische Rezeption in der Tat den Anfang vom Ende der Sklaverei ein. Dafür, dass 1807 der Sklavenhandel und 1833 die Sklaverei als solches durch Gesetze im ganzen Empire abgeschafft werden, brauchte es aber noch eines Krieges mit 13 Kolonien, die durch ihr Obsiegen das Empire in eine tiefe, moralische Krise stürzten, aus der es sich nur durch Universalisierung des Freiheitsgedankens zu retten vermochte.