1Rudolf His ist wissenschaftsgeschichtlich ein Einzelgänger geblieben1. Der Schweizer Rechtshistoriker, der drei Jahrzehnte in Münster wirkte, trat nicht durch ein großes Lehrbuch zur Rechtsgeschichte hervor wie etwa seine Zeitgenossen Heinrich Brunner2, Claudius von Schwerin3, Richard Schröder4 oder Eberhard von Künßberg5. Er stand auch nicht in der ersten Reihe der Herausgeber zentraler rechtsgeschichtlicher Zeitschriften. Ulrich Stutz, der fast gleichaltrige schweizerische Landsmann von His und seit frühen Tagen sein Freund und Weggefährte6, prägte für Jahrzehnte als Mitherausgeber der angesehenen Savigny-Zeitschrift die rechtshistorische Forschung im deutschsprachigen Raum und führte die deutsche Kanonistik zu ihrem Weltruhm, von dem sie noch immer zehrt7. Das alles war His fremd. Und doch schuf Rudolf His ein wissenschaftliches Werk, das in seiner Art bis heute unerreicht geblieben ist8. Mit dem zweibändigen kompakt-gedrängten und dabei doch monumentalen Handbuch „Das Strafrecht des deutschen Mittelalters“ (1920/35) schlug er einen Pflock in die weitgehend brachliegende Strafrechtsgeschichte ein. Anders als im deutschen Privatrecht, das seit dem 19. Jahrhundert in zahlreichen Handbüchern und Grundrissen immer wieder zusammengestellt und neu vermittelt wurde9, konnte sich His in der Strafrechtsgeschichte schlecht auf die sprichwörtlichen Schultern von Riesen stellen. Vorgänger gab es kaum. Und so ebnete sich His in jahrelanger Vorarbeit selbst den Boden, auf dem er späterhin tätig war. Damit erinnert er von ferne an Ferdinand Frensdorff, einen anderen großen Einzelgänger, freilich aus der älteren Generation10. Solche wissenschaftlichen Solitäre waren mit ihren Themen und Methoden nie modern. Auf der anderen Seite konnten sie genau deswegen auch nicht außer Mode geraten.
I. Lebensweg
2Am 15. Juli 1870 wurde Rudolf His in Basel geboren11. Sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits war er in angesehenen reformierten schweizerischen Bürgerfamilien verwurzelt12. Zahlreiche seiner Vorfahren hatten als Ratsherren die Geschicke ihrer Heimatstädte gelenkt. Zeitgenössischen Ruhm erlangte der Urgroßvater Peter Ochs, der in Basel als Politiker und Jurist tätig war, zugleich aber Dramen, Opernlibretti sowie historische Werke verfasste13. Wilhelm His, der Vater, hatte sich der Wissenschaft zugewandt und wurde Anatomieprofessor an der Universität Basel, später in Leipzig. Er beteiligte sich unter anderem an der Identifizierung der sterblichen Überreste von Johann Sebastian Bach14. Die Mutter, Elisabeth His, geb. Vischer, war die Tochter eines Baseler Ratsherren. Doch die Einbindung in die Baseler Verhältnisse prägte Rudolf His zunächst kaum. Schon 1872 folgte sein Vater einem Ruf nach Leipzig. Dort wuchs Rudolf His auf, unter anderem als Schüler des Nikolai-Gymnasiums, und in diesem Umfeld begann er, sich für Recht und Geschichte zu interessieren.
3Nach der Hochschulreife entschied sich His für ein Studium der Rechtswissenschaften, wie damals üblich mit mehrfachem Universitätswechsel. Genf, Leipzig, Berlin und Basel waren die Stationen seines Werdegangs. Hier stieß er auf Persönlichkeiten, die sein Wissenschaftsverständnis dauerhaft prägen sollten. Karl Binding, Rudolf Sohm und Andreas Heusler waren die wichtigen akademischen Leitfiguren15. His selbst bezeichnete später zusätzlich noch den Leipziger Nordisten Eugen Mogk16 als seinen Lehrer, auch das Seminar von Heinrich Brunner hatte er besucht17. Von Eugen Mogk erhielt er vermutlich den Einblick in die skandinavischen Sprachen und Quellen18. Die Doktorwürde erwarb His am 17. Juli 189219 in Basel, zwei Tage nach seinem 22. Geburtstag. Die von Andreas Heusler20 betreute Dissertation über „Graf und Schultheiß in Friesland“ blieb ungedruckt, wies mit dem Blick ins mittelalterliche friesische Recht aber schon den Weg zu einem von His‘ wichtigsten späteren Arbeitsfeldern.
4Ein knapp sechsmonatiger schweizerischer Militärdienst als Oberleutnant des Baseler Infanterieregiments unterbrach die akademische Laufbahn. Für ein Jahr schnupperte His daraufhin von November 1892 bis November 1893 Diplomatenluft in Paris als Attaché an der schweizerischen Gesandtschaft. Dann aber kehrte er an die Universität zurück, zunächst wieder nach Leipzig. Doch bald schon wechselte His nach Heidelberg und suchte dort die Nähe des namhaften Rechtshistorikers Richard Schröder. Schröder wurde auch Betreuer des Habilitationsvorhabens, wenn auch das Thema angeblich auf eine Anregung Rudolf Sohms zurückging21. Am 27. November 1896 schloss Rudolf His sein Habilitationsverfahren ab. „Die Domänen der römischen Kaiserzeit“, seine Habilitationsschrift, erschien noch im selben Jahr im Druck. Mit 117 Seiten war sie eher knapp gehalten, hielt sich aber im zeitgenössischen Rahmen. Der spätere Münsteraner Kollege Heinrich Erman bescheinigte His „eine gründliche, von vielseitigen Studien zeugende Untersuchung“22.
5In den folgenden Semestern blieb His zunächst in Heidelberg. Bis zu seinem ersten Ruf auf einen Lehrstuhl musste er über sieben Jahre warten. Dafür lernte His in Heidelberg die Familie des Botanikprofessors Ernst Pfitzer kennen. Pfitzer war nicht nur Direktor des Botanischen Gartens und Experte für Orchideenzucht23, sondern zugleich Vater von Hedwig Emilie Mathilde Pfitzer. In das sechs Jahre jüngere Fräulein verliebte sich der Privatdozent24, 1898 fand die Hochzeit zwischen Rudolf und Hedwig statt25. Im selben Jahr übernahm His im Zusammenwirken mit Richard Schröder einige Arbeiten für das Deutsche Rechtswörterbuch. Das große Projekt ging gerade an den Start, damals schon aus Drittmitteln der preußischen Akademie gefördert26. Schröder war der Koordinator, Heidelberg der Sitz des Unternehmens. Rudolf His arbeitete bis 1901 für drei Jahre mit. In dieser Zeit erwarb er sich umfassende sprachgeschichtliche Kenntnisse, die für sein späteres wissenschaftliches Werk überragende Bedeutung gewinnen sollten27. Zwischenzeitlich hatte ihn die Universität Heidelberg im Dezember 1900 zum außerordentlichen Professor ernannt. Seit Herbst 1902 erhielt His sodann einen förmlichen Lehrauftrag in Heidelberg28.
6Zum Sommersemester 1904 kam endlich der lang ersehnte Ruf. Weiter entfernt konnte es ihn von Heidelberg aus kaum verschlagen, und so machte His sich auf nach Königsberg in Preußen. Über seinen Schwiegervater konnte His in Königsberg schnell an alte Beziehungen anknüpfen. Eberhard Schmidt irrte sich freilich, als er im Rückblick den jungen Professor His in Königsberg sofort mit seinem früheren Studienfreund, dem Verfassungshistoriker Albert Werminghoff, zusammentreffen ließ29. Werminghoff kam nämlich erst im Oktober 1907 an die Albertina30, nur wenige Monate, bevor His Ostpreußen in Richtung Münster verließ. Der Ruf nach Münster erreichte His zum Sommersemester 1908. An der noch jungen Wilhelms-Universität, die gerade von Wilhelm II. ihren kaiserlichen Namen erhalten hatte, war der rechtshistorische Lehrstuhl neu zu besetzen. Hans Schreuer, der seit 1902 in Münster gewirkt hatte, verließ die Fakultät und wechselte nach Bonn31 an die Seite von Ulrich Stutz. Angeblich hatte es die Chancen von Rudolf His in Münster erheblich vergrößert, dass Schreuer das zwischenzeitlich 1901 erschienene Buch von His zum friesischen Strafrecht im Mittelalter in einer Rezension hoch gelobt hatte32. Jedenfalls waren Schreuer und der vier Jahre jüngere His offenbar kollegial-freundschaftlich verbunden33. Innerhalb Preußens brauchte His als Professor lediglich förmlich versetzt zu werden, und dies geschah zum 10. April 190834. Für 4.400,- Mark jährlich, zuzüglich eines Wohnungsgeldzuschusses von 660,- Mark, trat His den Lehrstuhl für deutsche Rechtsgeschichte, bürgerliches Recht, Staatsrecht, Völkerrecht und Handelsrecht an. Die Fakultät kam ihm offenbar stark entgegen, denn His begann seine Tätigkeit gleich mit einem Freisemester35. Für die noch recht junge rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät in Münster handelte es sich um die erste Neubesetzung eines Ordinariats36. Äußerlich verliefen die ersten Jahre in Westfalen ruhig. Doch während dieser Zeit wuchs die im Frühjahr 1900 geborene Tochter Irmgard His heran37. Sie sollte das einzige Kind von Rudolf und Hedwig His bleiben.
7In Münster gewann Rudolf His kurze Zeit später seinen namhaftesten Schüler. Erich Molitor, Sohn des Direktors der Universitätsbibliothek, bald darauf Schwiegersohn des Universitätskurators, wurde 1910 mit einer Arbeit über den Sachsenspiegel promoviert38. 1914 erfolgte die Habilitation von Molitor39, feierlich abgeschlossen mit der Antrittsvorlesung als Privatdozent am 7. Mai 191440. Erst 1922 erhielt Molitor seine erste ordentliche Professur in Leipzig. Volle zehn Jahre stand His also mit Erich Molitor in engem persönlichem Austausch. Doch in Leipzig wandte sich Molitor schwerpunktmäßig dem Privatrecht, insbesondere dem Arbeitsrecht zu, wenn er auch später in Greifswald wieder rechtshistorisch tätig wurde41. Weitere Habilitationen scheint Rudolf His nicht betreut zu haben.
8Mit Beginn des Ersten Weltkrieges spürte His den Spagat, den er als Schweizer Staatsangehöriger und preußischer Beamter zu bestehen hatte42. Schon am 17. August 1914 schrieb Rudolf His an den preußischen Unterrichtsminister. Er erbat seine Freistellung von den universitären Pflichten, da er als Schweizer Bürger seinen schweizerischen Militärdienst beim Grenzschutz ableisten wollte43. Doch damit scheiterte er. Man entband ihn zwar von seinen Dienstaufgaben, setzte ihn jedoch im Deutschen Heer ein. Aufgrund seiner guten Sprachkenntnisse musste His als Oberleutnant in der Postprüfstelle eines Gefangenenlagers arbeiten. Das Gefangenenlager II (Rennbahn) in Münster bestand aus über 40.000 Kriegsgefangenen (1916). Bis März 1918 hatte His die Aufgabe, ausgewählte Gefangenenbriefe zu kontrollieren. Sein Lehrdeputat nahmen andere wahr, unter anderem im Wintersemester 1917/18 ein Privatdozent Heinrich Glitsch aus Leipzig44.
91920 erhielt His einen Ruf an die Universität Frankfurt am Main. Großes Interesse, das westfälische Münster zu verlassen, zeigte er aber nicht. Dem Dekan schrieb er: „Vertraulich teile ich Ihnen mit, dass meine Neigung, in Münster zu bleiben, wesentlich verstärkt würde, wenn das Ministerium mir finanziell entgegenkäme und mir einen erhöhten Kolleggeldsatz gewährleisten würde, wie dies bei einigen unser Kollegen der Fall ist.“45 Die Bleibeverhandlungen verliefen erfolgreich, und His lehnte den Ruf nach Frankfurt ab. Ohnehin hatte die Universität trotz der beginnenden Inflation den ersten Band seines „Strafrechts des deutschen Mittelalters“ mit einem Druckkostenzuschuss in Höhe von 4.000,- Mark gefördert46.
10Über His‘ Wirken als universitärer Lehrer und Prüfer geht aus den Quellen nur wenig hervor. Kurios erscheint freilich eine Episode, die His für knapp zwei Jahre stark beschäftigte47. Als Prüfer im ersten juristischen Staatsexamen hatte His im Wintersemester 1922/23 den Rechtskandidaten Paul Geusen geprüft. Dieser war vor dem Oberlandesgericht Hamm durch die Prüfung gefallen und begann nun, mit wilden Behauptungen seinen Prüfer His zu verunglimpfen. His habe ihn von Anfang an durchfallen lassen wollen, meinte Geusen, er habe die persönliche Herabsetzung des Prüflings bezweckt, und er habe sich sogar über ihn lustig gemacht, indem er Geusens Opfer für Deutschland als Frontsoldat verhöhnt habe. In solchen Angelegenheiten verstand Rudolf His offenbar keinen Spaß. Auf dem Dienstweg spannte er zahlreiche vorgesetzte Behörden ein und erzielte im Februar 1923 seinen ersten Erfolg. Das preußische Wissenschaftsministerium ersuchte den Oberstaatsanwalt in Dortmund, ein Strafverfahren gegen Geusen wegen Beleidigung einzuleiten. Dies geschah auch. Doch das Amtsgericht konnte in der Empörung des erfolglosen Studenten keine Straftat erkennen und sprach Geusen frei. Daraufhin legte die Staatsanwaltschaft im Januar 1924 Berufung ein, aber auch das zweitinstanzliche Verfahren endete mit einem Freispruch. Das wollte der Staatsanwalt nicht auf sich sitzen lassen und ging im September 1924 in die Revision. Schließlich, nach nur zwei Monaten, wies das Oberlandesgericht die Revision zurück. In diesem Zusammenhang sind mehrere Stellungnahmen von His überliefert. Sie zeigen ihn im verbissenen und kleinlichen Kampf gegen einen empörten Studenten. Gegenüber dem Universitätskurator Peters, dem Schwiegervater seines Schülers Erich Molitor, unterstützte His die harte Linie der Staatsanwaltschaft und wollte die Vorwürfe Geusens nicht auf sich sitzen lassen. Ob er damit dem üblichen Selbstverständnis der alten Ordinarienuniversität entsprach oder in derartigen Dingen ganz besonders empfindlich war, lässt sich nicht mehr feststellen.
11Das Ansehen von His innerhalb der Münsteraner Universität scheint in der Weimarer Zeit deutlich gestiegen zu sein. 1928, im selben Jahr, als His seine „Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina“ vorlegte, wurde er zum Rektor der Wilhelms-Universität gewählt, wie damals üblich für die knapp bemessene Spanne von einem Jahr. Kurioserweise war zur selben Zeit Wilhelm His, Rudolfs sieben Jahre älterer Bruder, Rektor der Universität Berlin. Er bekleidete dort eine Professur für Innere Medizin48. In seiner Münsteraner Rektoratsrede über den Totenglauben in der Geschichte des germanischen Strafrechts bewegte sich Rudolf His „auf Grenzgebieten von Volkskunde, Rechtsgeschichte und Religionsgeschichte“49. Mit diesem Grenzgang zwischen Recht und Religion nahm His unter ganz anderen Vorzeichen ein Thema vorweg, dass viele Jahrzehnte später die geisteswissenschaftliche Zusammenarbeit im Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ prägen sollte.
12Die spätere Rolle von His in der Fakultät und seine Haltung zum beginnenden Nationalsozialismus sind schwer einzuschätzen. Die Personalakte enthält einen Beschwerdebrief von His vom April 1932 an die Fakultät. Ohne ihn zu benachrichtigen, hatte man eine konkurrierende Veranstaltung parallel zu seiner Vorlesung Verwaltungsrecht gelegt, und jetzt fürchtete er um den Besuch seines eigenen Auditoriums50. Ob es sich um ein Versehen oder um Absicht handelte, bleibt unklar. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung mehren sich undeutliche Hinweise darauf, dass His möglicherweise angeeckt sein könnte. So scheint Hubert Naendrup, wie His Rechtshistoriker in Münster, gleich 1933 versucht zu haben, den nationalsozialistischen Gauleiter von Westfalen-Süd, Josef Wagner, zum Ehrendoktor der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät zu ernennen. Naendrup, der 1933 zum Rektor aufstieg, war genau auf dem Weg in dieses Amt von Wagner unterstützt worden und wollte sich bei seinem Förderer jetzt offenbar bedanken. Doch scheint es mit der Ehrendoktorwürde Schwierigkeiten gegeben zu haben. Mehrere Entwürfe sind vorhanden, die Verleihung ist nicht nachweisbar. Von His selbst, damals Dekan und Mitglied im Senat51, stammt der Aktenvermerk „nicht annehmen dürfen“52. Hatte es um diese Würdigung einen Streit zwischen der Fakultät und dem Rektorat gegeben? Undurchsichtig erscheint auch ein zweiter Vorgang: Im Oktober 1933 „empfahl“ Rudolf His in seiner Rolle als Dekan dem bereits entlassenen jüdischen Kollegen Ernst Isay, künftig keine Vorlesungen mehr abzuhalten53. Ob er sich hierbei lediglich an eine ministerielle Verfügung hielt oder damit seinen eigenen politischen Standpunkt bekundete, bleibt ebenso diffus wie ein weiterer Konflikt vom beginnenden Jahr 1934.
13Rudolf His hatte seine Sommerferien oft in Graubünden verbracht und reiste fast jährlich noch nach Basel54. So war er auch in den Weihnachtsferien 1933/34 nach Basel gefahren und hatte sich bei Glatteis Anfang Januar 1934 die Kniescheibe gebrochen. Jetzt lag er im Krankenhaus und setzte sich in Briefen an seinen Kollegen Neuwiem mit Querelen in der Fakultät auseinander. Die Einzelheiten bleiben verschwommen. Die Kollegen Lienhardt und Eduard Willeke hatten sich jedenfalls über His beschwert, weil er sie von bestimmten Kommissionsberatungen ausgeschlossen hatte. His beharrte auf seinem Standpunkt. Er gestand seinen Kritikern lediglich Sondervoten, aber keine Mitwirkung in der fraglichen Kommission zu55. Zwei Monate später beschwerte sich der „Führer der Dozentenschaft“ über His, der zu dieser Zeit immer noch das Dekansamt bekleidete. Abermals ging es um den bereits erwähnten Willeke, diesmal gab es Streitereien um eine venia legendi. Im Februar 1933 hatte die Fakultät Willeke habilitiert und ihm die Lehrbefugnis für Staatswissenschaften erteilt56. Offenbar hatte die neue Auseinandersetzung mit einer Assistentenstelle für einen Dozenten Brenneisen aus Königsberg zu tun. Doch ist die einschlägige Akte nicht mehr vorhanden57. Was diese Misshelligkeiten zu bedeuten hatten, lässt sich nicht mehr ermitteln.
14Im September 1934 leistete His sodann den Treueeid auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler58. Die schweizerische Familiengeschichte der Familie His betont, Rudolf His sei bis zuletzt ein Nationalliberaler geblieben59. Hubert Naendrup, der Fakultätskollege, gestand zwar zu, His habe „nicht mehr das rechte Verständnis“ für den Nationalsozialismus gewinnen können. Doch durch die Art seiner strengen Pflichterfüllung habe er tatsächlich die „Ideale des Nationalsozialismus“ unmittelbar und vollkommen erfüllt60. Vielleicht wollte Naendrup in seiner 1941 erschienenen Würdigung Rudolf His nachträglich als Mitkämpfer vereinnahmen. An Quellen belegbar ist das angebliche Näheverhältnis von His zum nationalsozialistischen Gedankengut jedenfalls nicht. Auch andere politische Andeutungen Naendrups sind in ihrem Quellenwert unklar. Angeblich soll Rudolf His „Trauer und Empörung“ gezeigt haben, als 1918 das Kaiserreich unterging. Ein „Feind der schwarz-rot-goldenen Internationale“ sei er geworden, und die Farben der Weimarer Republik habe er in Vorlesungen als „schwarz-rot-gelb“ bezeichnet61. In der Tat hatte es seit den 1920er Jahren Witze über die deutschen Nationalsymbole gegeben. Ob Gelb, Mostrich, Pisse oder Scheiße – die goldene Farbe der demokratischen Deutschlandfahne war für viele ein Dorn im Auge. Sogar der Reichspräsident Paul von Hindenburg soll von Schwarz-Rot-Senf gesprochen haben62. Ob His sich in diese Gruppe einreihte, ist dennoch zweifelhaft. Hubert Naendrup, der begeisterte Nationalsozialist, verfasste seine Lebenswürdigung von His 1941, als er mit solchen Sprüchen auf politische Zustimmung hoffen konnte. Inwieweit sich der Schweizer Rudolf His, dem zahlreiche Nachrufe ein eher stilles Wesen bescheinigten, als Kämpfer gegen die deutsche Demokratie verstanden hat, lässt sich allein aufgrund einer nationalsozialistischen Verzerrung nicht klären. Wenn eine neuere Untersuchung eine Brücke von His zur Unterscheidung von „Vaterland“ und dem „System von Weimar“ schlägt63, ist das jedenfalls gewagt.
15Ein anderer Punkt jedoch verdient Beachtung. Nachdem His seine Altersgrenze erreicht hatte, schob das Ministerium im Mai 1935 seine Entpflichtung hinaus. Erst Ende März 1936 ging His in den Ruhestand, vertrat danach als Emeritus aber noch für ein weiteres Jahr seinen ehemaligen Lehrstuhl. In dieser Lage schrieb der neue Dekan Erhard Neuwiem64 an das Reichs- und preußische Ministerium für Wissenschaft. Er verneinte die Notwendigkeit, den ehemaligen Lehrstuhl His wiederzubesetzen. Die Rechtsgeschichte, so Neuwiem, sei hinreichend abgedeckt durch die Professoren Hugelmann, Naendrup, Schumann und Hallermann, auch die anderen von His gelehrten Fächer bürgerliches Recht, Handelsrecht, Staatsrecht und Völkerrecht könnten problemlos unterrichtet werden. Recht unverhohlen regte der Dekan an, den rechtshistorischen Lehrstuhl in eine dritte Professur für Nationalökonomie umzuwandeln65. Einer solch spröden Quelle wie einer Personalakte lassen sich die genaueren Hintergründe nicht entnehmen. Bekanntlich sank die Studentenzahl während der nationalsozialistischen Zeit deutlich66, und vielleicht gab es tatsächlich in Münster keinen Bedarf, einen juristischen Lehrstuhl zu behalten. Angesichts des wissenschaftlichen Ansehens, das His sich im Laufe von über drei Jahrzehnten erarbeitet hatte, wirkt es aber dennoch erstaunlich, mit welcher Gleichgültigkeit die Fakultät seine Stelle sehenden Auges streichen ließ. Erst 1935 hatte Rudolf His den zweiten Band seines großen „Strafrechts des deutschen Mittelalters“ vorgelegt, und die Ersatzleute, die der Dekan dem Ministerium empfahl, konnten His als Rechtshistoriker wissenschaftlich nicht im entferntesten das Wasser reichen. Falls es sich also wirklich um einen schweren Schlag für die Fakultät handelte, dass der Lehrstuhl von His mehrere Jahre vakant blieb und erst 1941 kurzfristig mit George Anton Löning besetzt wurde67, hatte der Fachbereich diese Situation doch gleichgültig, wenn nicht sogar willentlich herbeigeredet.
16Vor diesem Hintergrund verlieren einige Nachrufe, die dieselben Fakultätskollegen kurze Zeit darauf verfassten, viel von ihrem mitleidsvollen Ton. Am 22. Januar 1938 verstarb Rudolf His, der Schweizer Gelehrte, in Münster im Alter von 67 Jahren. Jetzt setze die übliche hektische Betriebsamkeit ein. Schon am 23. Januar notierte der emeritierte Kollege Paul Krückmann: „His zählt unter die feinsten juristischen Köpfe Deutschlands.“68 Die Münsterische Zeitung und der Münsterische Anzeiger brachten Nachrufe. Dafür zahlte die Fakultät 52,50 Reichsmark. Zusätzlich orderte der Dekan bei der Blumenhandlung Kray einen Kranz mit Schleife für die Beerdigung im Wert von 10,- Reichsmark. Dummerweise verstieß Max Kaser69, der seinerzeitige Dekan, damit gegen eine Richtlinie des Ministeriums. Aus Staatsmitteln durfte nämlich entweder nur der Nekrolog oder der Kranz bezahlt werden, nicht jedoch beides gleichzeitig. Mit „Umlauf“ vom 27. Januar 1938 erhob der Dekan daher eine Umlage von 4,45 Reichsmark pro Hochschullehrer70. Bei der Trauerfeier schilderten der Rektor der Universität, der stramm nationalsozialistische Botaniker Walter Mevius71, und der Dekan Max Kaser die Verdienste von His um die Universität und die Studentenschaft. Hubert Naendrup übernahm die Aufgabe, His als Wissenschaftler zu würdigen72. Naendrup versuchte es wie erwähnt, Rudolf His eine geistige Nähe zum Nationalsozialismus zuzusprechen73. Doch ob dies sachlich berechtigt war oder ob der begeisterte Nationalsozialist Naendrup hierbei über das Ziel hinausschoss, bleibt unklar. Nationalsozialistische Äußerungen hat His selbst jedenfalls nicht hinterlassen74.
17Einige wenige Schlaglichter reichen bis in die 1950er Jahre. Hedwig His, die Witwe, blieb zusammen mit ihrer Tochter im Haus der Familie in der Dechaneistraße 26 wohnen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebte sie für längere Zeiträume in der Schweiz. Deswegen gab es 1948/49 mehrfach Auseinandersetzungen über die Zahlung der Witwenpension. Als Hedwig His 1953 starb, sandte der damalige Dekan Harry Westermann ein Kondolenzschreiben an die Tochter Irmgard His75. Der Kontakt zur Familie hatte sich also zumindest locker gehalten. Doch das Schicksal der Tochter wirft einen fahlen Schein auf die Familie His. Sie blieb unverheiratet, in ihrer Generation freilich keine Seltenheit, und lebte jahrelang gemeinsam mit ihrer betagten Mutter im elterlichen Haus. Als Bibliothekarin hatte sie seit 1941 in Straßburg gearbeitet76, kehrte aber wohl mit dem Kriegsende nach Münster zurück und war hier in den 1950er Jahren arbeitslos. Nach dem Tode der Mutter musste Irmgard His 1953 sogar die Beihilfe in Anspruch nehmen, weil sie nicht in der Lage war, die Kosten der Beerdigung selbst zu bezahlen77. Nähere Einblicke erlauben die Personalakten nicht. Aber die Erfolge, die Rudolf His als Wissenschaftler beschieden waren, blieben ihm privat möglicherweise versagt.
II. Das wissenschaftliche Werk
18„Die Zahl seiner Schriften mag gering erscheinen.“78 Mit diesem knappen Hinweis begann Eberhard Schmidt in seinem Nachruf auf Rudolf His, das wissenschaftliche Lebenswerk des Münsteraner Rechtshistorikers zu würdigen. Doch ist es wenig hilfreich, wissenschaftliche Leistungen allein an der Menge der veröffentlichten Werke zu messen, wie Schmidt selbst 1941 auch ohne weiteres zugestand. Immerhin: Eine siebenseitige Übersicht über das gesamte Schaffen hat sich in der Münsteraner Universitätsbibliothek erhalten79. Doch viel wichtiger sind die Originalität der Themen und der eingeschlagene methodische Weg. His gehörte wie zahlreiche seiner Generationskollegen zu denjenigen Professoren, die auch nach ihrer Habilitationsschrift weiterhin Bücher verfassten. Vielleicht waren es bei ihm nicht so viele Monographien wie bei anderen, und zudem legte er keine großen Lehrbücher vor. Doch vor allem mit drei eng verbundenen Schriften ist er in Erinnerung geblieben. Die zwei Bände seines „Strafrechts des deutschen Mittelalters“ von 1920 und 1935 sowie dazwischen die „Geschichte des deutschen Strafrechts seit der Karolina“ stellen große und bleibende Leistungen der deutschen Strafrechtsgeschichte dar. Will man His als Rechtshistoriker in seiner Zeit verorten, kommt es in erster Linie auf diese Werke an.
19Das Schriftenverzeichnis von Rudolf His umfasst 28 Beiträge und 37 Rezensionen80. Darunter befindet sich die Ankündigung seiner Probevorlesung als Privatdozent in Heidelberg von 1896 ebenso wie die ungedruckte Dissertation. Doch mit der Habilitationsschrift, dem friesischen Strafrecht, dem zweibändigen deutschen Strafrecht und der Handbuchmonographie liegen gedruckt immerhin fünf eigene Bücher vor. Die Aufsätze zu mittelalterlichen Themen, oftmals veröffentlicht in der einschlägigen Savigny-Zeitschrift, erreichten mehrfach Ausmaße von 80 bis 90 Seiten. Auch einige Miniaturen traten hinzu, darunter echte Skurrilitäten. So verfasste His 1919 einen lediglich einseitigen Beitrag zum Sprichwort „Bauer, hast du Geld“. Hier behauptete er, der angeblich aus dem schweizerischen Frei- und Kelleramt stammende Liedvers sei tatsächlich vom Münsteraner Lambertussingen entlehnt und werde alljährlich am 17. September von Kindern in Münster gesungen81. Solche volkskundlichen Nebenstunden82 fügen in das oft strenge strafrechtshistorische Werk erstaunlich humorvolle Farbtupfer, so etwa auch eine Anfrage zur „Meise im Volksglauben“ von 1924. Zu spezifisch Münsteraner oder westfälischen Themen äußerte sich Rudolf His wissenschaftlich aber lediglich dreimal. Die 37 Buchbesprechungen, 29 davon in der Savigny-Zeitschrift, umspannen zumeist die engeren wissenschaftlichen Interessen. In sieben Fällen rezensierte His französische Werke, dreimal auch niederländische Bücher. Gelegentlich finden sich hier helvetische Kuriositäten. So freute sich Rudolf His sichtlich 1905 bei einer Doppelrezension zweier volkskundlicher Bücher von Friedrich Gottlieb Stebler darüber, dass er inmitten der rechtshistorischen Savigny-Zeitschrift Schweizer Brauchtum präsentieren konnte: „Höchst anschauliche Natur- und Sittenbilder“ pries er in höchsten Tönen und war gespannt „auf die versprochene Schilderung des weltabgeschiedenen Lötschtales“83. Doch solche Augenzwinkereien finden sich im His’schen Werk nur spärlich. Ganz im Zentrum stand der strenge, philologisch-dogmatische Zugang zur Strafrechtsgeschichte. Hier erreichte His seine tiefsten Erkenntnisse.
1. Das Strafrecht des deutschen Mittelalters
201920 veröffentlichte Rudolf His „Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Teil 1: Die Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen“. Pünktlich zu Pfingsten 1920 legte His den Stift aus der Hand, unterzeichnete das Vorwort und widmete das fertige Buch seinem hochbetagten ehemaligen Lehrer Andreas Heusler. Entstanden ist dieses Werk in langjährigen Vorarbeiten. Schon um 1900 übernahm His die Aufgabe, für das „Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte“ einen Teilband zum deutschen Strafrecht bis zur Constitutio Criminalis Carolina beizusteuern84. Dieses Handbuch, wissenschaftlich verantwortet und herausgegeben von Georg von Below und Friedrich Meinecke85, versammelte seit 1903 Überblicksdarstellungen aus verschiedenen historischen Disziplinen, die großenteils auf langen Quellenstudien beruhten, aber doch schlank gehalten und gut lesbar waren86. His stand insofern vor einem Dilemma. Mit großem Schwung hatte er das Material gesichtet und Quellen gesammelt. Aber der vorgegebene Rahmen erlaubte es ihm nicht, seine zahlreichen Ergebnisse in das Below-Meineckesche Handbuch ernsthaft einzubringen. Deswegen entschloss er sich zu einem Kompromiss. Er verschob die Fertigstellung des geplanten Handbuchbeitrages und gliederte die fundierte quellenmäßige Darstellung als eigenes Werk aus. Der Allgemeine Teil des mittelalterlichen Strafrechts, dessen Text His 1919 weitgehend abschloss, war insofern von vornherein als eigenständiges Buch angelegt. Die letzten Jahre der Ausarbeitung standen dabei im Schatten des Weltkrieges. Wegen seiner Tätigkeit im Gefangenenlager Münster musste His die Niederschrift sogar für drei Jahre unterbrechen. Und nach dem Waffenstillstand hinderten ihn die insgesamt schwierigen Verkehrsverhältnisse, letzte Studien im Archiv des Deutschen Rechtswörterbuchs in Heidelberg vorzunehmen. Auch die Druckkosten bereiteten ihm Probleme. Ein schweizerischer Vetter half aus, Eduard His-Schlumberger. Ebenso steuerte die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät in Münster ihr Scherflein in Höhe von 4.000,- Mark aus Ministeriumsmitteln bei. Die 670 Seiten, die His im Böhlau-Verlag Weimar veröffentlichte, sprachen dennoch für sich.
21In der entstehenden Historischen Rechtsschule hatte die Strafrechtsgeschichte zunächst nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Die geschichtliche Rückbindung des gewachsenen Rechts war sowohl für die Germanisten als auch für die Romanisten in erster Linie eine Traditionslinie, die das bürgerliche Recht und seine Nebengebiete wie beispielsweise das Handelsrecht betraf. Im Strafrecht gab es schon viel früher Kodifikationen, etwa 1813 in Bayern, 1840 in Hannover und 1851 in Preußen87. Die historische Forschung entfaltete hier also erheblich geringere rechtsdogmatische oder rechtspolitische Bedeutung88. Es verwundert also nicht, wenn die erste große Gesamtdarstellung zur Strafrechtsgeschichte erst 1842 erschien89. Wilhelm Eduard Wilda90 legte den ersten Band seiner mehrteilig geplanten „Geschichte des deutschen Strafrechts“ vor. Das Werk blieb unvollendet, das „Strafrecht der Germanen“ erhielt keine Nachfolgebände. Wilda stand hierbei ganz im Bann eines germanischen Urrechts, das er aus der Zusammenschau nordischer und einheimischer Quellen erschließen wollte91. Um eine zeitlich übergreifende Darstellung ins deutsche Mittelalter oder gar bis in die Neuzeit hinein handelte es sich bei ihm nicht. Dafür gab Wilda der späteren Forschung ein Gerüst an die Hand, das lange verbindlich bleiben sollte. Nach einigen Abschnitten zu Friedlosigkeit, Bußenstrafrecht, öffentlichen Strafen und zur Christianisierung unterschied er der Sache nach allgemeine Lehren von der näheren Behandlung einzelner Missetaten. So finden sich in Wildas Werk größere Kapitel zu Vorsatz, Versuch, Täterschaft und Teilnahme, zu Minderjährigkeit und anderem, aber dann auch zu Tötungsdelikten, Ehrverletzungen bis hin zu Diebstahl, Gebrauchsanmaßung, Meineid und Landesverrat92. Diese an modernen Kategorien gewonnene, im Kern mehr oder weniger dogmengeschichtliche Darstellungsweise findet sich acht Jahrzehnte später weitgehend unverändert auch bei Rudolf His93.
22Mindestens drei größere Werke nahmen die Anregungen von Wilda auf: die „Deutsche Rechtsgeschichte“ von Heinrich Brunner und auch das Lehrbuch von Richard Schröder sowie die „Geschichte des deutschen Strafrechts“ von Ludwig von Bar. 1882 veröffentlichte der Göttinger Professor Ludwig von Bar seine „Geschichte des deutschen Strafrechts“, wie im Falle Wildas auf mehrere Bände angelegt und unvollendet geblieben. Beherzt versuchte von Bar eine Gesamtdarstellung über einzelne Regionen und Zeiten hinweg94. Zunächst griff er über den engeren deutschen Bereich hinaus und malte fünf Epochenbilder vom römischen Recht bis zur Zeit seit der Rezeption95. Dann waren es die Strafrechtstheorien, die er ebenfalls umfassend abhandelte. Für Ludwig von Bar ging es dabei immer auch um die Entstehungsgeschichte von Rechtsquellen und um historisch abgegrenzte Zeiten, nicht aber um dogmenhistorische oder begriffliche Genauigkeit. Der große Bogen endete erst im 19. Jahrhundert mit Feuerbachs bayerischem Strafgesetzbuch, der Paulskirchenverfassung und dem Reichsstrafgesetzbuch mitsamt ersten Überarbeitungen96. Doch das Ergebnis blieb zwiespältig. Zeitgenossen wie Richard Loening97 hatten Zweifel an Ludwig von Bars Untersuchung. Ob die zeitgenössische Quellenerschließung, die in zahlreichen Urkundenbüchern und anderen Großvorhaben auf vollen Touren lief, auf breiter Linie schon weit genug vorangeschritten war, um den Boden einer verlässlichen Gesamtdarstellung bieten zu können, erschien unklar. Loening meinte: „So glaube ich denn auch nicht, daß aus einer derartig unfundierten Geschichte ein irgend erheblicher Nutzen für die Erkenntnis, insbesondere für die Konstruktion des heutigen Strafrechts gewonnen werden kann.“98.
23Viel erfolgreicher als von Bars Versuch wurden deswegen einige Jahre später die gedrängten strafrechtlichen Überblicke in den großen Lehrbüchern. Zusammenfassend, aber quellenfundiert, stellten etwa Heinrich Brunner99 und Richard Schröder das ältere deutsche Strafrecht in ihren Großlehrbüchern zur deutschen Rechtsgeschichte dar. Bei Brunner beschränkte sich die Darstellung freilich auf die germanische Zeit und auf das Frühmittelalter, hier freilich weiträumig und umfassend aus den Quellen geschöpft100. Deshalb diente Brunners Stoffordnung späteren Strafrechtshistorikern oftmals als Vorlage, so auch Rudolf His. Richard Schröder, dessen Lehrbuch seit 1889 in mehreren Auflagen erschien, lieferte ebenfalls eine Skizze zum mittelalterlichen Strafrecht. Doch selbst in der letzten von Schröder besorgten Auflage von 1919 handelte es sich um weniger als 20 Seiten101. Kleinere Versuche traten hinzu, etwa eine seinerzeit bekannte Dissertation zum Strafrecht des Sachsenspiegels102. Rudolf His hatte den Boden für sein Werk von 1920 zu einem großen Teil selbst bereitet mit seinem „Strafrecht der Friesen im Mittelalter“ von 1901. Zwei Jahrzehnte später ging es ihm um die räumliche Ausweitung.
24Das große Werk von Rudolf His gibt sich betont bescheiden. Ulrich Stutz lobte ausdrücklich den stillen Fleiß und vor allem „das wundervolle, in schlichter, aber gewandter und lesbarer Darstellung vor dem Leser geschickt ausgebreitete (…) Quellenmaterial“103. Das Vorwort ist knapp gehalten, und auch die Einleitung kümmert sich wenig um den Forschungsstand und um die methodische Grundlegung. Typisch für His ist der unvermittelte Beginn mit dem Abschnitt „Die Quellen“104. In der Tat stellt nämlich die Sammlung und systematische Zusammenschau der ganz verschiedenen Quellen zum mittelalterlichen Strafrecht die wesentliche wissenschaftliche Leistung von His dar. Eine „eigentlich geschichtliche Darstellung“105 beabsichtigte er nicht. Es ging also nicht um den Brückenschlag von der Völkerwanderungszeit bis zum Ewigen Landfrieden, um die Ablösung des Fehde-Rache-Wesens bzw. des Kompositionensystems durch das peinliche Strafrecht oder gar um Kriminalität und ihre Bekämpfung in mittelalterlicher Zeit. Vielmehr führte die minutiös und streng systematisierende Stoffanordnung zu einer weitgehend dogmatisch rekonstruierenden Abhandlung. Freilich kannte das ungelehrte mittelalterliche Recht abseits der gelehrten Strafrechtswissenschaft gar keine ausgefeilte Dogmatik oder gar scharfe Begriffsbildung. Deswegen haftet His‘ Darstellung teilweise etwas unwirklich Anachronistisches an. Wenn er über Gottes- und Landfrieden, Stadt- und Dorffrieden schreibt, scheint es sich hierbei um die Grundlegung mittelalterlicher Friedensvorstellungen zu handeln106. Doch je übergreifender die Gesichtspunkte waren, die His den allgemeinen Lehren des mittelalterlichen Rechts entnehmen zu können glaubte, desto farbloser geriet sein Werk, und dies trotz kleinteiligster und bunter Quellennähe. Unter dem Kapitel „Begriff und Arten der Missetat“ findet sich etwa folgender Absatz: „Von den zahlreichen deutschen Ausdrücken bezeichnen Missetat (fries. misdele, mndl. misdaet, mesdaet, mnd. misdat, mhd. missetat) oder Untat (fries. ondede, mnd. ondât, mhd. untat) die unglückliche oder die schlechte Tat, während bei Übeltat (fries. ewele dede, mndl. eveldaet, mnd. oveldat, mhd. übeltât) wohl nur die letztere Bedeutung in Frage kommt. Als Verstoß gegen die Normen des Rechtes und der Sitte heißt das Vergehen in den Quellen des Mittelalters Unrecht, Ungericht oder Unfug, Unzucht. Von diesem Namen wird Ungericht (mnd. ungerichte, mhd. ungerihte) vorwiegend von schweren, Unrecht, Unfug (mnd. unvoch, ungevoch, mhd. unfuoge f.), Unzucht (mhd. unzucht) besonders von leichteren Fällen gebraucht. (…) Die subjektive Seite des Verbrechens bezeichnet ahd. fravali, mhd. frevel, ursprünglich soviel wie Kühnheit, Verwegenheit, Frechheit.“107 In den Fußnoten tauchen massenhaft Literaturhinweise auf, teilweise mit zitierten Quellenbelegen aus den mittelalterlichen normativen Texten.
25Textauszüge wie diese verdeutlichen die Arbeitsweise von His in seinem „Strafrecht des deutschen Mittelalters“ besonders gut. Bei aller Quellenkenntnis ging es ihm auch immer darum, ein spezifisches Problem sprachlich auf den Punkt zu bringen. Etymologisch geschult, wie er seit der Mitarbeit am „Deutschen Rechtswörterbuch“ und der Beschäftigung mit der altfriesischen Rechtsgeschichte war, versuchte His, den juristisch harten Kern der mittelalterlichen Sprache freizulegen. Untat, Übeltat, Unrecht und Unfug ließen sich auf diese Weise voneinander abgrenzen. Die geographischen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den Regionen und Jahrhunderten verblassten demgegenüber. Die Ähnlichkeiten und Vorstufen zum modernen Strafrecht konnte His auf diese Weise deutlich herausarbeiten und mit Belegstellen unterfüttern. Aber der grundsätzlich andere Charakter des mittelalterlichen Rechts blieb ihm genau deswegen vielfach verschlossen. Eberhard Schmidt sprach in seiner Besprechung von 1920 die „mir eigenartig erscheinende Methode des Verfassers“ kritisch an108. In der Tat: Eigenmächtige Gewalt, Selbsthilfe, aber auch Aussöhnung sind Bereiche, die in His‘ Werk nur am Rande erscheinen.
26Immerhin schob His zwischen einen längeren Abschnitt „Die Missetat“ und einen großen Teil „Das Strafensystem“ zwei Kapitel über Fehde und Sühne ein, angelehnt an das Vorbild von Heinrich Brunners Lehrbuch. Freilich hatte Brunner nur die germanische und fränkische Zeit behandelt, dies sogar getrennt nach zwei Halbbänden. His dagegen wandte die Brunnersche Methode für einen erheblich längeren Zeitraum von 1500 Jahren an und musste sich damit noch deutlicher von den Eigenheiten der jeweiligen Epochen entfernen109. So spielt auch im Mittelabschnitt seines Buches die historische Verortung eher eine Nebenrolle. Auf nur einer Seite geht es um die „bedeutende Ausdehnung“ der mittelalterlichen Fehde gegenüber den angeblich stark befriedeten Zuständen der fränkischen Zeit. Doch unmittelbar nach diesem winzigen Vorspann konzentriert sich His ganz auf die zeitgenössische Bezeichnung der Fehde sowie auf den normativ abgesteckten Kreis der beteiligten Personen110. Sodann beschreibt His die Zulässigkeit der Fehde111, daran anschließend ihre Einschränkungen112, gegliedert „in direkte und indirekte Mittel“113. Wenn dann auf den letzten zwei Seiten des Kapitels die Rechtswirklichkeit auftaucht, ist der Leser nach langer und detailgenauer Auflistung einzelner Quellen erstaunt zu erfahren: „Natürlich haben alle diese Fehdeverbote zunächst keinen vollen Erfolg gehabt.“114 An Stellen wie diesen blickt His durchaus in die Neuzeit bis hin zu Schweizer Rechtsquellen aus dem 17. Jahrhundert: „Die allmähliche Schwächung des Sippenbandes und das Erstarken der Staatsgewalt haben schließlich auch hier“, also in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, „zum Untergang des alten Racherechts geführt“115. Solche übergreifenden und zusammenfassenden Sätze besitzen in His‘ Darstellung Seltenheitswert. Eberhard Schmidt hat dies auf den Punkt gebracht: „Es lag ihm nicht, als wissenschaftliches Werk eine Arbeit hinausgehen zu lassen, in der er der Phantasie gestattet hätte, sich der Quellen zu bemächtigen und ein Entwicklungsbild zu gestalten, das den Beschauer von der Einzelheit quellenmäßigen Ursprungs ab- und auf ein Ganzes hingelenkt hätte.“116
27Die Desiderate lagen schon für die Zeitgenossen auf der Hand. Das „entwicklungsgeschichtliche, genetische Moment“ kam zu kurz. Fragen nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts, nach dem Einfluss der Kirche auf die Strafrechtsvorstellungen, zum Verhältnis von Schuld- und Erfolgshaftung, zum Kampf gegen das mittelalterliche Verbrechertum, ja überhaupt zur Einbettung des Rechts in die „Kultur des Volkes“ blieben außen vor. Soweit man Rechtsgeschichte und Rechtsaltertümer gegenüberstellen konnte, verortete Eberhard Schmidt seinen älteren Kollegen His in der rechtsantiquarischen Richtung117. Hubert Naendrup fand in seinem Nachruf ganz ähnliche Worte: His „lehnte Hypothesen und Konstruktionen ab. Ihm kam es auf quellenmässige Tatsachenforschung und Wahrheit an.“118 Walther Schönfeld hat 1929 His zu einem wissenschaftlichen Vertreter der sog. neuen Sachlichkeit gestempelt, „von der so viel heute reden“. Denn „wie ein Gebäude, nach genauestem Plane Stein auf Stein errichtet“, stehe sein strafrechtsgeschichtliches Werk da, „von einer fast ergreifenden Unpersönlichkeit der Sprache, einer eindrucksvollen Kürze und Nüchternheit“. Doch auch Schönfeld, der die Quellenbeherrschung von His neidlos bewunderte, meinte vorsichtig, „daß es der Verf. dem Leser nicht gerade leicht macht, den Wald vor Bäumen zu sehen“119. Auch wenn Schönfeld sich zum Nachfolgewerk von 1928 äußerte, fügt sich seine Einschätzung in die ganz einheitliche Beurteilung von His‘ imposantem erstem Band. Die umfassende Quellenkenntnis und entsagungsvoll-akribische Zusammenstellung dogmenhistorischer Ähnlichkeiten nach dem Ordnungsmuster des geltenden Rechts legte einen Grundstock für alle spätere strafrechtshistorische Forschung. Doch vor einem historisierenden Zugriff auf das Mittelalter hatte His zurückgeschreckt. In diesem Punkt ähnelt die His’sche Darstellung damit den zahlreichen Grundrissen und Handbüchern zum deutschen Privatrecht, die in dieser Zeit weiterhin in größerer Zahl erschienen120. Im deutschen Privatrecht freilich zogen die Bearbeiter beherzt ihre dogmenhistorischen Traditionslinien regelmäßig bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 und schlugen damit teilweise sehr lange historische Bögen über die Jahrhunderte hinweg121. Diesen letzten Schritt ging His bewusst nicht mit. Deswegen betonte Ulrich Stutz, gerade im Verzicht auf jede Konstruktion liege der wesentliche Unterschied von Rudolf His zu den Vertretern des deutschen Privatrechts122. In der Materialfülle und in seiner Selbstgenügsamkeit als Sammler von Rechtsaltertümern ähnelt das Werk von His damit der älteren, aber bis 1899 mehrfach erweiterten Zusammenstellung der deutschen Rechtsaltertümer von Jacob Grimm123. Doch die weitgehende Einbindung von Quellen in die Fußnoten und die stärkere Beachtung von Inhalten und nicht nur der Sprache lassen das Buch von His wesentlich gefälliger und leichter lesbar daherkommen, auch wenn die zeitgenössischen Rezensenten mit ihrem Hinweis auf die schwer verdauliche Kost durchaus den Kern trafen.
28Im seinem zweiten großen Teilband von 1935, der „Die einzelnen Verbrechen“ behandelt, ging His den 1920 eingeschlagenen Weg auch für die mittelalterlichen Vorläufer des besonderen Teiles des Strafrechts weiter. Ohne ein einziges einleitendes Wort geht es auf Seite 1 unmittelbar in § 28 um Gotteslästerung und Meineid124. Eberhard Schmidt merkte an, die Gesichtspunkte, die His zu seiner Gliederung der einzelnen Verbrechen bewogen hätten, blieben unausgesprochen, der Leser müsse sie sich aus den einzelnen Deliktsgruppen selbst erschließen125. Überhaupt: Bei allen Fragen nach dem „Warum“, so Schmidt, „beschränkt sich His leider nur auf Andeutungen“126. Das große Quellenwerk wurde damit zu einer „Fundgrube“, die ein „Ausgangspunkt“ sein müsse für „eine wahrhaft historische Erfassung vom Werden und vom inneren Gehalt der Strafrechtsentwicklung im Mittelalter“127. In der Tat fiel Eberhard Schmidts Bewunderung für den His’schen Sammelfleiß erheblich zurückhaltender, sein Missbehagen über die fehlende geschichtliche Einordnung des Stoffes dagegen deutlicher aus als noch beim ersten Teilband: „Immer von neuem hat sich mir bei der Lektüre des His‘schen Werkes das Bedauern darüber aufgedrängt, daß His die allgemeinen kulturellen und politischen Hintergründe und die in ihnen sich vollziehenden Bewegungen und Entwicklungen so wenig sichtbar macht. Die von ihm in so reichem Maße dargelegten rechtlichen Gegebenheiten erhalten dadurch etwas Zufälliges, und die Kenntnisnahme von all den zahllosen Einzelheiten führt beim Leser nicht eigentlich zu einer Bereicherung und Vertiefung seiner Vorstellungen vom Wesen mittelalterlichen Rechts.“128 Das Wesentliche nämlich fehle, und das sei die Einbettung der Rechtsgeschichte in die Kultur und den Volksgeist129. Insofern zeuge das umfangreiche Werk von His zwar von „meisterhafter Bewältigung“ der Quellen, doch gelinge es nicht, genau diese Quellen zu deuten. Übrig blieben „Zufälligkeiten“130. Viel wohlwollender urteilte dagegen Ulrich Stutz. Über die geschichtsfremde und stark dogmatische Gliederung wollte er „mit dem Verfasser nicht rechten“131. Bei der Darstellung der einzelnen Verbrechen mache der Verzicht auf den geschichtlichen Verlauf nämlich „nicht so viel aus“. Dennoch kritisierte Stutz durchaus die begrifflichen Zuspitzungen, etwa anlässlich der von His aufgerollten Frage, ob das deutsche Mittelalter den Begriff der Unterschlagung gekannt habe132. Im Ergebnis aber überwogen die Anerkennung und Bewunderung des Sammelfleißes und der Quellenbeherrschung, die His „noch gerade vor seinem Eintritt in den Ruhestand“ geleistet hatte.
29In der Tat trieb His seine dogmatische Rückschau im zweiten Teil seines „Strafrechts“ bis in die kleinsten Verästelungen: „Die Merkmale des Diebstahls im engeren Sinne sind noch dieselben, wie in der fränkischen Zeit. Diebstahl ist die bewußt-widerrechtliche heimliche Wegnahme einer fremden beweglichen Sache aus fremdem Gewahrsam in der Absicht der Aneignung“. Nach dieser Definition subsumierte His sodann seine Quellenfunde unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale: „a) Bewegliche Sache (…) b) Fremde Sache (…) c) Die Sache muß in fremdem Gewahrsam stehen. (…) d) Wegnahme (…) e) Bewußt widerrechtlich (…) f) Aneignungsabsicht (…) g) Die Heimlichkeit (…)“133. Danach unterschied His den offenen vom heimlichen Diebstahl, den großen vom kleinen Diebstahl und ging dann auf die Bestrafung ein. Dass keine einzige mittelalterliche Quelle diese Definition kannte, spielte für His‘ methodischen Zugang keine Rolle. An verschiedenen Texten konnte er belegen, dass genau diese Elemente für die mittelalterliche Strafbarkeit von Dieben entscheidend waren. Mehr oder wenig dogmenhistorische Forschungsdefinitionen ersetzten also die Quellen selbst, die oftmals wie der Sachsenspiegel lediglich kurz und knapp besagten: „Den Diep sal man hengen.“ Inwieweit das mittelalterliche deutsche Recht überhaupt ein rechtliches Konzept von Eigentum kannte, erörterte His nicht.
30Der von Rudolf His gewählte Zugriff auf die mittelalterlichen Strafrechtsnormen geht also stillschweigend davon aus, es habe durchaus die Vorstellung eines strafrechtlich bewehrten Rechtsgüterschutzes gegeben. Ein Kapitel „Vergehen gehen die Freiheit“ unterstreicht diesen Ansatz besonders deutlich134. His stellt in diesem Abschnitt äußerliche Handlungen zusammen, die nach moderner Sichtweise die persönliche Freiheit beschränken. Das beginnt ganz handfest mit der Fesselung und unrechtmäßiger Gefangennahme und erstreckt sich dann auf den Verkauf von Kindern an Bettler und Juden. His selbst weist an diesen Stellen darauf hin, dass es in den von ihm gesichteten Quellen zumeist um bestimmte Formen der Kränkung, teilweise auch um Spielarten der Lebensgefährdung ging135. Ein Rechtsgut der persönlichen Freiheit gab es also in mittelalterlicher Zeit gerade nicht. Warum er diese Deliktskategorie für notwendig hielt, um das mittelalterliche ungelehrte Recht zu beschreiben, bleibt deswegen unklar, obwohl His allein seine Überschrift mit 13 Literaturhinweisen unterfütterte. Ganz selten wies His ausdrücklich auf seine wenig quellengerechte Begrifflichkeit hin. Im Abschnitt über die Blutschande betonte er, „der Ausdruck ist jung und begegnet im heutigen Sinne erst bei Luther“136.
31His betrieb also mittelalterliche Strafrechtsdogmatik des ungelehrten einheimischen Rechts, ohne die Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart zu ziehen. Der hierfür erforderliche Sammelfleiß137, die über drei Jahrzehnte sich erstreckende Sichtung und Ordnung des Stoffes, erfüllten höchste Ansprüche an Genauigkeit und Arbeitseifer. Gleichzeitig blieb His genügsam genug und widerstand der Versuchung, vielleicht aber auch der dringenden Notwendigkeit, Epochenbilder zu zeichnen. Vermutlich liegt hier der Schlüssel, warum His nicht schulbildend gewirkt hat und letztlich ein Einzelgänger wurde. In der Tat erwiesen sich die Buchbesprechungen von Eberhard Schmidt und Ulrich Stutz insoweit als wegweisende Einschätzungen. His lieferte Fundgruben, aus denen sich Mittelalterhistoriker und Rechtshistoriker bis heute bedienen. Seiner Genauigkeit kann man auf der Suche nach den Quellen weiterhin vorbehaltlos vertrauen. Aber wenn ein neueres Quellen- und Studienbuch Rudolf His kurzerhand zum bekannten Strafrechtler138 abstempelt, trifft der kapitale Fehler in der Sache den Nagel auf den Kopf. In der Tat ist nämlich kaum bemerkbar, dass es sich um das Werk eines Rechtshistorikers und nicht eines philologisch geschulten Strafrechtsdogmatikers handelt. Zugespitzt meinte Stutz, Rudolf His trete in seinem Werk zwar als „moderner Gelehrter“ auf, sei aber bei der Darstellung kaum als Jurist erkennbar139, weil ihm die Bedeutung seiner Quellen für die Rechtsentwicklung oder gar für die Gegenwart egal sei.
2. Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina
32Zeitlich zwischen dem ersten und zweiten Band seines „Strafrechts des deutschen Mittelalters“ veröffentlichte Rudolf His 1928 die „Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina“. Schon die Schreibweise der Halsgerichtsordnung mit dem eingedeutschten „K“ war ein Bekenntnis. Das mit nicht einmal 200 Seiten schmal gehaltene Buch war als Überblick für einen größeren Leserkreis, auch für Fachfremde, gedacht. Wie es der Konzeption des Handbuchs zur mittelalterlichen und neueren Geschichte entsprach, verzichtete His auf Fußnoten, stellte seinen größeren Abschnitten aber Literaturverzeichnisse voran. In der Anlage ähnelt die zusammenfassende Darstellung der zweibändigen Langfassung in hohem Maße. Der erste Teil „Die Missetat“140 beginnt mit der zeitgenössischen Begrifflichkeit für Straftaten, dann folgen Fragen, die das moderne Recht im allgemeinen Teil des Strafrechts verortet: Absicht, Beteiligung mehrerer Täter, Versuch, Notstand, Notwehr etc. Im zweiten Teil „Die Folgen der Missetat“ entschloss sich His zu einer historisch-chronologischen Zweiteilung. Er unterschied die germanische Urzeit141 von der folgenden Periode, die für ihn von der fränkischen Zeit bis zur Carolina reichte142. Dennoch handelt es sich hierbei nicht um Epochenbilder oder gar um einen wie immer gearteten Entwicklungsgang. Die Quellenkunde und Wortbedeutungen standen im Mittelpunkt des juristischen Zugriffs. Freilich, so eine Rezension, müsse man für die Darstellung „aus der Feder eines unserer quellenkundigsten Strafrechtshistoriker“ ohne weiteres dankbar sein, „mag man im übrigen zu der Arbeitsmethode und zu den Forschungsergebnissen im einzelnen stehen, wie man will“143.
33Der große Rahmen von His entsprach den zeitgenössischen Auffassungen. Schon mit Blick auf die Urzeit hatte His keine Schwierigkeiten, „vom Staat“ zu sprechen144. Auch die starke Betonung von Sippenverbänden überrascht nicht. Doch nach nur zwei Seiten konzentrierte sich His ganz auf die Anfänge des öffentlichen Strafrechts. „Schon die ältesten Nachrichten über die germanischen Zustände“ waren für ihn Beweise für „das Eingreifen des über den Sippen stehenden Verbandes, des Staates“145. Streitig war diese Auffassung schon zu seiner Zeit, doch einige Rezensenten stimmen His in seiner traditionellen Auffassung ausdrücklich zu146. His unterschied außerdem, wohl in Anlehnung an Karl von Amira147 und andere, weltliches und sakrales Strafrecht148. Seit dem Frühmittelalter sah His die germanische Fehde eingeschränkt oder ganz verboten149. Auf knapp zwei Seiten schlug er einen Bogen bis ins deutsche Mittelalter mit seiner ritterlichen und nicht-ritterlichen Fehde. An solchen Stellen zeigte His, für ihn eher ungewöhnlich, eine gewisse Bereitschaft zur Deutung und zur großen Linie. Dennoch waren diese Abschnitte eher knapp gehalten. Die Begriffsgeschichte spielte immer eine ebenfalls entscheidende Rolle. Doch auch bei der Darstellung von Rechtsfolgen behielt His größere Zeiträume im Auge. Beginnend mit den Germanen über die fränkische Zeit bis in die Landfriedensbewegung schilderte er, wie das Bußenstrafrecht nach und nach von den peinlichen Strafen überlagert wurde150. Allerdings gibt es auch in diesen Abschnitten dogmengeschichtliche Rekonstruktionen, die weitgehend von Zeit und Raum gelöst sind. So schildert His zwischen zwei Absätzen zur germanischen Urzeit und zur fränkischen Zeit verschiedene Todesstrafen wie die ehrliche Enthauptung und das schimpfliche Hängen151. Doch wann und wo diese Strafen vollzogen wurden, bleibt offen. Ganz grob geht es gelegentlich um das 15., an anderer Stelle um das 13. Jahrhundert. So stark His sich also für philologische Genauigkeit und Wortbedeutungskunde begeistern konnte, so wenig interessierte ihn die Einbettung der Strafrechtsgeschichte in die allgemeine mittelalterliche Geschichte.
34Der dritte Teil des Werkes löst sich deswegen ganz weitgehend von der historisch-chronologischen Verortung und bietet einen Überblick über die einzelnen Verbrechen. Ganz abrupt und ohne Hinweise auf die zeitgenössisch-ungelehrte Auffassung einzelner strafbarer Handlungen geht es sofort um Religionsvergehen152. Der Sache nach nahm His mit diesem dritten Abschnitt den zweiten Band seines „Strafrechts des deutschen Mittelalters“ vorweg153. Der selbstauferlegte Zwang zur Systematisierung führte teilweise zu erstaunlichen Folgen. Die unbefugte Klage vor einem geistlichen Gericht erschien His auf diese Weise als politische Straftat, die Buße für solche Vergehen als offenbar strafrechtliche Sanktion154. Eingebettet zwischen Steuervergehen und Teilnahmen an auswärtigen Kriegen konnte His mit seinem selbstgewählten Ansatz das Kriminalrecht im engeren Sinne in keiner Weise von Ordnungsverstößen und schlichten Unbotmäßigkeiten gegenüber der Obrigkeit unterscheiden. Das verwundert umso mehr, als er ja im zweiten Teil des Buches die Landfriedensbewegung deutlich als mittelalterliche Neuerung dargestellt hatte. So endet die „Geschichte des deutschen Strafrechts“ unvermittelt mit dem nächtlichen Horchen an fremden Türen und Fenstern, also mit einem Verhalten, aus dem die Zeitgenossen angeblich ohne weiteres auf die verbrecherische Absicht geschlossen hätten155. Der schweizerische Rechtshistoriker Hans Fehr brachte es auf den Punkt: „Das Buch von His stellt eine treffliche Institutionengeschichte dar. Aber der Forderung: Mehr Geistesgeschichte in der Rechtsgeschichte! ist er nur in beschränktem Masse nachgekommen.“156
35Das handbuchartige Werk von His wurde durchaus international beachtet. Buchbesprechungen erschienen in Polen, in der Schweiz, in Frankreich, in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten157. Einer der amerikanischen Rezensenten betonte augenzwinkernd an die Adresse des geltenden Rechts: „The work as a whole is illuminating and is well worth the careful study of the historical and comparative lawyer. Of course, "there is no money in it" for the practising barrister or attorney“158. Immerhin hatte die Rechtsgeschichte dieses Problem also schon damals.
3. Das Strafrecht der Friesen im Mittelalter
36Das erste große strafrechtsgeschichtliche Werk von Rudolf His war seine 1901 erschienene Arbeit über „Das Strafrecht der Friesen im Mittelalter“. In der ungedruckten Dissertation von 1892 hatte His die friesische Rechtsgeschichte bereits berührt. 1895 veröffentlichte er eine längere Rezension zum umfangreichen Buch von Philipp Heck über die altfriesische Gerichtsverfassung. Er bescheinigte Heck, „eine Reihe hochinteressanter, zum Theil überraschender Ergebnisse zu Tage“ gefördert zu haben. Ganz unbescheiden fügte der 25-jährige His jedoch folgende Fußnote hinzu: „Recensent ist in seiner ungedruckten Doctordissertation, die im Sommer 1892 der Basler Juristenfacultät vorgelegen hat („Ueber Graf und Schultheiss in Friesland“), im Wesentlichen zu denselben Ergebnissen gelangt, wie Heck im ersten Theil seines Buches.“159 Als Rechtshistoriker ist Philipp Heck, der große Vorreiter der Interessenjurisprudenz, kaum in Erinnerung geblieben, weil er schon für Zeitgenossen die juristische und historisch-philologische Methode zu stark vermengte160. Doch genau dies war auch der methodische Ansatz von His, der sich im Vorwort seines Strafrechtswerkes ausdrücklich bei Heck für die erhaltene Unterstützung bedankte161. Angeblich war His auf die friesischen strafrechtlichen Quellen gestoßen, weil kurz zuvor die damals vieldiskutierte Dissertation von Friese über das Strafrecht des Sachsenspiegels erschienen war162.
37His legte sein bis dahin umfangreichstes Buch (über 380 Seiten) auf drei größere Abschnitte aus. Zunächst ging es um die Missetat, danach um die Folgen der Missetat, schließlich um einzelne Vergehen. Dieselbe Grobgliederung benutzte er später im größeren Maßstab für sein „Strafrecht des deutschen Mittelaltes“ und ebenso in der „Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina“. Das Vorbild von Heinrich Brunner ist jederzeit deutlich spürbar163. His beanspruchte insoweit vom Beginn seiner strafrechtshistorischen Arbeit an keine besondere formale Originalität. Er zwängte die Quellen in ein festes, bereitstehendes Korsett und sah darin wohl die Möglichkeit, die großen Stoffmassen zu ordnen und für juristische Fragestellungen aufzubereiten. Die Fragen selbst stellte er freilich nicht. Gerade in der strengen Feingliederung mochte es für den dogmenhistorischen Zugang besonders hilfreich sein, die aus moderner strafrechtlicher Sicht inhaltlich zusammenhängenden Quellenstücke auch gemeinsam darzustellen. Hans Schreuer, der Lehrstuhlvorgänger von His in Münster, lobte jedenfalls, durch die strenge Ausrichtung auf das Brunnersche System habe das Werk von His „an Handlichkeit gewonnen“164. Den grundsätzlich sehr verschiedenen Charakter mittelalterlicher Rechtsquellen behielt His zwar im Blick, stellte ihn aber nicht in den Mittelpunkt seines Interesses. Das Einleitungskapitel des „friesischen Strafrechts“ bringt einen Überblick über die Quellen von der Lex Frisionum über die zahlreichen Landschaftsrechte bis hin zu Aufzeichnungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert165. Die feinmaschig-genaue Quellenerschließung, 1901 bereits vollendet vorgeführt, sollte bis zuletzt eine der rechtshistorischen Stärken von Rudolf His bleiben. Noch 1937 veröffentlichte er einen umfangreichen Aufsatz zu den älteren ostfriesischen Rechtsquellen und stellte hier die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen verschiedenen Handschriften sowie auch die seiner Ansicht nach sinnvoll aufeinander abgestimmten Bußsätze der jeweiligen Rechtsaufzeichnungen gekonnt dar166.
38Im Kern ging es His bereits 1901 wie auch in seinen späteren strafrechtsgeschichtlichen Monographien schon im „Strafrecht der Friesen“ um die rechtlichen Inhalte, die für ihn wie immer eng mit philologischer Genauigkeit und Etymologie verbunden waren. Die stärksten allgemein-rechtshistorischen Pinselstriche wagte His in seinem Abschnitt über die Folgen der Missetat. Mit der grundlegenden Unterscheidung von weltlichem und sakralem Strafrecht in der germanischen Urzeit167 stand er ganz im Banne der Lehren von Karl von Amira. Allerdings versuchte His, „mit Hilfe der friesischen Quellen zwischen den entgegenstehenden Ansichten v. Amiras und Brunners zu vermitteln“168. Die klassische Auffassung von der Friedlosigkeit behandelte His in großer Ausführlichkeit, immer auf der Suche nach Rechtswörtern, die Wüstung, Fronung, „Notnunft“, Handhaftigkeit und anderes andeuteten. Der Sache nach ging es freilich durchaus um Stadtrechte des 15. Jahrhunderts, die etwa die Friedlosigkeit bei Ladungsungehorsam androhten169.
39Rückprojektionen in die schriftlose Zeit scheute His nicht, auch wenn er zugleich die Sprache seiner Quellen beherrschte wie kaum ein anderer. So gestand er zu, die Lex Frisionum, das älteste friesische Rechtsdenkmal, habe lediglich ein einziges Mal die Todesstrafe erwähnt. Doch war er sich sicher: „In den ältesten Zeiten des friesischen Rechtes muss die Todesstrafe eine grössere Rolle gespielt haben. Schon an sich liegt es nahe, anzunehmen, dass bei der Bekehrung zum Christentum die altheidnischen Strafen wegen ihres sakralen Charakters zurückgedrängt worden seien.“170 Insofern ist es ungenau, wenn die Zeitgenossen das wissenschaftliche Werk von His auf die bloß akribische Zusammenstellung von Quellenbegriffen reduzierten, so verdienstvoll und arbeitssam His‘ Bemühungen auch immer sein mochten. Gerade in der Anlehnung an die Gedankengebäude von Amira und Brunner verließ Rudolf His wie so viele Zeitgenossen ohne Bedenken den gesicherten Boden der Quellen und schloss sich herrschenden methodischen und germanisch-ideologischen Vorstellungen an. Schon Ulrich Stutz äußerte 1915 hellsichtig Zweifel an der Brunnerschen Idee der gemeingermanischen Friedlosigkeit171. Doch erst die rechtshistorische und nordistische Forschung um 1960 vermochte sich aus diesen Begrenzungen zu lösen. Maßgeblich waren insoweit die Werke von Karl Kroeschell172, Klaus von See173 und anderen. His selbst wagte sich dagegen munter in das quellenlose Gebiet vor. So schilderte er etwa Todesstrafen für Ketzerei und Falschmünzerei, also für Delikte, die erstens verbindliche christliche Lehren und zweitens Münzgeld voraussetzten. Er selbst meinte dazu: „Alle bisher aufgezählten Todesarten sind offenbar uralt. Bei den drei ersten ergiebt sich dies schon aus ihrem altertümlichen Ritus: Hängen, Rädern und Ertränken gehen sicherlich auf heidnische Menschenopfer zurück.“174 Im „Strafrecht des deutschen Mittelalters“ begegnen solche Spekulationen insgesamt seltener. Das liegt aber kaum an den im Laufe der Jahre geänderten Grundanschauungen von His, sondern wohl eher an der erheblich verbreiterten Quellengrundlage. Gerade bei einem solchen Vergleich sticht sein zweibändiges Hauptwerk wirklich als herausragende Leistung der philologisch-dogmatischen Rechtsgeschichte heraus. Andererseits scheint Rudolf His mit seiner Handbuchdarstellung von 1928 wesentlich dazu beigetragen zu haben, die Lehren Karl von Amiras zu den germanischen Todesstrafen für lange Zeit zur herrschenden Meinung zu erheben175.
40Ein Nachtrag ist an dieser Stelle vonnöten. Philipp Heck, neben Rudolf His der beste Kenner der friesischen Rechtsgeschichte, beurteilte das umfangreiche Buch seines jüngeren Kollegen ausgesprochen kritisch. Er bescheinigte His in seiner sorgfältigen und umfassenden Besprechung zwar großen Fleiß und das anerkennenswerte Streben nach Vollständigkeit176. Aber in den Einzelheiten hielt er mit seinem scharfen, fast schon vernichtenden Urteil kaum zurück. Das von Rudolf His gezeichnete Gesamtbild empfand Philipp Heck nämlich als zerfahren und willkürlich177. His hatte seiner Meinung nach zu sehr die einzelnen Quellen isoliert, die Besonderheiten einzelner Landschaften nicht beachtet und damit die geschichtliche Entwicklung als solche verdunkelt. Allerdings erstaunt es, wenn Heck gegenüber His den Vorwurf mangelnder Vorsicht ins Feld führt oder ihm Hypothesen vorhält, die von den Quellen nicht gedeckt seien178. Spätere Besprechungen His’scher Werke kamen nämlich durchweg zu dem genau gegenteiligen Ergebnis, His sei nicht meinungsfreudig genug. Philipp Heck jedoch sprach ausdrücklich von „einer vollkommen willkürlichen Deutung der Küren und (…) ungenügender Verarbeitung der späteren Nachrichten“179. Diese entgegengesetzten Einschätzungen lassen sich kaum erklären. Falls His sich die Kritik von Heck zu eigen machte und sich in der Folgezeit noch stärker auf die Wortbedeutung beschränkte, würde diese Sichtweise kaum überzeugen, denn gerade die Gesamtanlage seiner Hauptwerke ist jeweils völlig identisch. Vielleicht erkannte Philipp Heck als bester Kenner der Quellen tatsächlich Schwächen im Werk des Jüngeren, und womöglich war His‘ Quellenbeherrschung doch nicht so unumstößlich sattelfest, wie viele meinten. Aber womöglich sah sich Heck auch schlicht in seiner Bedeutung als Rechtshistoriker an den Rand gedrängt, wenn nur wenige Jahre nach seiner Monographie ein zweites Buch zu einem derart eng verwandten Gegenstand erschien.
41Deswegen ist zum Vergleich die Einschätzung von Hermann Knapp hilfreich. Er war der einzige Rezensent, der sowohl das „Strafrecht der Friesen“ als auch das „Strafrecht des deutschen Mittelalters“ in Besprechungen würdigte. Als verantwortlicher Redakteur der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ verfasste er 1902 und auch 1921 Besprechungen zu den Monographien von Rudolf His. Hierbei beschränkte er sich aber stark auf die bloße Inhaltsangabe. Am frühen Werk zum friesischen Strafrecht lobte Knapp, der Gegenstand habe in His endlich „einen seiner Bedeutung würdigen Bearbeiter“ gefunden180. Das Werk von Philipp Heck erwähnte Hermann Knapp in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Zwei Jahrzehnte später klang das Lob ähnlich, ja sogar noch überschwenglicher. Die von His zusammengestellten allgemeinen Lehren des deutschen mittelalterlichen Strafrechts seien ein „wahrer Genuß“. His trete mit Recht die würdige wissenschaftliche Nachfolge von Wilda und Brunner an181. Wie mehrere andere Rezensenten war sich auch Hermann Knapp sicher, dass so bald keine zweite Untersuchung dieser Art erscheinen werde. Zur His’schen Methode oder seiner im Frühwerk angeblich stärker ausgeprägten Meinungsfreudigkeit äußerte sich Knapp nicht. So steht die Kritik von Philipp Heck allein im Raum. Sie ist schwer einzuordnen, stammt freilich vom damals besten Kenner der Quellen.
4. Kleinere Schriften und westfälische Rechtsgeschichte
42In einigen kleineren, teils westfälisch-regionalgeschichtlichen Beiträgen löste sich Rudolf His von der dogmatisch-begrifflichen Strenge seiner Hauptwerke und fand allgemeinere und kulturgeschichtliche Zugänge zur Rechtsgeschichte. Bis zuletzt verfasste er Miniaturen, etwa 1937 einen knappen Beitrag auf der Grenze von Rechts- und Kunstgeschichte zu einem Gerichtsbild von Derick Baegert im Weseler Rathaus. Kurz zuvor hatte es im Münsteraner Landesmuseum eine Ausstellung zum Maler Derick Baegert gegeben. Der Katalog bot His den Anlass für seine kleine Skizze182. Hier zeigte er sich als Liebhaber von Rechtssymbolen wie Schwurhänden, Teufelsdarstellungen auf Gerichtsbildern, Amtstrachten von Schöffen und Ratsleuten und anderem mehr. Das Gemälde wird auch in der neueren Literatur oft und gern behandelt183. Insofern bewies His ein sicheres Fingerspitzengespür für einen rechtsikonographischen Klassiker.
43Besonders hervorzuheben ist eine kleine Mappe über „Recht und Verfassung Westfalens im Mittelalter“184. His arbeitete hier zusammen mit der Archivberatungsstelle der Provinz Westfalen und ihrem Leiter Heinrich Glasmeier. Zwischen 1930 und 1935 erschienen insgesamt sieben Bände der locker verbundenen Reihe. Rudolf His verfasste das einzige spezifisch rechtshistorische Heft. Nach zeitgenössischen Maßstäben erfüllte diese Veröffentlichung hohe technische und didaktische Ansprüche. Insgesamt 18 mittelalterliche und frühneuzeitliche Urkunden und Quellenauszüge waren als Einzelblätter faksimiliert. His erarbeitete dazu Transkriptionen und Übersetzungen. Ungewöhnlich für seine Zeit waren die neuhochdeutschen Übertragungen mittelniederdeutscher Texte185. Ältere Quellensammlungen, auch solche für Unterrichtszwecke, setzten lateinische und mittelniederdeutsche Sprachkenntnisse unausgesprochen voraus186. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das zunächst noch üblich187. Hier kam Rudolf His seinen Studenten bzw. den anderen Benutzern der Mappe deutlich entgegen. In welcher Weise er diese Quellen in der Lehre einsetzte, ist unbekannt. Immerhin sieben Hefte sind in Münster aber heute noch vorhanden188. Zusätzlich zur Transkription und zur Übersetzung bot His einige Sacherläuterungen. Sie fielen knapp aus, gaben aber genaue Hinweise auf die Biographien der beteiligten Personen und auf die verhandelten Rechtsfragen. Dennoch blieb sich His in einem anderen Punkt methodisch treu. Den großen verfassungshistorischen Rahmen verweigerte er abermals. Seine allgemeine Einführung in die Quellenedition beschränkte sich auf eine halbe Seite und fasste jede beigefügte Quelle lediglich in einem oder zwei Sätzen zusammen. Doch spricht viel dafür, dass His die westfälischen Quellen zur Veranschaulichung in seinen Lehrveranstaltungen einsetzte. Ihn ganz auf einen strafrechtlichen Begriffs- und Dogmenhistoriker zu verengen, wäre demnach eine unberechtigte historische Verkürzung seiner Interessen.
44Verfassungsgeschichtliche Abhandlungen legte Rudolf His mehrfach vor. Schon 1903, nur zwei Jahre nach seinem „Strafrecht der Friesen“, erschien ein Aufsatz zur Rechtsgeschichte des thüringischen Adels, der einige Jahrzehnte später von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1965 nachgedruckt wurde189. His griff darin eine These Otto Zallingers auf, der das Absinken freier Geschlechter in die Ministerialität im 12. und 13. Jahrhundert beschrieben hatte190. In einem umfangreichen Quellendurchlauf sichtete His verschiedene thüringische Adelsfamilien und merkte jeweils an, ob ihre Vertreter als frei oder unfrei bezeichnet wurden. Bis auf fünf Geschlechter war der alte Adel am Ende des 13. Jahrhunderts verschwunden191. Von dort aus blickte His sodann historisch vorwärts und zeichnete nach, wie andererseits ehemals halbfreie Ministerialengeschlechter den sozialen und rechtlichen Aufstieg bis ins 14. und frühe 15. Jahrhundert hinein vollzogen. Wie in seinen anderen Schriften ist der Beitrag ganz der historischen Sachinformation verschrieben. Übergreifende Überlegungen zur Freiheit oder Unfreiheit oder zum Verhältnis adliger und nichtadliger Familien im Mittelalter waren nicht das Thema von His. Auch wenn er sich zu spärlicher Rhetorik aufraffte („Aber noch mehr!“192), blieb er im selbstgesteckten Feld und beschrieb lediglich die Eigen- und Fremdbezeichnungen von Familien. Schlussfolgerungen waren nicht sein Anliegen, und so endete der Beitrag kaum zufällig nicht mit einem Ergebnis, sondern mit einem Nachtrag einiger Quellenfunde, auf die er erst später gestoßen war193.
45Als Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität hielt Rudolf His am 15. Oktober 1928 seine damals übliche Rektoratsrede. Heutzutage gefallen sich Rektoren augenzwinkernd darin, sich zu allem möglichen zu äußern, nur nicht zur Sache selbst194. Das war früher anders. Etwas kokettierend gestand His gleich zu Beginn des später veröffentlichten Vortrags ein, Juristerei erscheine Außenstehenden allzu leicht als trocken und spitzfindig. Deswegen wende er sich lieber den Grenzgebieten zu195. Dann entfaltete er einen großangelegten Überblick zum germanischen Totenglauben. Mit wenigen, aber gekonnt gesetzten Akzenten erzeugte er eine geradezu unheimliche Stimmung. Wenn Hans Fehr zuvor im His’schen Werk die Hinweise auf Furchtvorstellungen vermisst hatte196, die doch das mittelalterliche Strafrecht prägten, so versammelte His nun mehrere drastische Fälle. Neuere Beispiele aus einigen Dörfern, in denen man Verstorbene gefesselt oder sogar ausgegraben und geköpft hatte197, schlugen zwanglos den Bogen ins 20. Jahrhundert. Auf der Suche nach Skurrilitäten wurde His in nordischen Sagas ebenso fündig wie in frühneuzeitlichen schweizerischen Quellen und westfälischen Gerichtsurteilen. Ob das alles „germanisch“ war, wie er in seinem Titel ankündigte, erläuterte er nicht näher, aber er machte sich doch auf die Suche nach angeblich alten, in die vorchristliche Zeit zurückreichenden Vorstellungen. Die Verstümmelung des bereits seit Monaten verstorbenen Papstes Formosus auf Befehl seines Nachfolgers in Rom im Jahre 897, auf die bereits Hans Schreuer198, der Münsteraner Vorgänger von His, aufmerksam gemacht hatte, ließ sich kaum als germanisches Strafrecht verbuchen. Doch die von His zusammengetragenen Beispiele geistern im wörtlichsten Sinne noch immer durch die einschlägige Literatur. Abermals hatte sich His in erster Linie als umsichtiger Quellenkundler erwiesen. Wichtiger als die zweifelhaften Konstruktionen eines altgermanischen Sakralrechts erscheint in der Rückschau erneut sein sicherer Zugriff auf die verstreute Überlieferung199. Am Ende seiner Rektoratsrede griff Rudolf His in die zeittypische Vorratskiste bürgerlicher Gelehrsamkeit. Er zitierte Goethe, ehrte die Toten seiner Münsteraner Universität, gedachte der „Helden des Weltkrieges“ und stellte die höhere Stufe der Gesittung bei den „Gebildeten der Gegenwart“ den „Anschauungen der alten Zeit“ gegenüber200. Solche Gegenwartsbezüge finden sich im sonstigen von Werk von His nur ganz spärlich. Vermutlich lag in derart weiten Verbindungslinien auch nicht seine Motivation für die Beschäftigung mit der Geschichte. Vielmehr bietet die Rektoratsrede ein seltenes Beispiel, wie His es vermochte, seine Quellenbegeisterung auch an ein eher fachfremdes Publikum zu vermitteln. Der düster-schaurigen Stimmung kann sich auch der heutige Leser kaum entziehen. Und das Thema selbst ließ His bis zum Ende seines Lebens nicht los201.
III. Nachwirkungen und Würdigung
46Rudolf His ist vor allem mit seinem zweibändigen „Strafrecht des deutschen Mittelalters“ in Erinnerung geblieben. Die Strafrechtsgeschichte selbst stand freilich sehr schnell unter dem überragenden Einfluss eines anderen Werkes, nämlich der „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ von Eberhard Schmidt. 1947 in erster Auflage erschienen und bis 1965 aktualisiert, prägte Schmidt über mehrere Jahrzehnte das methodische Selbstverständnis des Faches. Hier ging es fortan um das Verhältnis von normativen Rechtsquellen zur Rechtspraxis, um Epochenbilder, um Einblicke in die Lehren großer Strafrechtler und vieles mehr. Der philologisch-dogmatische Zugang von His war damit nach kurzer Zeit von ganz anderen Erkenntnisinteressen ersetzt. Im traditionell dogmatisch betriebenen deutschen Privatrecht sah es kaum anders aus, wenn dort auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch Lehrbücher erschienen202. Der spätere Wandel von der juristisch-rechtshistorischen Strafrechtsgeschichte zu einer interdisziplinär betriebenen Historischen Kriminalitätsforschung203 hat Werke wie das von His noch stärker an den Rand gedrängt. Der Abschied vom angeblich germanischen Urrecht und von der zeitüberspannenden Rückprojektion in die heidnisch-schriftlose Zeit taten ab den späten 1950er Jahren ihr Übriges, um die erst vor wenigen Jahrzehnten erschienenen großen rechtshistorischen Werke im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen zu lassen. Diese Verschiebungen trafen nicht nur Karl von Amira und Heinrich Brunner, sondern ebenso Rudolf His. Schon 1915 hatte Ulrich Stutz, der einflussreiche schweizerische Rechtshistoriker in Bonn, seine Würdigung der großen germanistischen Lehren ganz nüchtern mit dem Hinweis kommentiert, „auch die beste wissenschaftliche Leistung hat ihre beschränkte Geltungsdauer; dreißig Jahre pflegen es zu sein oder, wenn es hoch kommt, vierzig“204. Der Sache nach nahm die Rechtsgeschichte hier die Lehre vom Paradigmenwechsel vorweg, die sich erst Jahrzehnte später in den Geisteswissenschaften allgemein durchsetzte205. Und genau die von Stutz benannte Spanne von drei Jahrzehnten war Rudolf His zu jung, um einfach den Brunnerschen Weg fortzusetzen.
47In der umsichtigen, unbeirrbaren und bis in feine Verästelungen genauen Quellenerschließung bleibt das Hauptwerk von His aber weiterhin Fundgrube und Ausgangspunkt für jede nähere Beschäftigung mit den normativen Quellen des ungelehrten mittelalterlichen Strafrechts. Wenn seine Person ganz hinter dem Sammelfleiß verschwindet, steht His zugleich für einen Forschertyp, der den leisen und langsamen Pfad beschreitet und sich jeder Eigenwerbung oder flotter Zuspitzung enthält. Vielleicht war His schlichtweg ein Langweiler, vielleicht aber fühlte er sich zu solcher Zurückhaltung wissenschaftsethisch verpflichtet. Wir wissen es nicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der His die nordischen Sprachen, mittelalterliches Friesisch und zahlreiche andere Dialekte beherrschte, ohne groß davon zu reden, zeugt von Demut und Bescheidenheit gegenüber dem eigenen Gegenstand. Andererseits war er augenscheinlich so zurückhaltend und still, dass die Fakultät seinen freigewordenen rechtshistorischen Lehrstuhl kurzerhand an die Wirtschaftswissenschaften abtreten konnte.
48Ob Rudolf His zu den prägenden Gestalten der Münsteraner Rechtsfakultät zählt, lässt sich daher nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Drei Jahrzehnte in Münster, das Dekanat, ja sogar seine Wahl zum Rektor haben ihn offenbar kaum zu einer Führungsfigur gemacht. In einem Punkt freilich begründete His eine kuriose Tradition, nämlich die bis heute bestehende enge Verbindung des Lehrstuhls für Deutsche Rechtsgeschichte zur Schweiz. Einer von His‘ Nachfolgern, Rudolf Gmür, kam aus Bern nach Münster und zog nach seiner Emeritierung dorthin zurück206. Später war es Andreas Thier, der nach kurzer Tätigkeit in Münster nach Zürich abwanderte. Und der Nachfolger von Thier kam aus Bern nach Münster, wo er jetzt noch tätig ist und diesen Beitrag verfasst hat. Von der Aare an die Aa, mag man diese Verbindung kommentieren. In der Rechtshistorischen Bibliothek, soviel ist sicher, haben die Bezüge zur Schweiz ihre Spuren hinterlassen. Zumindest in dieser Hinsicht prägte His die spätere Lehrstuhltradition.