Im Gedenken an Herbert Goliasch, Günther Brückner, Wolfgang Nowak und Karl-Heinz Kunckel.
Sie haben mit Leidenschaft, Augenmaß und Menschlichkeit harte Bretter gebohrt.
I.
1Am Anfang waren Spaltung und Mauer und Stacheldraht. Ein Unrechtsstaat mit einem riesenkrakenartigen Spitzelsystem und einem machtlosen Volk. Eine marode Staats- und Planwirtschaft und ein zentralistischer Einheitsstaat unter Führung einer allmächtigen, sich im Besitz der geschichtlichen Wahrheit dünkenden Einheitspartei. Eine „DDR“ eben, die nicht Deutsch sein durfte, niemals Demokratisch war und keine res publica, keine öffentliche Angelegenheit aller.
2Aber nach 57 Jahren zweier sozialistischer Diktaturen nahmen die Menschen ihre res publica selbst in die Hand. Wenn man den Mantel Gottes in der Geschichte rauschen hört, so hatte ein Jahrhundert zuvor ein altmärkisch-pommerscher Kanzler gesagt, muss man einen Zipfel ergreifen. Die Mitteldeutschen ergriffen ihn, 1989. Aus den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche wurden die ersten Demonstrationen von Ausreisewilligen, und der Strom der nach Ungarn in der Hoffnung auf eine durchlässigere Grenze Reisenden schwoll an. Als mich einer meiner Studenten fragte, ob ich auch dorthin wolle, sagte ich ihm, dass es zum ersten Mal im Leben die Chance zur Veränderung gebe und ich jetzt hier bleiben müsste. So wie er und ich dachten Hunderttausende, bald Millionen. Am 7. Oktober zog in Berlin nur noch das letzte Aufgebot sozialistischer Ordnung in gespenstischer Zeremonie an der Führung vorbei, aber in Leipzig schafften wir Demonstranten es von der Nikolaikirche bis zum Hallischen Tor, ein Viertel des Ringes um die Innenstadt, und am 9. Oktober wagten sich 70000 Menschen trotz ihnen gegenüberstehender Bewaffneter und gepanzerter Fahrzeuge auf die Straße. Dann wurden es von Woche zu Woche mehr – mehr Menschen, in immer mehr Städten, mit immer klareren Vorstellungen.
3Die eben noch Mächtigen waren auch deshalb machtlos, weil das Volk ohne Führer, ohne Befehlsketten, ohne vorgegebene Revolutionspläne agierte – es gab nicht die paar Köpfe, die man hätte wegsperren, einkaufen oder zersetzen könnte. Es gab Millionen Köpfe, die den Mut hatten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, und Millionen Willen zu handeln, und der Vektor dieser Millionen selbst denkender, selbstverantwortlich handelnder Menschen in Mitteldeutschland wies klar in eine Richtung: Wiedervereinigung, Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft – deutsche Einheit statt Spaltung, Freiheit statt Sozialismus, Demokratie statt Politbüro-Kratie, Rechtssicherheit statt „Staatssicherheit“, soziale Marktwirtschaft und Privateigentum statt staatsgeplanter Mangelwirtschaft im „Volkseigentum“. Der Herbst 1989 brachte die einzige wirklich unmittelbare Demokratie hervor: „Wie sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk!“ Die ersten freien Wahlen in der „DDR“ bestätigten das; sie wurde auf einmal deutsch, demokratisch, res publica – und schaffte sich folgerichtig ab.1
4Dass der neue, freiheitliche demokratische Staat Maß und Form brauchen würde, sich im Gegensatz zum stürzenden sozialistischen Staat selbst binden und beschränken müsse, allen einsichtige Institutionen in einer klaren Gewaltenteilung benötige, war den Menschen bewusst. Und auch, dass sie keinen fernen Zentralstaat mehr (und erst recht keinen noch ferneren neuen Zentralismus) wollten, sondern die geschichtlich gewachsenen Länder und eine Aufteilung der Staatsgewalt auch auf verschiedene Ebenen. Am 19. Dezember 1989 hängten die Museumsmitarbeiter im Japanischen Palais in Dresden gegenüber von dem Hotel, in dem sich Helmut Kohl mit dem neuen Ministerpräsidenten der alten „DDR“ Modrow traf, ein Transparent auf: „Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler“. Die Menschenmassen auf den Straßen führten außer schwarzrotgoldenen Fahnen ohne das Spalteremblem auch weißgrüne Fahnen mit sich. Der Journalist Ruprecht Eser, der für das ZDF live aus Dresden berichtete, fragte mich, was denn die vielen weißblauen Fahnen bedeuteten; ich erklärte ihm, dass seien weißgrüne, sächsische Fahnen. „Warum wollen die Menschen denn das Land Sachsen wieder haben?“, war seine verblüffte nächste Frage; auch das erklärte ich den ZDF-Zuschauern. Im intellektuellen Mainstream Westdeutschlands hatte man sich offensichtlich nicht nur mit der deutsche Teilung eingerichtet, sondern wusste auch den Föderalismus nicht mehr zu schätzen …
II.
5Die Vorbereitungen für den Wiederaufbau des Landes Sachsen und die Gestaltung seiner Verfassung entfalteten sich im Schatten der nationalen Ereignisse, Freiheitswahl im März, Wirtschafts- und Währungsunion, Einigungsvertrag, Beitritt am 3. Oktober. Der erste Schritt ging vom alten System aus: Am Tag nach der Freiheitswahl veröffentlichte eine Arbeitsgruppe des Bezirkstages Dresden einen Verfassungsentwurf, der die Einheits-Landesverfassung aus der Sowjetischen Besatzungszone mit Anleihen aus dem Westen und zugegebenermaßen auch einigen neuen Ideen verschlingelte und Sachsen in einer konservierten „DDR“ halten sollte. Dem stellte die Dresdner „Gruppe der 20“ einen eigenen Verfassungsentwurf entgegen; was wahrscheinlich wirkungsmächtiger war: Sie verhinderte die schnelle Gründung eines Landes Sachsen durch die Bezirkstage der drei sächsischen „DDR“-Bezirke. Auch in Leipzig entstand unabhängig davon ein „Leipziger Entwurf“ für eine Sächsische Verfassung (zum Unterschied zu einem späteren linken Entwurf dann meist als „Entwurf der Leipziger CDU“ bezeichnet). Ich musste mir dafür heftige, teils beleidigende Vorwürfe aus Dresden anhören, wo man im Hauptstadt- und Gruppendenken Initiativen aus den nichtdresdnischen Anhängselgebieten kämpferisch ablehnend gegenüberstand. (Man möge es mir nachsehen, dass ich bei nüchterner Betrachtung diesen unseren Leipziger Entwurf nach wie vor für den besten halte.) Letztlich schrieben auch einige kommunistische Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig den Bezirksratsentwurf etwas moderner und mit grün-alternativen Einschüben um.
6Es gelang schließlich, alle Beteiligten an einer Art Runden Tisch in Gohrisch zu versammeln und an einem gemeinsamen Entwurf zu arbeiten. Der Kommunist zog sich wieder zurück; die übrigen politischen und sachverständigen Kräfte – diese Aufzählung soll kein gegenseitiger Ausschluss von Politik und Sachverstand sein! – stellten mit vielen Kompromissen den ersten Gohrischer Entwurf auf die Beine. Er wurde bereits vor der Wiedervereinigung öffentlich vorgestellt, diskutiert und von einer kleineren Arbeitsgruppe um Steffen Heitmann (denn die meisten Beteiligten waren inzwischen im ersten Landtagswahlkampf) neu gefasst. Dieser Vorlauf gab der Verfassungsgebung in Sachsen nicht nur einen zeitlichen, sondern vor allem einen inhaltlichen und diskursiven Vorsprung vor den anderen neu entstehenden Ländern.
7Im ersten Sächsischen Landtag des Freistaates Sachsen sahen sich die meisten „Gohrischer“ wieder. Arnold Vaatz (CDU) übernahm die Leitung der Staatskanzlei, Steffen Heitmann (parteilos) das Justizressort in der Staatsregierung; ich wurde Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses und damit des Ersten Ausschusses der Verfassungsgebenden Landesversammlung, dem auch Bernd Kunzmann (SPD) angehörte, Martin Böttcher leitete die Bündnisgrüne Fraktion (der am Leipziger CDU-Entwurf beteiligte Nicht-„Gohrischer“ Herbert Goliasch die CDU-Fraktion), Michael Lersow war SPD-Parteivorsitzender. Von den mit der Verfassungsgebung näher Befassten waren zumindest Günter Kröber (FDP), Arnold Vaatz, Wolfgang Marcus (als Häftling CDU, als Abgeordneter SPD) und Michael Lersow politische Häftlinge des kommunistischen Regimes gewesen.
8Die 160 Abgeordneten (mit Nachrückern wurden es mehr) des ersten Landtages verstanden sich nicht – noch nicht – als Berufspolitiker. Dass sie es im Max Weber’schen Sinne werden mussten, lernten sie schnell – mit Leidenschaft und Augenmaß harte Bretter langsam bohren. In diesem Sinne, und nicht in der idealtypischen Karrierebiographie „Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal“, verstehe ich „Politiker“ nicht als pejorative Bezeichnung, sondern als Epitheton ornans. Diese Abgeordneten waren gestandene Männer und Frauen, lebenserfahren mit oft großer beruflicher und familiärer Verantwortung. Wir alle, mit welchen divergierenden Zielen auch immer, hatten damals in einer Zeit auch heftiger persönlicher Umbrüche auf unsere Berufe verzichtet und uns in den Dienst des Landes gestellt. Das wird oft vergessen; das hat uns damals, kurz nach der friedlichen Revolution, auch mehr vereint als in späteren Zeiten des politischen Alltags.
9Aber in jenem politischen Alltag habe ich auch – und das will ich nicht verschweigen – dann innerhalb weniger Sekunden etwas gelernt, was wir friedlichen Revolutionäre meist verdrängt hatten: Als in einer Plenarsitzung eine sehr oppositionelle Abgeordnete sehr alkoholisiert am Rednerpult kreischte, zischte ich empört „Wer gibt dieser Frau das Recht, so aufzutreten?!“ Der neben mir sitzende Kurt Biedenkopf antwortete genauso leise: „Der Wähler. Sie ist ebenso demokratisch gewählt wie wir.“ Nie in den langen Jahren oft enger und selten konfliktfreier Zusammenarbeit ist der erste Sächsische Ministerpräsident für mich so sehr das gewesen, was ihm am wichtigsten ist – ein Professor, ein Lehrer auf hohem Niveau.
10Parlamentarische Erfahrung hatten die wenigsten von uns. Kurt Biedenkopf war im Bundestag und im nordrheinwestfälischen Landtag, Günter Kröber im letzten Sächsischen Landtag vor der Auflösung der Länder durch die „DDR“ gewesen. Einige Abgeordneten hatten der frei gewählten letzten Volkskammer angehört. Auch die Synodalen brachten eine parlamentarische Erfahrung mit. Aber nur die wenigsten hatten schon in tiefer DDR-Zeit heimlich Gesetzentwürfe geübt. (Der erste, den ich in meinen Papieren fand, stammt noch aus meiner Schulzeit [!] und war der Entwurf – meine britischen Freunde mögen es mir verzeihen – für einen Verfassungsvertrag über eine politische Union zwischen Deutschland und Großbritannien. Damals textete ich auch eine sehr holprige Europahymne. Das Grundgesetz – das erst Anfang 1989 in der „DDR“ gedruckt wurde – hatte ich mir dann 1973 abschreiben können; die Landesverfassungen, Landtagsgeschäftsordnungen usw. waren nach dem Mauerfall durch Schreiben an alle westdeutschen Länder sehr viel leichter zu besorgen gewesen.) Nun saßen wir zusammen und wollten den wiedergegründeten Freistaat verfassen.
11Wie dies ablief, ist im Einzelnen minutiös dokumentiert.2 CDU und FDP hatten den Gohrischer Entwurf als Verfassungsentwurf eingebracht, ebenso die SPD durch Gesetzentwurf. Bündnisgrüne und Kommunisten brachten geringfügig variierende Verfassungsentwürfe auf der Grundlage des Entwurfs der Karl-Marx-Universität ein, auf deren Boden sich auch eines der SPD-Mitglieder im Ausschuss, Bernd Kunzmann, stellte. Überhaupt war die geringe Begleitung der Verfassungsberatungen des Ausschusses durch die übrigen Landtagsmitglieder eher von Nachteil – in meiner Fraktion, der CDU-Fraktion, wurde die Beschäftigung mit der Verfassung meist unter dem Druck scheinbar dringenderer tagespolitischer Fragen geopfert. Selbst Ministerpräsident Biedenkopf war (wie mir ein glaubwürdiger Zeuge damals sagte) sehr überrascht, als er den im Ausschuss weitgehend festgezurrten Entwurf las – er hatte, weil ich den Vorsitz im Ausschuss innehatte, angenommen, dass so etwas wie der von ihm gründlich gelesene „Leipziger Entwurf“ (vulgo Entwurf der Leipziger CDU) herauskommen würde.
12Andererseits gab es Sternstunden – ich denke an die mit Wolfgang Marcus gemeinsam gefundene Lösung für die Bildungsziele und an die mit Unterstützung von Benedikt Dyrlich (SPD) durchgesetzte Festschreibung, dass die Sorben Volk und Teil des Staatsvolkes und nicht (wie noch im ersten Gohrischer Entwurf) nur eine Minderheit sind; im kompromisslerischen Gegenzug mussten wir die noch nicht einmal dem Völkerrecht entsprechende Regelung schlucken, dass Ausländer und Neueinwanderer Minderheitenrechte fordern dürfen. Aber wir haben auch Sachsen als den staatsrechtlichen Erben Schlesiens in unserer Verfassung verankern können.
13Zu den Sternstunden zähle ich ebenfalls, dass schließlich alle vom Misstrauen gegen die parlamentarische Demokratie und die Selbstbestimmung des Volkes gefütterten Bestrebungen, Gegenlandtage ohne ausreichende demokratische Legitimation, aber angeblich mit überlegener Weisheit (unseligen SED-Angedenkens) einzuführen, abgewehrt werden konnten: Sachverständigenräte (Gohrischer Entwurf, dort bezeichnenderweise im Abschnitt über die Landesregierung), Landesforum (Bündnisgrüne und Kommunisten), Ökologischer Senat (auch Bündnisgrüne) und eine Art Oberhaus angelehnt an die Verfassung des Königreichs Sachsen (im nicht parlamentarisch eingebrachten Vogtlandentwurf von Teilen der FDP). Auch die kaltschnäuzige Enteignung überkommener Rechte der Kirchen konnte fast im letzten Moment verhindert werden (gerade ich musste zum Ausgleich in vielen, zu vielen Punkten deswegen nachgeben) – das sog. 1. Rechtsbereinigungsgesetz („Rechtsbeseitigungsgesetz“) hat das leider vielfach nachgeholt, wie auch der Artikel 117 leider nicht helfen konnte, die menschenrechtswidrigen Enteignungen (v. a. der vorgeblichen „Bodenreform“) rückgängig zu machen: Das hat dem Land bis heute eine auf Tradition und Privateigentum gestützte breite Verantwortungsstruktur verweigert. Auch die von Hans-Heinz Lehner (CDU) und mir betriebene Verankerung der Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft war nicht durchsetzbar – in Zeiten der europäischen Finanzkrise vermissen wir sie immer schmerzlicher.
14Dennoch – das Verfassungsgesetz, dessen Entwurf wir der Öffentlichkeit durch Abdruck in den großen sächsische Tageszeitungen unterbreiten und nach weiterer, diese öffentliche Diskussion berücksichtigenden Bearbeitung dem Landtag als Verfassungsgebender Landesversammlung vorlegen konnten, fand dort eine breite Mehrheit. Es war als Vollverfassung manchmal zu blauäugig oder zu vollmundig formuliert worden, aber als Staatsstatut ist es sehr solide: Es hat in Sachsen in den ersten zwanzig Jahren seit der Verfassungsgebung nicht nur keine Verfassungskrisen gegeben, sondern es waren auch keine Verfassungsänderungen notwendig. Gewünscht wurden und werden sie – soweit ich sehe, betreffen die Änderungswünsche immer Anliegen, die bereits damals im Ausschuss vorgeschlagen oder zumindest erwogen worden waren.
15Aus diesen Gründen gab es bei der Schlussabstimmung über die Sächsische Verfassung am 26. Mai 1992 auch Abgeordnete, die anders abstimmten, als es das Votum ihrer Fraktionen – Ja: CDU, SPD, FDP und Bündnis90/Grüne, Nein: Linke Liste/PDS – empfahl: Bei den Christdemokraten stimmte Wolfgang Nowak dagegen und enthielt ich mich der Stimme, bei den Bündnisgrünen übten Cornelia Matzke und Michael Weber Stimmenthaltung, bei den Kommunisten tat das Bernd Schreier. Als Ausschussvorsitzender kannte ich die Verfassungsurkunde zu gut, um nicht auch ihre Schwächen und einiges für mich Unannehmbare zu sehen; Wolfgang Nowak hat den seine Entscheidung herbeiführenden Gewissensgrund – dass der Lebensschutz der noch ungeborenen Kinder gestrichen worden war – in einer Erklärung deutlich benannt; auch den anderen abweichenden Abgeordneten sind für diese schwere Entscheidung ehrliche und tragfähige Gründe zuzurechnen. Denselben Respekt zolle ich aber auch jenen, die sich oft nach den gleichen Zweifeln zu ihrer Gewissensentscheidung durchrangen, dennoch zuzustimmen, damit Sachsen eine Verfassung erhält.
III.
16In die Verfassungsfindung im Ausschuss flossen gewiss manche tagespolitischen Fragen ein. So sind einige Quoren nur zu verstehen, wenn man sieht, dass sie auf Wunsch der SPD zustande kamen – sie ging fest davon aus, bei den nächsten Wahlen deutlich mehr Stimmen zu erhalten und dann über eine Sperrminorität zu verfügen. Dass ausgerechnet, als die SPD selbst an der Staatsregierung beteiligt war, diese Sperrminorität von den äußersten Rändern des politisches Spektrums ausgeübt werden konnte, hätte sie sich im ersten Landtag wohl nicht träumen lassen.
17In der Verfassungsgebung wurden aber auch die Vorstellungen, die die politischen Strömungen und die einzelnen Abgeordneten vom Staat und seinen Aufgaben hatten, wirksam. So ist das diesem Beitrag als Überschrift gegebene Zitat der Barmer Bekenntniserklärung Ausdruck meines christlichen Menschenbildes und damit auch Staatsverständnisses. Aus diesem Verständnis war im Frühjahr 1990 der Leipziger Entwurf (Entwurf der Leipziger CDU) für eine Sächsische Verfassung entstanden. Mit den zitierten Worten leitete ich in der zweiten Lesung des Verfassungsentwurfs auch meinen Debattenbeitrag im Plenum ein. Die Bindung staatlicher Gewalt fand damals – geboren aus den Erfahrungen mit der sozialistischen Diktatur – breite Zustimmung. Staatsallmacht und Staatsvergötzung sollten nicht wieder sein. Dass die Bindung des Staates angesichts menschlicher Unvollkommenheit und Fehlbarkeit notwendig ist und nicht wegen eines grundsätzlichen Misstrauens gegen staatliche Autorität und staatliche Institutionen, war hingegen keine so verbreitete Ansicht. Dass die Institutionen Recht und Frieden sichern, dazu staatliche Gewalt androhen und ausüben müssen, um ihrerseits die unvollkommenen, fehlbaren Menschen zu binden, auch nicht. Aber das ist die Aufgabe des Staates und nicht, Wohlstandsspender, Wohltäter und Problemlöser in allen Bereichen zu sein. Ihr Glück müssen die Menschen selbst machen und nicht vom Staat anliefern lassen – diese Konsequenz des christlichen Menschenbildes fiel und fällt auch manchen Christdemokraten, noch mehr den Sozialdemokraten schwer. In den Klausuren unseres Ausschusses merkte man das, in den Kompromissen des Verfassungstextes noch mehr.
18Dem der Öffentlichkeit im Sommer 1990 vorgelegten ersten Gohrischer Entwurf war ein anderes Zitat vorausgestellt worden,3 Sätze von Ferdinand Lassalle über das Verhältnis der Verfassung eines Landes zu seiner rechtlichen Verfassung, dem Verfassungsgesetz: „was die Verfassung eines Landes ist, nämlich: die in einem Lande bestehenden thatsächlichen Machtverhältnisse. Wie verhält es sich aber mit dem, was man gewöhnlich Verfassung nennt, mit der rechtlichen Verfassung? […] Diese thatsächlichen Machtverhältnisse schreibt man auf ein Blatt Papier nieder, giebt ihnen schriftlichen Ausdruck und wenn sie nun niedergeschrieben worden sind, so sind sie nicht nur thatsächliche Machtverhältnisse mehr, sondern jetzt sind sie auch zum Recht geworden, zu rechtlichen Einrichtungen, und wer dagegen angeht, wird bestraft!“ Mir ist nicht ganz klar, ob Steffen Heitmann bei der Wahl dieses Satzes tatsächlich an die künftige Verfassung eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates in Sachsen dachte oder an die sozialistischen Verfassungen der „DDR“. Was allerdings im Lichte Lassalle’scher Formulierungen klar wird, ist, warum einiges, das ich oben als manchmal zu blauäugig oder zu vollmundig formuliert charakterisierte, Eingang in unseren Verfassungstext gefunden hat: Die Verfassung des Freistaates Sachsen von 1992 ist ein Programmtext. Sie beschreibt eben nicht die tatsächlichen Machtverhältnisses des Frühjahrs und Sommers 1990 (Gohrischer Arbeitsgruppe) oder des Herbstes 1990 bis Frühjahrs 1992 (Verfassungsgebende Landesversammlung), sondern auch die Vorstellungen darüber, wie es sein solle.
19Die Entscheidungen in allen neuen Bundesländern gegen ein Staatsstatut, für eine so genannte Vollverfassung mit Staatszielen, Grundrechten usw. – eine im Staat des Grundgesetzes entbehrliche, aber aus dem Überschwang der demokratischen Landesgründungen und den Erfahrungen mehrerer Generationen mit zwei Unrechtsstaaten nur zu verständliche Entscheidung – sind Entscheidungen gewesen, die Vorstellungen über den Staat, so wie er werden soll, in die Verfassungsgesetze zu schreiben.
20Die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen „Verfassung eines Landes“ und seiner „rechtlichen Verfassung“, die der aus Schlesien stammende Sozialist Lassalle benannt hatte, und die möglichen Gegensätze sind damit nicht kleiner geworden. Unser Ausschuss konnte ein Verfassungsgesetz ausarbeiten, der Landtag als Verfassungsgebende Landesversammlung es beschließen. Das ist jetzt „zum Recht geworden“, aber nicht notwendig zur Verfassung. Die tatsächliche Verfassung kann auch ein Landtag nur begrenzt beeinflussen. Und wenn er es tut, geschieht es leider nicht immer im Geiste der Verfassungsgebung – die Selbstbeschneidung der parlamentarischen Demokratie aus Angst vor einem kleinen Grüppchen Abgeordneter, von denen einige NS-nostalgische Vorstellungen hegen, zeigt nicht deren Stärke, sondern die Schwäche der Demokraten. Auch eine lebendige, ergebnisoffene Auseinandersetzung, wie wir sie im Ersten Ausschuss der Verfassungsgebenden Landesversammlung geführt haben, ist aus den Ausschusssitzungen weitestgehend verschwunden und dem Plenum des Landtages fremd geworden - nur im Verfassungsgesetz steht, dass der Landtag „Stätte der politischen Willensbildung“ ist (Art. 39 II). Nach der „rechtlichen Verfassung“ besteht der Landtag aus Abgeordneten, sie vertreten das ganze Volk und sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden (z. B. Art. 39 III); die Bildung der Fraktionen ist eine vom Verfassungsgesetz der Geschäftsordnung zugewiesene Frage – tatsächlich besteht der Landtag aus Fraktionen, die Rechte fraktionsloser Abgeordneter sind trotz Art. 46 III beschränkt, und von den Rechten der fraktionsangehörigen Abgeordneten ist erst gar nicht die Rede; die nach großer Empörung der Öffentlichkeit und der Abgeordneten selbst jüngst fallengelassenen Pläne zur Beschränkung des Rederechtes im Bundestag sind im Landtage längst Wirklichkeit. In der größten Fraktion dürfen einzelne Abgeordnete inzwischen noch nicht einmal mehr Änderungsanträge stellen. – Und das alles betrifft nur jene Aspekte der Demokratie, die ein Parlament selbst wirkungsvoll ausgestalten kann.
21Dort, wo die Möglichkeiten der Verfassungs- und Gesetzgebung und der Gestaltung der tatsächlichen Verfassung des Landes nicht übereinstimmen (und auch es auch nicht können), sind die Gegensätze noch unterschiedlicher. Nach dem Verfassungsgesetz ist der Freistaat Sachsen eine parlamentarische Demokratie. Seine tatsächliche Verfassung ist am besten als konstitutionelle Bürokratie beschrieben. Immerhin: konstitutionell.
22Den Unrechtsstaat haben wir überwunden. Das ist ein Erfolg der friedlichen Revolution, aber auch eine Leistung des Verfassungsgesetzes und damit unserer Verfassungsgebung. Wir haben auch an den Anfang des Verfassungsgesetzes für den Freistaat Sachsen schreiben können: „Er ist ein […] Rechtsstaat“ (Art. 1 Satz 2). In der tatsächlichen Verfassung einen Rechtsstaat zu schaffen oder nachhaltig zu schaffen, ist uns nicht gelungen. Da ich nach der Verfassungsgebung noch zwölf weitere Jahre Vorsitzender des Rechtsausschusses war, sehe ich dieses Misslingen als persönlichen Fehlschlag, und die Frage quält mich immer wieder, ob wir Volksvertreter das nicht hätten doch erreichen gestalten können – auch wenn der Wissenschaftler in mir nüchtern sagt, dass die Legislative diesen Einfluss in einem demokratischen, also gewaltenteiligen Staat gar nicht haben kann.
23So bleibt mir, nach zwei Jahrzehnten auf eine friedliche Revolution, einen unwiederholbaren und unwiederholbar spannenden Neuanfang und die folgenden Mühen der Ebene zurückschauend, als Facit, „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ das Rechte unternommen und meist das Rechte geleistet zu haben. Man kann auf weniger stolz sein, also ist es nicht vermessen, auf das Verfassungsgesetz unseres Freistaates und seine Entstehung stolz zu sein, unter dessen vielen Vätern und nicht so vielen Müttern ich zugleich die Ehre hatte, die Hebamme zu sein – natürlich im Sinne des nicht in das Verfassungsgesetz aufgenommenen, zeitweise mit 119a bezeichneten Artikels: „Wenn […] die weibliche oder männliche Form verwendet wird, sind hiermit auch stets die Angehörigen des anderen Geschlechts gemeint […].“