1Mit dem hier anzuzeigenden Kommentarband ist die Neufaksimilierung der Dresdner Bilderhandschrift abgeschlossen, zugleich ist es, nachdem vor kurzem auch die Heidelberger Handschrift neu herausgegeben worden ist, die Neubearbeitung sämtlicher vier Codices picturati des Sachsenspiegels in modernen Faksimileausgaben, die innerhalb der letzten knapp zwanzig Jahre erschienen sind. Das eigentliche Faksimile zu dieser letzten Ausgabe ist bereits 2002 im Druck vorgelegt worden; der gleichzeitig erschienene Interimskommentar, dem 2006 ein Band mit Text und Bildkommentar folgte, wird mit dem nun vorliegenden also ersetzt.
2Systematisch orientiert sich der Band an seinen Vorgängern, mit denen die Faksimiles der anderen Codices picturati des Sachsenspiegels kommentiert wurden: so finden sich erwartungsgemäß Beiträge zur Kodikologie, Geschichte und Restaurierung des Dresdner Codex sowie Untersuchungen zur Sprache und zur Ikonographie dieser Handschrift, jeweils im Vergleich mit anderen (Bilder-)Handschriften des Sachsenspiegels, ferner Beiträge zur historischen Kontextualisierung der Entstehung des Sachsenspiegels im Allgemeinen und der Dresdner Handschrift im Besonderen sowie ausgewählte Beiträge zur Wirkungsgeschichte des Rechtsbuches, die über den konkreten Bezug zur faksimilierten Handschrift (aber nicht zum Sachsenspiegel) hinausgehen. So handelt etwa Uwe Schirmer erfreulich nah am Text über den „Sachsenspiegel als agrar- und siedlungshistorische Quelle“ für die Geschichte des mitteldeutschen Raumes (S. 37–46), Frank-Michael Kaufmann über die von ihm edierten „Glossen zum Sachsenspiegel“ (S. 99–111) und Wolfgang Schild über das strafrechtliche Verfahren wegen ungerichte, also einem schweren Verbrechen, im Sachsenspiegel (S. 113–125). Letzterer schließt damit eng, zum Teil wörtlich, an seinen Beitrag über „Das strafrechtliche Verfahren um ungericht im Sachsenspiegel. Am Beispiel der „Überführungsklage und des Rügeverfahrens“ im Kommentar zur Neufaksimilierung des Heidelberger Codex picturatus (herausgegeben von Dietlinde Munzel-Everling, Graz 2010, S. 79–99). Die Schwerpunktsetzung auf der schlichten Klage ist diesmal aber eine andere, sodass sich beide Beiträge gegenseitig ergänzen.
3Gut vertreten sind im engeren Sinne kunst- bzw. bildhistorische Beiträge, die über den Verweischarakter der Illustrationen auf eine mögliche mittelalterliche Vorstellungs- oder Alltagsrealität hinausgehen. So wenden sich sowohl Friedrich Scheele (S. 61–67) als auch Ulrike Lade-Messerschmidt (S. 69–77) – beide seit langen Jahren vertraut mit der Sachsenspiegelforschung und durch entsprechende Arbeiten gut ausgewiesen – Fragen nach der „Herstellung und Gestaltung“ der Illustrationen im technischen, aber auch im künstlerischen Sinne zu. Mehr in den Zusammenhang der historischer Kontextualisierung der Handschrift gehört dagegen Klaus Naß’ umfassender Versuch der Identifizierung der vielen Wappen der Dresdner Handschrift, die den Schluss nahe legen, die Dresdner Handschrift sei zwischen 1342 und 1363 im Meißener Raum entstanden (S. 55–59). Diese Ergebnisse schließen nahtlos an den Beitrag desselben Verfassers im Kommentarband zum Faksimile der Wolfenbütteler Bilderhandschrift (herausgegeben von Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin 1993, S. 97–105) über die dortigen Wappen an. Einen eher ungewöhnlichen Beitrag legen schließlich Marion Perrin und Michael Rockmann mit ihrem „Erfahrungsbericht“ vor (S. 47–54). Sie berichten dabei aus ihrer Arbeit an dem fortlaufenden Bildleistenkommentar, der im Textband der hier zu besprechenden Faksimileausgabe (2006) erschienen ist. Man muss sicher zwischen dem handwerklichen Ergebnis dieser Kommentierung, gegen das nichts Grundsätzliches einzuwenden ist – im Gegenteil! –, und dem hier aufgebauten methodischen Gerüst unterscheiden. Letzteres enttäuscht nämlich ein wenig, weil viel mit Schlagworten und deren ähnlich schlagwortartiger Kritik hantiert wird, aber recht wenig konkrete methodische Schlüsse für die Analysearbeit daraus abgeleitet werden. Ein Beispiel hätte hier viel Fleisch auf das Gerippe der ziemlich lavierenden Methodendiskussion gebracht. Entsprechend überrascht auch das Ergebnis nicht: „Die vielzähligen Gebärden und Gesten der einzelnen Bildzeilen erweisen sich als eine nach eigenen Regeln funktionierende Kommunikationsform, zu der Zugang zu finden nicht leicht ist. Abschließende Analysen lassen sich nicht liefern; der Bildleistenkommentar kann nur Lösungsmöglichkeiten anbieten und zu weiteren Forschungen anregen“ (S. 54).
4Ein zweiter Schwerpunkt des Kommentarbandes ist die Rezeptionsgeschichte des Sachsenspiegels. Hier wird vielfach aufgegriffen, was schon anderswo breit bearbeitet wurde, insofern mag auch vieles nicht neu erscheinen. Den wie gewohnt bündigen Überblick des Herausgebers Heiner Lück zur „Rezeption des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Osteuropa“ (S. 151–159) beispielsweise hätte man auch an anderer Stelle aus gleicher Feder finden können – was aber natürlich nichts über die unstrittige Qualität dieses Überblicks aussagt. Katarzyna Lortz bemüht sich sehr, den eigentlich schon sehr ausgearbeiteten Forschungen zur Rolle des mittelalterlichen, speziell des Sachsenspiegel-Rechts für das heutige Rechtsleben noch neue Aspekte hinzuzufügen (S. 161–168); hier und da gelingt ihr das auch, Überraschendes findet sich aber nicht mehr. Mitunter ist das auch dem Genre geschuldet: Von Kommentarbänden erwartet man eben das Raisonieren. Lesenswert, aber leider sehr knapp ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag eines der Nestoren der Sachsenspiegelforschung, Rolf Lieberwirth, über „Die Forschungen zum Sachsenspiegel in Ost und West nach 1945“ (S. 197–205); hier hätte man sich mehr gewünscht. Einen genuin neuen und entsprechend spannenden, gut bebilderten Beitrag liefert Rainer Krause, der den 1820 angelegten und heute in der Bibliothek des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg verwahrten „Codex Cropp“ bespricht (S. 127–149). Dabei handelt es sich sozusagen um die fünfte, eine sehr späte Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, nämlich um kolorierte Durchzeichnungen aus dem Wolfenbütteler und dem Dresdner Codex picturatus, die Friedrich Cropp als Vorarbeit für seine „Teutschen Denkmäler“ anlegte. Er kann eine wichtige Hilfe für die Ergänzung der stark beschädigten Dresdner Handschrift sein. Darüber hinaus stellt er gemeinsam mit den von Christian Ulrich Grupen schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angelegten Nachzeichnungen, den „Teutschen Denkmäler“von Batt und Babo sowie den von Goethe veröffentlichten Bildproben ein interessantes Stück Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte dar, das an anderer Stelle noch einmal genauer verfolgt werden müsste. Die Qualifikationsarbeit des Verfassers nämlich, die wiederholt zitiert wird und weitere Einzelheiten verspricht, ist über den deutschen Fernleihverkehr nicht zu bekommen.