1Das 200jährige Jubiläum des österreichischen „Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs“ (ABGB) im Jahre 2012 wurde mit diversen wissenschaftlichen Veröffentlichungen gefeiert, von denen das dreibändige Konzept des Verlags Duncker & Humblot wohl den umfassendsten Ansatz darstellt. Der hier besprochene Band I stammt aus der Feder Brauneders, während sich Band II noch in Vorbereitung befindet. Im Gegensatz zu den beiden ersten Bänden, die die geschichtliche Entwicklung des ABGB beleuchten, enthält der von Berger herausgegebene und bereits 2010 erschienene Band III zehn Buchbeiträge zur Geltung des ABGB in Liechtenstein sowie den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und untersucht auch dessen Einfluss auf die Gesetzgebung der Nachbarstaaten Österreichs.
2Für Konzept und Inhalt des Bandes I kann es als Glücksfall gelten, dass sich die Forschungen des Autors auch auf das österreichische Zivilrecht und die österreichischen Kodifikationsgeschichte erstrecken. Brauneder hat zur Entstehungsgeschichte des ABGB eine Vielzahl von Aufsätzen und Buchbeiträgen veröffentlicht, die auf S. 289 f. zitiert und in dem besprochenen Band aufgegangen sind. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloße Aneinanderreihung der zu diversen Einzelthemen erstellten Beiträge; diese wurden vielmehr so nahtlos in den Gesamtzusammenhang der Darstellung eingebettet, dass der Eindruck eines in sich geschlossenen Textes entsteht. Das gilt beispielsweise für den auf S. 3 ff. der „Festschrift 200 Jahre ABGB“ (2011) erschienenen Beitrag des Autors über den Einfluss des Preußischen Allgemeinen Landrechts (PrALR) auf das ABGB, der sich zum Teil im Kapitel über die Einflüsse ausländischer Kodifikationen auf das ABGB wieder findet (S. 99 ff.). Neuere Veröffentlichungen des Autors wie etwa „Die Übersetzung von Gesetzen der Habsburgermonarchie“ (2013) konnten noch keine Aufnahme finden, da das Manuskript im Wesentlichen im Jahre 2010 abgeschlossen wurde.
3Der Autor erläutert zunächst die Begrifflichkeiten, bevor er auf den institutionellen Rahmen, die Einsetzung von Gesetzgebungskommissionen (S. 25 ff.) und das Teilgesetz von 1786 eingeht (S. 23 ff., 38 ff.). Dabei tritt Brauneder der auch in Deutschland verbreiteten Annahme entgegen, dass es sich bei dem Bürgerlichen Gesetzbuch für Galizien des Jahres 1797 lediglich um einen „Testlauf“ für das spätere ABGB gehandelt habe (S. 43 ff.). Mit überzeugenden Argumenten wird dargelegt, dass dieses Gesetzbuch die erste vollständige und im Vergleich zum PrALR von 1794 reine Zivilrechtskodifikation gewesen sei, die sich bisher im „Dunkel der Privatrechtsgeschichte“ befunden habe. Ausführlich diskutiert werden sodann die Entstehungsgeschichte des ABGB und seine Entwicklungstendenzen, unter anderem auch hinsichtlich der Gesetzesauslegung und der Rolle des Gewohnheitsrechts (S. 57 ff.).
4Einen weiteren und der Bedeutung für das ABGB angemessenen Schwerpunkt setzt der Autor bei dessen naturrechtlichen Grundlagen (S. 68 ff.). Im Einklang mit der herrschenden Lehre wird das ABGB als „Gesetzbuch des Naturrechts“ charakterisiert (S. 73) und anhand diverser Beispiele wie der titulus-modus-Lehre oder den Aufopferungsansprüchen der Lex Rhodia de Iactu (Digesta 14, 2) erläutert (S. 75, 98). Wie wenig der Rechtsstoff des Gemeinen Rechts in das ABGB Eingang gefunden hat, zeigt sich vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Gesetzes (S. 96 f.). Dies gilt auch für die auf S. 88 ff. vorgestellten schwachen Einflüsse des deutschen Rechts auf das ABGB, wobei sich die gegebene „Gemengelage“ von mehr oder weniger stark ausgeprägten deutsch-, römisch- und naturrechtlichen Elementen durchaus entwirren lässt. So können einzelne Institutionen ihren rechtlichen Ursprüngen zugeordnet werden, beispielsweise die auf das Naturrecht zurückgehende gesetzliche Erbfolge, die aus dem Gemeinen Recht stammende rechtsgeschäftliche Erbfolge und der deutschrechtliche Erbvertrag (S. 89).
5Wegen der ganz überwiegenden naturrechtlichen Elemente des ABGB sieht Brauneder den Einfluss des PrALR lediglich als relativ schwach und zudem nur in der zweiten Kodifikationsphase als gegeben an (S. 99 ff.). Noch geringeren Einfluss als das PrALR hatte lediglich der Code Civil von 1804 (S. 108), und das trotz (oder vielleicht wegen) seiner Geltung in Osttirol, Oberkärnten, Dalmatien, Krain, Istrien und Triest zwischen 1812 und 1814 (S. 111).
6Die systematische Darstellung der Entstehung und Entwicklung eines sowohl von seiner Thematik als auch im Hinblick auf seinen Geltungsbereich so umfassenden Gesetzeswerks kommt nicht ohne Ausführungen zur Bezeichnung, Gliederung des Rechtsstoffs und Erläuterungen der Begrifflichkeiten aus (S. 113 ff., 177). Neben dem Verlauf der Gesetzgebung als solcher geht es auch um die Kundmachung des Gesetzes in einer heute kaum mehr vorstellbaren Kompliziertheit (S. 133), wobei im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie Übersetzungen insbesondere in die slawischen Sprachen erforderlich waren (S. 151, 156). Trotz der kurzen Geltungsdauer des ABGB in Ungarn zwischen 1853 und 1861 erschienen auch Übersetzungen in ungarischer Sprache (S. 157), die nach der Rückkehr Ungarns zu seiner traditionellen Rechtsordnung möglicherweise Ausstrahlungswirkungen entfaltet haben.
7Obwohl das ABGB auch in Bayern aufmerksam zur Kenntnis genommen und von bedeutenden zeitgenössischen Juristen wie von Gönner erörtert wurde (S. 199, 203), war sein Einfluss dort gering. Der Umstand, dass das ABGB in einigen kleineren von Österreich an Bayern abgetretenen Gebieten bis zur Einführung des BGB im Jahre 1900 galt, spielte in diesem Zusammenhang offensichtlich keine Rolle.
8Brauneder geht in der Folge nicht nur auf die Bedeutung des ABGB für die Belehrung der Untertanen und seinen Einfluss auf Rechtsunterricht und Rechtswissenschaft ein (S. 228 ff.), sondern auch auf dessen Würdigung in der zeitgenössischen Literatur (S. 252 ff.). Dabei wird das ABGB als Ergebnis der Rechtswissenschaft seiner Zeit dargestellt (S. 254), die das Gesetz ganz überwiegend positiv aufgenommen habe. Einzig die Kritik Savignys sticht dabei heraus, wobei diese auf dessen grundlegende Abneigung gegen alle Kodifikationen zurückzuführen sei und auch das PrALR und den Code Civil nicht verschont haben soll (S. 253).
9Hinsichtlich der Ausführungen zur territorialen Geltung des Gesetzes waren Überschneidungen mit dem von Berger herausgegebenen Band III nicht ganz vermeidbar (S. 257 ff.), halten sich aber auf knapp vier Seiten in einem Rahmen, der für das Verständnis der Gesamtdarstellung notwendig und angemessen erscheint. Die Darstellung der Einflüsse der historischen Rechtsschule auf das ABGB im Sinne einer „Pandektisierung“ nach dem Vorbild des BGB und ZGB (S. 282 ff.) führt den Autor zu den drei Teilnovellen der Jahre 1914 bis 1916. Der Rückblick auf die 100-Jahr-Feier das ABGB am 1. Juni 1911 beschließt den Band, der damit neben der Gesetzgebungsgeschichte exakt 100 Jahre Gesetzesgeschichte abdeckt. Die Entwicklung bis zur 200-Jahr-Feier dürfte dann Band II vorbehalten sein.
10Das hier besprochene Werk stellt eine ganz hervorragende und umfassende Darstellung der Kodifikationsgeschichte des ABGB dar, die mit manchen Irrtümern aufräumt, bisher wenig bekannte Aspekte in systematische Zusammenhänge stellt und auch anhand von Schemata verständlich erläutert. Angesichts der Tiefe der Ausführungen und ihrer Systematik schließt der Band eine Lücke zur Historie des ABGB und bildet die Grundlage für ein tieferes Verständnis der mit der österreichischen Tradition verbundenen Zivilrechtssysteme Mittel- und Osteuropas. Für jeden Rechtshistoriker und Zivilrechtler in Deutschland, Österreich und den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie ist das Buch wärmstens zu empfehlen; es wird aber sicherlich auch jeden an der kontinentaleuropäischen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts interessierten Juristen ansprechen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es im Zusammenhang mit Band III gelesen wird. Man darf sich deshalb auf Band II freuen und gespannt sein, welche juristischen Entdeckungen Brauneder dort dem „Dunkel der Privatrechtsgeschichte“ entreißen wird.