journal Debates "An interview with ..."

Felipe Temming (Leibniz Universität Hannover)

Interview mit Professor Dr. Dres. h.c. Peter Hanau*

11). Lieber Herr Hanau, ich möchte mit Ihnen über Geschichte, Gegenwart und wahrscheinliche Zukunft des Arbeitsrechts sprechen. Indem wir das Arbeitsrecht derart Revue passieren lassen, würden mich natürlich auch Ihr persönlicher Rückblick auf Ihre Zeit als Wissenschaftler interessieren. Zunächst eine Vorfrage: Was ist die Geschichte Ihrer Begegnung und Beschäftigung mit dem Arbeitsrecht?

2Es ist die Geschichte einer nunmehr 60 Jahre alten Faszination von einer Materie, die mit den Mitteln des Rechts einen wichtigen Beitrag zu Zusammenhalt und Funktionieren von Staat und Gesellschaft liefert. Bedeutende Lehrer an der Universität Göttingen waren daran beteiligt, mir den Zugang zu erschließen. Zunächst Prof. Wolfgang Siebert, der nach einer Verstrickung im Nationalsozialismus zu seiner großen rechtsdogmatischen Kunst zurückgefunden hatte.1 Danach Prof. Franz Gamillscheg, ein weltweit anerkannter Meister des deutschen, ausländischen und internationalen Arbeitsrechts. Nach Beginn als Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin im turbulenten Wintersemester 1968/69 bin ich seit dem Wintersemester 1971 an der Universität zu Köln tätig; dank der Unterstützung durch meinen Nachfolger Prof. Preis nach der Emeritierung im Jahr 2000 noch in der Forschung.

32). Gab es ein Schlüsselerlebnis in der Vorlesung oder einem Seminar für Ihr immerwährendes Interesse am Arbeitsrecht?

41956 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass mitbestimmungswidrige Arbeitgeberweisungen unwirksam sind. Als dies im Siebert-Seminar behandelt wurde, verstand ich, dass die Betriebsverfassung wirklich eine Verfassung einer eigenständigen Organisation ist, mit Arbeitgeber und Betriebsrat als Gesetzgeber. Dies war die Initialzündung für meine Neugier auf das kollektive Arbeitsrecht.

53.) Sie haben Siebert und Gamillscheg als prägende Persönlichkeiten erwähnt. Wie war das für Sie als Student, einerseits von der aktiven Verstrickung Sieberts mit dem Nationalsozialismus zu wissen und gleichzeitig über ihn das Arbeitsrecht nahe gebracht zu bekommen? Siebert hatte 1950 trotz seiner Vergangenheit einen Lehrauftrag an der Universität Göttingen bekommen und wurde drei Jahre später dort ordentlicher Professor.

6Wir haben nie darüber gesprochen. Mir genügte, dass seine Vergangenheit keine Spuren hinterließ; zum Richter über ihn fühlte ich mich nicht berufen. Dabei mag der Zeitgeist eine Rolle gespielt haben, der von dem Vergangenen nichts mehr wissen und in die Zukunft blicken wollte. Das diente nicht nur der politischen Entlastung Belasteter, sondern auch der seelischen Entlastung Unbelasteter.

74). Wie sind Sie und Ihr späterer akademischer Lehrer Franz Gamillscheg sich begegnet? Gab oder gibt es heute noch etwas, was Sie an ihm fasziniert hat oder was er Ihnen mitgegeben hat?

8Gamillscheg war Sieberts Nachfolger in Göttingen. Seine Werke, von der Habilitationsschrift über Internationales Arbeitsrecht bis zu den beiden großen Bänden zum Kollektiven Arbeitsrecht faszinieren, weil sie schwierige Probleme leicht, geradezu elegant zugänglich machen, das umfangreiche Material vollständig darstellen und doch stets zu einem unabhängigen Standpunkt gelangen. Die Lektüre ist ein fortgesetzter Genuss. Er hat mir dies als Vorbild mitgegeben, leider unerreichbar. Mitgegeben hat er mir auch das Interesse an der Rechtsvergleichung, die nicht nur fremde Rechte, sondern auch das Eigene besser verstehen lässt. Wegweisend war für mich auch die berühmte Erkenntnis Gamillschegs, dass der Richter Herr des Arbeitsrechts ist. Dies begründete mein andauerndes sachliches und persönliches Interesse an der Arbeitsgerichtsbarkeit.

95). Ihre beiden Qualifikationsschriften, die Dissertation (Objektive Elemente im Tatbestand der Willenserklärung, 19632) und die Habilitationsschrift (Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 19683), behandeln klassische bürgerlich-rechtliche Themen. Inwieweit war die monographische Befassung mit dem BGB von Bedeutung für Ihr Interesse am Arbeitsrecht und die Art und Weise, wie Sie dieses Rechtsgebiet später begleitet und mit entwickelt haben? Wie hat Gamillscheg Sie an das Arbeitsrecht wissenschaftlich herangeführt? 1974 erschien die zweite Auflage von Gamillschegs „Die Haftung des Arbeitnehmers“,4 bei der Sie als Mitautor mitwirkten. Zu dem Zeitpunkt waren Sie schon ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin.

10Die Dissertation stammt aus meiner Anfangszeit, in der ich dem Arbeitsrecht noch nicht so verhaftet war. Auslöser war meine Mitwirkung an der Bearbeitung der §§ 157 und 242 in der 9. Auflage des Kommentars zum BGB von Soergel-Siebert, 1959. Nachdem Siebert Ende 1959 starb, hatte Gamillscheg die Betreuung der Dissertation übernommen.

11Auslöser der Habilitationsschrift war eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu der Frage, ob eine Gewerkschaft einem Schadenersatzanspruch wegen eines friedenspflichtwidrigen Arbeitskampfes entgegenhalten kann, dass der Arbeitskampf auch bei Einhaltung der Friedenspflicht ausgebrochen wäre. Darüber hat das BAG in diesem Jahr wieder verneinend entschieden5. Mir ging es vor allem darum, diesen und die vielen gleich gelagerten Fälle in eine allgemeine Theorie einzufügen. Die Rechtsprechung orientiert sich allerdings bis heute lieber an den Einzelfällen.

12Die Mitwirkung am Soergel-Siebert und an dem von Gamillscheg begründeten Werk über die Haftung des Arbeitnehmers zeigen, wie mich beide Lehrer an die Wissenschaft herangeführt haben, durch frühe Gelegenheit zur selbständigen Mitarbeit. Zu Ihrer Frage nach der Bedeutung meiner frühen monographischen Befassung mit dem BGB für meinen späteren Umgang mit dem Arbeitsrecht ist zu bemerken, dass diese Befassung ihren Schwerpunkt in der Kommentierung des § 242, also des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben hatte. So etwas geht an einem nicht spurlos vorrüber und schafft Misstrauen gegen formale Argumentationen ohne Bezug auf Grundwerte wie Treu und Glauben.

136). Bevor wir zum Arbeitsrecht zurückkehren, eine Frage noch zu Ihrer ersten Wirkungsstätte an der Freien Universität Berlin. Sie wurden dorthin 1968 berufen. Wie haben Sie diese Zeit und die 68er-Studenten erlebt? Gibt es ein besonderes Erlebnis, was Sie mit dieser – wie Sie beschreiben – „turbulenten“ Zeit verbinden – vielleicht auch später als Dekan bzw. Fachbereichsvorsitzender?

14Ich hatte mich in der Notgemeinschaft für eine freie Universität gegen Eingriffe in die Freiheit von Lehrenden und Lernenden engagiert. Das war eine ernste Sache, doch gab es auch komische Momente. So wurde ich von einem Lehrbeauftragten für katholische Theologie angerufen, der sagte, er stehe in seinem Dienstzimmer auf einem Tisch und werde von tobenden Studenten belagert. Ich sagte ihm, er solle einfach auf den Fußboden und nach Hause gehen. Das scheint geklappt zu haben.

15Bei der Beurteilung der 68er muss man m.E. unterscheiden zwischen der legalen Bewegung der damaligen Studentengeneration und einer Minderheit, die die Grenzen des Rechts nicht respektierte. Sie war bei den Juristen kaum vertreten; die Zusammenarbeit mit den Studenten unserer Fakultät und ihren Vertretern im Fakultäts- und Fachbereichsrat war störungsfrei. Als Störungen von außen nicht enden wollten, beschloss der Fachbereichsrat (wenn ich mich nicht irre, im Sommersemester 1970 mit 11 zu 10 Stimmen) Einlasskontrollen für das Gebäude der Fakultät. Dann war Ruhe.

16Bis heute hat mich betroffen gemacht, dass ich von einem studentischen Vertreter im Fachbereichsrat gebeten wurde, nach dem Unfalltod eines anderen studentischen Vertreters auf ein Gedenken im Fachbereichsrat zu verzichten. Ich habe mich daran gehalten, bin aber bis heute traurig, dass der politische Gegensatz nicht einmal vor dem Grab Halt machte. Das sollte nicht sein.

17Auch in Köln habe ich mich gerne an der akademischen Selbstverwaltung beteiligt und dabei meine Erfahrungen aus Berlin nutzen können. Es gab sogar einmal eine Rückkehr nach Berlin, als ich nach der Wende an der gelungenen Reorganisation der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mitwirken durfte.

187). Lassen Sie uns nun auf das Arbeitsrecht zurückblicken: Wie hat sich der arbeitsrechtliche Kosmos seit seiner Entstehung entwickelt?

19Wie der natürliche Kosmos: nach einem Urknall in ständiger Expansion. Urknall war das berühmte preußische Regulativ zur Beschränkung der Kinderarbeit von 1839. Freilich gab es schon vorher Arbeitsrecht, aber das war ein anderer Kosmos. Die Entwicklung nach dem Urknall ging in die Richtung eines immer stärkeren Arbeitnehmerschutzes und ist bis heute nicht beendet.

208). Das klingt nach einer gleichmäßigen Entwicklung zugunsten der Arbeitnehmer. Gab es keine Brüche oder Sprünge? Wie lässt sich in diesem Zusammenhang das Wirken der Kollektive, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, bewerten?

21Sprünge schon, Brüche weniger. Die Sprünge ergaben und ergeben sich daraus, dass Arbeitsrecht wesentlich politisches Recht ist, sodass jede größere politische Veränderung Veränderungen des Arbeitsrechts mit sich bringt. Dies begann schon mit dem Übergang von Reichskanzler Bismarck zu Kaiser Wilhelm II. Bismarck hatte Bedenken gegen einen weiteren Ausbau des Arbeitsrechts, weil er Arbeitsplätze gefährden könnte, während Kaiser Wilhelm II. auf internationale Arbeitskonferenzen setzte, die durch Angleichung des Arbeitsrechts in konkurrierenden Ländern Gefahren für den inländischen Arbeitsmarkt abwenden sollten. Im Grunde ist diese Frontstellung bis heute geblieben.

22Zu Ihrer Frage nach den Kollektiven: Die Gewerkschaften waren zuerst und bildeten sich vor allem nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871, erst bekämpft, dann geduldet und in der Weimarer Republik zu einem wichtigen Akteur geworden. Die Bildung der Arbeitgeberverbände war eine Reaktion darauf. Die Krise der Weimarer Republik erfasste auch die Tarifpolitik durch Zwangsschlichtung und gesetzliche Eingriffe in die Lohnfestsetzung. Das Grundgesetz brachte dann die Garantie der Koalitionsfreiheit und damit der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 GG, die die Kollektive zu einem maßgebenden Faktor des Arbeitslebens und des Arbeitsrechts werden ließ. Das Mindestlohngesetz von 2014 zeigt freilich, dass die autonome Regelung einer staatlichen Abstützung bedürfen kann.

23In der Rechtsprechung des BAG gab es keine großen Sprünge, aber doch drei Phasen, die ich 2014 in meiner kurzen Chronik 60 Jahre BAG skizziert habe.

24Brüche waren abgesehen vom Nationalsozialismus selten. Der Nationalsozialismus beseitigte das kollektive Arbeitsrecht, ließ das übrige Arbeitsrecht aber für die deutschen Arbeitnehmer im Wesentlichen bestehen, mehr und mehr ergänzt durch rechtlose Sklavenarbeit in oder bei den Konzentrationslagern.

25Einen kurzen Bruch gab es in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts und im Rahmen der sog. Agenda 2010, als erst eine CDU- und dann eine SPD- geführte Bundesregierung und Parlamentsmehrheit an Bismarck anknüpften und den Ausbau des Arbeitsrechts im Interesse der Arbeitsplatzerhaltung bremsten.

26Das Arbeitsrecht der DDR hatte so viel oder so wenig Arbeitnehmerschutz, wie es in einer staatlich diktierten Planwirtschaft möglich ist. Vor der Wende gab eine von dem Kollegen Thilo Ramm initiierte Kommission mit Fachkollegen aus der DDR willkommene Gelegenheit zur deutsch-deutschen Rechtvergleichung. Nach der Wiedervereinigung blieben vom DDR-Arbeitsrecht nur einige Übergangsvorschriften im Einigungsvertrag.

279). Sie haben eben drei Phasen in der Rechtsprechung des BAG angesprochen, die Sie in Ihrer Chronik mit „Grundlegung“, „Weiterentwicklung“ und „Neustart“ der Rechtsprechung des BAG betitelt haben. Was charakterisiert diese drei Phasen?

28Das Arbeitsrecht folgte von Anfang an zum Schutz der Arbeitnehmer zwei verschiedenen Richtungen, Einschränkungen der individuellen und Ausbau der kollektiven Betätigungs- und Vertragsfreiheit. Beides bestimmte auch Grundlegung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des BAG, traf aber in beiden Richtungen auf Hindernisse. Der Ausbau des kollektiven Rechts wurde bis 1995 durch die Beschränkung der verfassungsrechtsetzenden Koalitionsfreiheit und des auf ihr beruhenden Tarif- und Arbeitskampfrechts auf einen Kernbereich gehemmt, während die Einschränkung der Arbeitsvertragsfreiheit bis zu der 2002 erfolgten Einbeziehung des Arbeitsvertrages in das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen trotz innovativer Ansätze Stückwerk bleiben musste. Nachdem diese beiden Hindernisse beseitigt waren, konnte und musste es zu einem Neustart der Rechtsprechung kommen, zu neuen Schritten in die alten Richtungen.

2910). Ein kurzer Blick nach Europa: Kollisionsrechtlich gesprochen hat man mehr und mehr den Eindruck, vom „autonomen“ deutschen Arbeitsrecht sprechen zu müssen, welches von seinem europäischen Pendant an den Rand gedrückt wird. Wie erklärt es sich, dass das europäische Arbeitsrecht einen so großen Einfluss auf das doch weit entwickelte deutsche Arbeitsrecht hatte?

30Das EU-Recht enthält in der Charta zahlreiche arbeitsrechtlich relevante Grundrechte und im Unionsvertrag (AEUV) eine weitgehende Ermächtigung für arbeitsrechtliche Richtlinien. Dies beschränkt sich nicht auf grenzüberschreitende Regelungen wie das internationale Arbeitsrecht, die Mindestarbeitsbedingungen aus dem Ausland entsandter Arbeitnehmer und die Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft, bei denen Einfluss und Vorrang des europäischen Rechts selbstverständlich sind. Vielmehr hat es auch einen weitgehenden Einfluss auf das nationale Arbeitsrecht. Dies beruht zum Teil drauf, dass das deutsche Arbeitsrecht doch nicht überall zeitgemäß war, insbesondere im Bereich des Antidiskriminierungsrechts. Außerdem hat der Europäische Gerichtshof das Bundesarbeitsgericht in der Expansion des Arbeitnehmerschutzes häufig überboten, auch auf Grund von Vorlagen deutscher Instanzgerichte. Man kann aber nicht sagen, dass das deutsche Arbeitsrecht vom europäischen an den Rand gedrückt wird, eher dass es zugunsten der Arbeitnehmer vorwärts gerückt wird, bisweilen auch zurück. Das BAG bittet den EuGH allerdings neuerdings öfter, aus deutscher Sicht schwer verständliche Entscheidungen zu überdenken6.

3111). Gibt es umgekehrt Ausstrahlungen des deutschen Arbeitsrechts auf das Ausland?

32Besonders in Japan, wegen ähnlicher Traditionen und Probleme. Ein kleines Indiz dafür ist, dass die 10. und 14. Auflage meines mit Klaus Adomeit verfassten Lernbuchs des Arbeitsrechts in das Japanische übersetzt wurden. Eine Besonderheit ist bisher unsere Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieben und Unternehmen. Das Interesse daran wächst aber auch im Ausland, wie ich es in Schweden erfahren habe, wo ein eigenständiges Mitbestimmungsrecht entwickelt wurde. Dazu passt, dass Theresa May, die neue englische Premierministerin, eine Vertretung der Arbeitnehmer in der Unternehmensleitung anstrebt. Die größten Ausstrahlungen nationaler Arbeitsrechte dürften sich heutzutage freilich im übernationalen, insbesondere im europäischen Arbeitsrecht finden.

3312). Was die Indizien für das japanische Interesse am deutschen Arbeitsrecht anbelangt, so ist dieses gelungene Lernbuch in der Tat nur ein kleines von mehreren. Sie haben sich mehr als dreißig Jahre lang intensiv im deutsch-japanischen Wissenschaftsaustausch engagiert. Noch heute pflegen Sie Kontakt mit führenden japanischen Arbeitsrechtlern. Was bedeutet für Sie die poetische Umschreibung „Aufgehende Sonne mit Stern, goldenen und silbernen Strahlen“? Sie wissen, ich spiele auf ein besonderes Ereignis im Jahre 2009 an.

34Sie meinen die Verleihung des so bezeichneten Ordens, der wohl nach der japanischen Mythologie benannt wurde. Die Verleihung des Ordens hat mich sehr gefreut und geehrt; die von ihm ausgehenden Strahlen erwärmen mein Herz.

3513). Das Arbeitsrecht ist jedenfalls vordergründig durch den Interessengegensatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geprägt. Es liegt nahe, dass dies auf das Vorverständnis und damit auf die Rechtsaufassungen der mit dem Arbeitsrecht befassten Richter und Rechtswissenschaftler ausstrahlt. Lässt sich darüber etwas Allgemeines sagen, insbesondere in Bezug auf Richter und Rechtswissenschaftler? Also über das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität der Rechtsfindung? Sie haben einmal festgestellt: Neue Richter, neues Recht, von dem früheren BAG-Präsidenten Prof. Dieterich ergänzt durch die Feststellung: alte Richter, altes Recht. Was steckt dahinter?

36Man wird zwischen Rechtswissenschaftlern an den Universitäten und Richtern unterscheiden müssen, weil die nicht richterlich tätigen Rechtswissenschaftler in der Berücksichtigung ihres Vorverständnisses freier sind. Es schadet nicht und kann hilfreich sein, wenn ein Rechtswissenschaftler deutlich von einem arbeitnehmer- oder arbeitgebernahem Vorverständnis ausgeht und dies auf seine Rechtsaufassungen durchschlagen lässt. Er kann damit einen wichtigen Aspekt zur Rechtsfindung beisteuern, ähnlich wie ein Rechtsanwalt zu einem Urteil. Andere Rechtswissenschaftler, zu denen ich mich zählen würde, zieht es mehr in die Mitte und zu dem Bemühen, die verschiedenen Interessen und Aspekte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das kann zu der einen oder anderen Seite ausschlagen, je nachdem was zur Sicherung des Systems und seines Gleichgewichts erforderlich scheint. So habe ich 1969 unabhängig voneinander dargelegt, einerseits dass die Tarifautonomie durch den üblichen unentgeltlichen Gemeingebrauch der Tarifverträge geschwächt wird, andererseits eine uneingeschränkt paritätische Mitbestimmung (die es nicht gibt, aber damals gefordert wurde), die Unabhängigkeit der Arbeitgeberseite und damit eine unverzichtbare Voraussetzung der Tarifautonomie in Frage stellen würde7.

37Die Richter haben es schwerer, weil sie es im Wesentlichen selbst schaffen müssen, ihr eigenes Vorverständnis mit Alternativen abzugleichen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie dies gelingen kann, zeigt die in diesem Jahr erschienene Autobiografie von Thomas Dieterich „Ein Richterleben“.

38Die von Ihnen zitierten Feststellungen über neue und alte Richter dürften teils auf verschiedenen Vorverständnissen beruhen, teils auf personen- und generationsbedingt verschiedenen Rechtsaufassungen.

3914). Hat die alte und neuerdings wieder aufgeflammte rechtswissenschaftliche Methodendiskussion im Arbeitsrecht eine besondere Färbung und Bedeutung? Gibt es Unterschiede zu den Diskursen im übrigen Privatrecht? Wann sind für Sie Methodenfragen zu bedeutenden Fragen geworden?

40In der Tat ist die schon von den altrömischen Rechtsgelehrten geführte Diskussion über die Auslegung und Fortbildung des Rechts besonders im Arbeitsrecht wieder aufgeflammt. Da es im Arbeitsrecht große, zwar nicht rechts-, aber gesetzesfreie Räume gibt, ist immer wieder zweifelhaft, wie sie auszufüllen sind. Aber auch die Auslegung der vorhandenen Gesetze ist besonders kontrovers, wenn dahinter die Kollision von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen steht. Außerdem hat ein einflussreicher Arbeitsrechtler, Prof. Dr. Bernd Rüthers, den Nachweis geführt, dass der schnelle Übergang der meisten Richter zu Geist und Grundsätzen des Nationalsozialismus bzw. des DDR-Sozialismus nicht auf positivistischem Gehorsam gegenüber Gesetzen beruhte, sondern auf vorauseilendem Gehorsam im Dienste des Gesamtsystems. Dann liegt der Schluss nahe, dass ja Richter sich im Gegensatz dazu heute eng auf die einzelnen Gesetze und nicht auf den Geist des Gesamtsystems stüzen sollten, auch wenn es nicht mehr auf einem pervertierten Rechtsverständnis beruht. Dem lässt sich freilich entgegenhalten, dass der Geist guter Rechtssysteme stärkere Beachtung verlangt als der schlechter. Deshalb geht der Methodenstreit weiter, mit dem Bundesverfassungsgericht als immer wieder angerufener letzter Instanz auch in Fragen der juristischen Methodenlehre8.

4115). Wie sehr ist das Arbeitsrecht Privatrecht oder – umgekehrt formuliert – wie wenig ist das Privatrecht Arbeitsrecht? Aktuell wird ja wieder über eine Reform des Prüfungsstoffes debattiert, bei der die Nebengebiete und damit das Arbeitsrecht das Nachsehen haben werden.

42Das deutsche Arbeitsrecht ist immer noch in fast allen Einzelheiten Privatrecht unter weitgehendem Ausschluss der ihm innewohnenden Missbrauchsmöglichkeiten. Vielleicht ist es heute sogar das ideale Privatrecht, denn zur sozialen Marktwirtschaft gehört ein soziales Privatrecht. Dass die Bedeutung des Arbeitsrechts in Studium und Staatsprüfung reduziert werden soll, ist mir angesichts seiner Bedeutung unverständlich.

4316). Wie sehr und was können wir aus der Geschichte des Arbeitsrechts lernen bzw. wie geschichtsbewusst kann und darf das Arbeitsrecht sein. Sie hatten vorhin bspw. auf Kaiser Wilhelm II. hingewiesen, der durch Angleichung der Arbeitsrechtssysteme mit Hilfe von internationalen Arbeitskonferenzen Gefahren für das inländische Arbeitsrecht abwenden wollte. Diese strategische Haltung war auch von Seiten Frankreichs zu beobachten, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1958 gegründet wurde. Der Grundsatz der Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen verdankt seine Existenz in den Römischen Verträgen maßgeblich diesem Gesichtspunkt, da Frankreich ihn damals im Unterschied zu den fünf anderen damaligen Mitgliedstaaten schon weit verwirklicht hatte.

44Ganz allgemein kann man aus der Geschichte des Arbeitsrechts lernen, dass es kein Schön-Wetter-Recht, sondern in politischen und wirtschaftlichen Notzeiten besonders wichtig und auch noch leistungsfähig ist. Die von Ihnen genannten historischen Beispiele belegen, dass die nationalen Arbeitsrechte seit dem Beginn von Industrialisierung und Globalisierung nicht isoliert gesehen werden dürfen und existieren können.

4517). Ein Grund für diese Fragen hängt mit der Diskussion des Arbeitsrechts auf den Deutschen Juristentagen zusammen. Haben Sie rückblickend betrachtet über die vergangenen Jahrzehnte einen Wandel der Diskussionskultur erlebt? Woher resultiert dieses extreme und schier unversöhnliche Lagerdenken im Arbeitsrecht?

46Lagerdenken ist für das Arbeitsrecht normal und scheint mir nicht stärker geworden zu sein. Wichtig ist aber das Gespräch zwischen den Lagern und dafür hat der Deutsche Juristentag an Bedeutung verloren. Er sollte sein Verfahren in diesem kontroversen Bereich überdenken. Ein anderes Forum für solche Gespräche bietet der wie der DJT seit über 100 Jahren bestehende Deutsche Arbeitsgerichtsverband.

4718). Beim Deutschen Arbeitsgerichtsverband waren Sie von 1990 bis 1999 Präsident, wurden mit der Festschrift „Arbeitsrecht und Sozialpartnerschaft“ verabschiedet und sind seitdem dort Ehrenpräsident. Kann der Arbeitsgerichtsverband das drohende Vakuum im DJT vollständig ausgleichen oder fehlen hier nicht vielleicht weitere objektive Institutionen, die sich mit Arbeitsrecht befassen? Das Internationale Privatrecht hat den einflussreichen Deutschen Rat für IPR. Für viele Rechtsgebiete existiert ein MPI, bspw. für Rechtsgeschichte.

48Es gibt in der Tat kein Max-Planck-Institut für Arbeitsrecht. Bei der Gründung des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht soll man bewusst von der Einbeziehung des Arbeitsrechts abgesehen haben, um die für es typischen Konflikte fernzuhalten. Für das europäische Arbeitsrecht gibt es ein spezielles Institut an der Universität Trier, doch wäre darüber hinaus die Schaffung einer arbeitsrechtlichen Abteilung in dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht wünschenswert. Dies wäre die Vollendung des Lebenswerks von Franz Gamillscheg, der an diesem Institut seine Leidenschaft und Leistung für die arbeitsrechtliche Rechtsvergleichung begründet hat. Auch könnte es dazu beitragen, dass das europäische Arbeitsrecht noch mehr als bisher nicht nur in vielen nationalen Gremien und Kreisen, sondern von Europäern verschiedener Herkunft miteinander behandelt wird.

4919). Ein anderes Thema: Neuerdings spielt in der Rechtspraxis das Thema „Compliance“ eine große Rolle, die Sicherung der Befolgung von Rechtsvorschriften. Wie steht es damit im Arbeitsrecht?

50Das Arbeitsrecht hat unter seinem Leitmotiv des Arbeitnehmerschutzes die Compliance der Arbeitgeber zugunsten der Arbeitnehmer früh ausgebaut. So hat der Betriebsrat die gesetzliche Aufgabe, darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften durchgeführt werden. Über die Einhaltung des Mindestlohngesetzes wachen staatliche Stellen.

51Ein allgemeiner Beitrag des Arbeitsrechts zur Compliance ist die zunehmend anerkannte Zulässigkeit des „Whistleblowings“ von Arbeitnehmern, also der Anzeige von Rechtsverstößen im Unternehmen nach außen. Diese Anglizismen dürften nicht nur auf der verbreiteten Neigung beruhen, englische Sprachkenntnisse zu präsentieren, sondern auch zeigen, dass dies alles in Deutschland noch nicht heimisch geworden ist.

5220). So viel zur bisherigen Entwicklung. Nun zur Gegenwart, zum heutigen Stand. Ist der Vormarsch des Arbeitnehmerschutzes ungebrochen? Oder machen sich Gegenkräfte stärker bemerkbar? Ich frage, weil ich den Eindruck habe, dass das Bundesarbeitsgericht dem Arbeitgeber in einigen für ihn essentiellen Fragen seit jeher entgegenkommt (bspw. allgemeine Altersgrenze 65 plus X, ein fast grenzenloses Weisungsrecht zu seinen Gunsten, das Mittel der Austauschkündigung, um den Arbeitsvertrag durch andere selbständige Tätigkeitsverträgen zu ersetzen).

53Gegenkräfte machen sich bemerkbar, aber nach meinem Eindruck nicht beim Bundesarbeitsgericht. Die arbeitsrechtliche Anerkennung der sozialrechtlichen Altersgrenze dient nicht nur den Arbeitgebern, sondern auch den jüngeren Arbeitnehmern. Die beiden anderen von Ihnen genannten Fälle lassen sich nicht verallgemeinern und durch Einzelfälle in der anderen Richtung ergänzen, etwa durch eine 2014 ergangene Entscheidung des BAG, die einem Arbeitnehmer eine Urlaubsabfindung zusprach, obwohl er im ganzen Jahr auf eigenen Wunsch nicht gearbeitet hatte, zu viel Urlaub vom Urlaub9.

54Gegenkräfte kommen weniger von außen als aus dem Arbeitsrecht selbst, das seinen Zweck verfehlen würde, wenn es dazu führt, dass Arbeitsplätze in erheblichem Umfang nachweislich nicht finanzierbar werden und entfallen oder erst gar nicht geschaffen werden. Es ist sogar zu fragen, ob das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes verletzt wird, wenn eine arbeitsrechtliche Vorschrift so wirkt. Bisher haben Gesetzgeber und Tarifparteien diese immanente Grenze des Arbeitsrechts meist beachtet.

5521). Schließlich zur Zukunft: Was kann man hier vermuten? Kann man schon erkennen, wie sich weitere Globalisierung, Digitalisierung und Roboterisierung auf das Arbeitsrecht auswirken? Wie sieht der Arbeitnehmer der Zukunft aus?

56Ein Emeritus ist eher zum Rückblick als zum Ausblick berufen. Immerhin ist wohl schon deutlich, dass für den unselbständig Beschäftigten der Zukunft weniger die Weisungsbindung in Bezug auf Ort, Zeit und Art der Arbeit kennzeichnend sein wird als die wirtschaftliche Abhängigkeit, die bisher als Merkmal nicht des Arbeitnehmers, sondern der Arbeitnehmerähnlichkeit angesehen wird. Einer Fortbildung des Arbeitnehmerbegriffs in dieser Richtung steht möglicherweise entgegen, dass er in diesem Jahr in § 611a BGB im herkömmlichen Sinne gesetzlich geregelt worden ist. Dies könnte dazu führen, dass der Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person größere Bedeutung erlangt, z.B. durch eine Verbindungslinie von der traditionellen Heimarbeit zum modernen „Homeoffice“. Zur Arbeitswelt 4.0 schon passend dürften auch die Ansätze zur selbstbestimmter Teamarbeit in § 12 Teilzeit- und Befristungsgesetz und die Grenzen von Betrieben und Unternehmen überschreitender Arbeitnehmervertretung gemäß § 3 Betriebsverfassungsgesetz sein.

57Vorfrage ist, wieviel Arbeitskräfte die voll digitalisierte und automatisierte Wirtschaft noch braucht. Werden es deutlich weniger, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird das ausfallende Arbeitseinkommen durch Geld ersetzt, das die Maschinen erwirtschaftet haben, oder die Ablösung des Menschen durch die Maschine, der menschlichen durch künstliche Intelligenz, führt zu Verelendung. Hoffen wir, dass stattdessen die von Thomas Morus schon im 16. Jhd. entwickelte Utopie eines 6-Stunden-Arbeitstages verwirklicht wird.10

5822). Lässt sich Ihr Rück- und Ausblick auf das Arbeitsrecht auf eine kurze Formel bringen? Vielleicht in Form eines ihrer beliebten Lehrgedichte?

59Ein neues Lehrgedicht ist mir nicht eingefallen. Für meine alten muss ich auf die Sammlung meiner Nebenwerke verweisen.11 Stattdessen als kurze Formel: Für das deutsche Arbeitsrecht war es seit dem zweiten Weltkrieg ein goldenes Zeitalter. Dass ich viele junge Juristen für dieses auch in Zukunft für die arbeitenden Menschen unentbehrliche Rechtsbereich begeistern konnte, betrachte ich als den schönsten Erfolg meiner beruflichen Tätigkeit.

60Herr Hanau, ich danke Ihnen für das Gespräch!

61Das Gespräch führte Prof. Dr. Felipe Temming, LL.M., Leibniz Universität Hannover

Date added March 8, 2017
© 2017 fhi
ISSN: 1860-5605
First publication
March 8, 2017

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2019-009