- I. Einleitung
- II. «Rechtsgeschichte als juristische Kultur- und Ideengeschichte – Marcel Senns rechtshistorisches Vermächtnis»
- III. «Rechtsgeschichte in der Schweiz: Perspektiven, Methoden und laufende Forschungen»
- IV. «Freiheit, Staat und Demokratie»
- V. Vorstellung von Dissertationsprojekten
- VI. Schlussbetrachtung
I. Einleitung
1Am 16. Juni 2025 fand an der Universität Zürich das Symposium «Zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie» in Erinnerung an Prof. Dr. Marcel Senn statt, organisiert von Prof. Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina. Marcel Senn (1954-2024) ist am 13. Juni 2024 verstorben.
2Im Rahmen seines Lebens waren für Marcel Senn die Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie sowie der akademische Nachwuchs zentrale Anliegen. In diesem Sinne widerspiegelte das Programm diese drei Schwerpunkte:
3In der ersten Hälfte galt der Fokus der Rechtsgeschichte. Prof. Dr. Lukas Gschwend eröffnete mit einem Inputreferat zur Thematik «Rechtsgeschichte als juristische Kultur- und Ideengeschichte – Marcel Senns rechtshistorisches Vermächtnis» (Teil II.). Darauf folgte eine Podiumsdiskussion über die «Rechtsgeschichte in der Schweiz: Perspektiven, Methoden und laufende Forschungen» mit Prof. Dr. Michele Luminati (Universität Luzern), Prof. Dr. Numa Graa (Universität Genf) und Prof. Dr. Filippo Contarini (Universität Lausanne) unter der Moderation von Prof. Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina (Teil III.).
4Die zweite Hälfte widmete sich der Rechtsphilosophie und dem akademischen Nachwuchs. Zunächst diskutierten Dr. Julia Hänni (Universität Luzern), Dr. André Kistler (Universität Zürich) und Prof. Dr. Andreas Kley (Universität Zürich) unter der Moderation von Prof. Dr. Matthias Mahlmann über «Freiheit, Staat und Demokratie» (Teil IV.). Abschliessend wurden die Dissertationsprojekte von den Doktorierenden Lars Göldi, Leonardo Longhini, Mareike Stanke, Elisa Stauffer und Jonathan Zeller unter der Moderation von Prof. Dr. Ulrike Babusiaux vorgestellt (Teil V.).
II. «Rechtsgeschichte als juristische Kultur- und Ideengeschichte – Marcel Senns rechtshistorisches Vermächtnis»
5Nach der Begrüssung und den einleitenden Worten von Prof. Dr. Thomas Gächter, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, sowie Prof. Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina, der Organisatorin des Symposiums, wurde das Inputreferat von Prof. Dr. Lukas Gschwend der Universität St. Gallen gehalten.
6Eingangs zeigte Gschwend auf, wie Prof. Dr. Marcel Senn seit 1995 als Professor an der Universität Zürich massgebend die juristischen Grundlagenfächer, insbesondere die Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und juristische Zeitgeschichte prägte. Senn verstand die Rechtsgeschichte als Kultur-, Wissenschafts- und Ideengeschichte, womit er den Fokus nicht nur auf die Entstehung des Rechts legte, sondern primär auch auf die Fragen, mit welchem Selbstverständnis und zu welchem Zweck die damaligen Gesellschaften ihre Gesetze schufen, wie Bestimmungen legitimiert wurden und welchen Einfluss ideologische, religiöse oder ökonomische Faktoren auf die Rechtsentwicklung hatten.
7Exemplarisch hierfür steht Senns Lehrbuch «Rechtsgeschichte: ein kulturhistorischer Grundriss», in welchem er die «roten Fäden» herausarbeitete, welche die Rechtsentwicklung und juristische Selbstverständnisse prägten. Er betrachtete geltendes Recht als das Ergebnis seiner geschichtlichen Bedingungen und Deutungen. Wer diese Dynamiken nicht kennt, wird das geltende Recht nicht verstehen und daher nicht befähigt sein, menschliche Regelwerke unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte kritisch zu hinterfragen. Dies gelte ebenso für die Rechtswissenschaft, welche historisch kritisch denken und Theorieansätze hinterfragen sollte.
8Gschwend führte in seinem Referat aus, wie die kulturwissenschaftliche Bildung und die Definition sowie Legitimation des Rechts über eine lange Tradition verfügt. Er zeichnete den Wandel vom Mittelalter, als die Rechtswissenschaft mit der Theologie verbunden war, über die ab der Aufklärung zunehmende Ausrichtung an Fragen und methodischen Standards der Naturwissenschaften bis hin zur Durchsetzung des positivistischen Rechtsverständnisses ab Mitte des 19. Jahrhunderts nach. Die positivistische Ausrichtung begünstigte pseudowissenschaftliche Diskurse wie den Sozialdarwinismus oder die Rassentheorien.
9Sodann erläuterte Gschwend die ab 2007 zunehmende Hinwendung von Marcel Senn zur wissenschaftshistorisch untermauerten Rechtsphilosophie und -theorie, wobei er zu den weltweit besten Kennern von Baruch de Spinoza gehörte. Er war sowohl Rechtsphilosoph als auch Rechtshistoriker.
10Senn interessierten besonders auch nationale und rassentheoretische Narrativen und der Weg von sexistischen und antisemitischen Stereotypen in die damalige Rechtswissenschaft. Vor diesem Hintergrund war einer seiner wichtigsten Forschungsbeiträge die kritische Analyse der Schriften von Johann Caspar Bluntschli und den rassistischen, antisemitischen und sexistischen Elementen in dessen Rechtsdenken. Marcel Senn leistete Pionierarbeit in der Diskriminierungsrechtsgeschichte und schaffte es, wissenschaftliche Differenzierung mit dezidierter Nennung von historischem Unrecht zu verbinden. In seinem letzten Beitrag benannte er klar Bluntschlis Schattenseiten, insbesondere die Diskriminierung von Frauen, Juden und nicht-arischen Rassen, sowie die zögerliche Aufarbeitung dieser Themen in der neueren Rechtsgeschichte. Zudem forderte er wiederholt, die Rolle der Frauen im Recht zentraler in der allgemeinen Rechtsgeschichte zu positionieren und zu thematisieren.
11Marcel Senn war ein engagierter Lehrer, welcher vielen Studierenden die Rechtsgeschichte als zentrales juristisches Grundlagenfach näherbrachte und sie dadurch zu einem besseren Verständnis des historisch gewachsenen Rechts befähigte. Es war ihm ein wichtiges Anliegen, die verfügbare Zeit zu nutzen, um Dinge zu bewegen und zu verändern. Diese Einstellung prägte sein Lebenswerk, welches zukünftig jenen eine wertvolle Orientierung bietet, welche erkennen, dass sich u.a. Recht, Politik und Wirtschaft nur fachübergreifend und historisch dynamisch verstehen lassen.
III. «Rechtsgeschichte in der Schweiz: Perspektiven, Methoden und laufende Forschungen»
12Der zweite Programmpunkt des Symposiums war die Podiumsdiskussion «Rechtsgeschichte in der Schweiz: Perspektiven, Methoden und laufende Forschungen». Es wurde mit der Frage begonnen, welche weiteren Forschungsfelder in der schweizerischen Rechtsgeschichte heute weiterzuentwickeln und welche methodischen oder thematischen Perspektiven in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen zu berücksichtigen seien.
13Luminati hob die Dominanz der Privatrechtsgeschichte im schweizerischen Kontext hervor. Marcel Senn hatte diese «Fixierung» früh kritisiert und auf neue Felder, wie etwa die Genderthematik, Rassismus und kritische Selbstreflexion der Rechtsgeschichte, hingewiesen. Bereiche wie die Strafrechts- und Justiz- und Verfahrensrechtsgeschichte seien lang vernachlässigt worden. Zudem empfand Luminati den starken Fokus auf das 19. und 20. Jahrhundert als problematisch, denn das Mittelalter würde zunehmend aus dem Blick geraten. Hinzu käme die insgesamte Fragmentierung der Themen, welche übergreifende Diskussionen erschwere. Daher plädierte Luminati für grosse, vom schweizerischen Nationalfonds finanzierte Forschungsprojekte, welche die wissenschaftliche Zusammenarbeit stärken und grössere Zusammenhänge erforschen würden.
14Graa teilte diese Ansicht und führte den Verlust der Vielfalt auf die Spezialisierung zurück. Allerdings bewertete er diese Tendenz nicht ausschliesslich negativ, zumal die Forschung primär den Interessen der Doktorierenden folgen und nicht der Erwartung der Betreuungsperson entsprechen sollte. In Bezug auf das Mittelalter verwies Graa auf den teilweise schwierigen Zugang zu den Quellen. Als weitere Forschungsfelder führte er die Stellung der Frauen an und zeigte auf, wie insbesondere im öffentlichen Recht Frauen lange nicht als Akteurinnen, sondern als rechtsunterworfene Subjekte galten. Eine ausschliessliche Darstellung der Frauen als Opfer greife wiederum zu kurz. Der Fokus soll ihren Taten gelten.
15Contarini sah in der Fragmentierung weniger eine Krise und vielmehr eine Reaktion auf die problematische Vergangenheit, welche nicht mehr als Legimitationsbasis dienen könne. Senn plädierte für einen stärkeren Fokus auf Afrika, Asien und Arabien bzw. Themen wie Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und Frauendiskriminierung. Contarini betonte, dass das Mittelalter nicht vergessen wurde. Ein grösseres Problem stelle die oftmals fehlende geschichtliche Basis der Studierenden dar. Die Aufgabe der Forschung und Lehre sei, den Studierenden Kompetenzen zu vermitteln, belastete Figuren wie Bluntschli kritisch einzuordnen.
16Fiocchi Malaspina bezog sich auf Senn und akzentuierte die Bedeutung der Rechtsgeschichte zur Aufklärung und nicht Identifikation mit historischen Akteuren. Sie habe die Verpflichtung, das kritische Denken zu fördern und gleichzeitig aus problematischen Entwicklungen der Vergangenheit, wie die Rassenlehre und Frauendiskriminierung, zu lernen. Wer sich nicht an die Geschichte erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Fiocchi Malaspina leitete sodann über zur zweiten Frage, welche Rolle die Rechtsgeschichte in der Schweiz spielen und wie diese wissenschaftlich und methodisch behandelt werden sollte.
17Luminati forderte einen Dialog mit den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Eine methodische Fokussierung auf einzelne Theorien genüge nicht. Die Lehre sei bedeutend, um Studierenden durch historische Reflexion zur Forschung zu motivieren und gleichzeitig die Komplexität der juristischen Entwicklungen aufzuzeigen. Gemäss Graa untersuche die Forschung juristische Fragestellungen aus historischer Sicht. Die Lehre müsse den Studierenden die Geschichtsferne bewusst machen und anhand von Persönlichkeiten, wie Bluntschli, zeigen, dass die Geschichte sowohl prägende als auch problematische Seiten hat. Durch Textexegese und historischer Konfrontation kann die Komplexität vor Augen geführt werden. Contarini hob die didaktische Funktion der «Verunsicherung» hervor. Rechtsgeschichte müsse (nationale) Mythen dekonstruieren und die historische Verzerrung aufzeigen. Wissenschaft dürfe nicht moralisch über die Vergangenheit urteilen, dennoch müsse sie den «Schleier des Vergessens» entfernen und die eigenen Mythen kritisieren.
IV. «Freiheit, Staat und Demokratie»
18Im dritten Programmpunkt folgte die rechtsphilosophische Diskussion zur Wechselwirkung zwischen Freiheit, Staat und Demokratie.
19Hänni betonte den prägenden Einfluss von Senn auf ihr eigenes Denken. Es war für ihn ein Anliegen, den Studierenden das eigenständige und kritische Denken beizubringen, denn juristisches Fachwissen sei in der Praxis schnell erlernbar. Anhand praktischer Beispiele zeigte Hänni auf, wie Rechtsanwendung nicht nur ein Akt der reinen Tatbestandssubsumption sei, sondern auch Reflexion, Abwägung und Empathie erfordere. Dabei verwies sie auf ein «Paradox der Rechtsbindung», indem die Richterschaft an das Recht gebunden sei und dennoch nach bestem Wissen und Gewissen dessen Bedeutung für den Einzelfall eruieren müsse. Daraus entstünde ein Gleichgewicht zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Allerdings müsse die Rechtsfindung frei von parteipolitischen Erwartungen und Wiederwahlinteressen bleiben. Insbesondere in Zeiten der sozialen Medien und der künstlichen Intelligenz sei Senns Forderung nach eigenständigem, kritischem Denken als Grundsatz der Demokratie unverzichtbar.
20Kistler knüpfte an Senns Lehrtätigkeit an, welche Studierenden eine historisch differenzierte Auseinandersetzung mit klassischen Texten von Sokrates bis Hegel eröffnete. Besonders Spinozas Philosophie verdeutliche, dass Freiheit und Sicherheit sich nicht als Gegensätze gegenüberstehen, sondern wechselseitig bedingte Prinzipien der staatlichen Ordnung sind. Historisches Denken hinsichtlich der Gesellschaftsphilosophie bedeutet methodisch, andere Konzeptionen in ihrer eigenen Rationalität nachzuvollziehen.
21Kley unterstrich zunächst die jahrtausendlange Suche des Menschen nach einer friedlichen Ordnung, wobei zur Regulierung von Konflikten die Suche über das Verfahren der Gesetzes- und Regelherrschaft zu erfolgen hätte. Der Rechtsbruch von Verfassungs- und Verwaltungsrecht sei keine Antwort auf Herausforderungen. Durch Sprache sowie Regelherrschaft, und nicht durch Gewalt, könnten Konflikte gelöst werden. Demokratie sei die Fortsetzung der kollektiven Entscheidfindung auf sprachlicher Ebene. Das Mehrheitsprinzip möchte die politische Selbstbestimmung des Menschen fördern, was nichts anderes als ein in der Regel gefasstes Verfahren zur Fällung von kollektiven Entscheidungen sei. Ohne eine friedliche Ordnung sind Wissenschaft und Kultur wiederum nicht denkbar.
22Als Überleitung verwies Mahlmann auf gegenwärtige Konfliktsituationen und warf die Frage der normativen Möglichkeiten der Rechtsphilosophie auf. Hänni sah die normative Kraft darin, dass die Rechtsphilosophie innere Impulse, wie etwa das Gerechtigkeitsempfinden, begrifflich fassbar macht und Raum zur Reflexion gibt. Die Rechtsphilosophie appelliere an das Innere der Menschen und ihre Fähigkeiten, diametral auseinandergehende Meinungen auszuhalten, sich friedlich zuzuhören und austauschen zu können. Gemäss Kistler sind philosophische Texte gerade deshalb wertvoll, weil sie zentrale Grundthemen der menschlichen Existenz, wie Werte und Aspekte der Freiheit, thematisieren. Kenntnis und freiheitliches Denken müssen individuell erarbeitet, sodann aber in den gesellschaftlichen Diskurs und die Institutionen übersetzt werden. Kley verortete die Aufgabe der Juristen darin, die friedliche Ordnung zu bewahren und vor einer Gleichsetzung von Recht mit Gewalt, wie dies von Carl Schmitt getan worden war, zu schützen.
23Abschliessend wurde die Frage diskutiert, wie weit das Anliegen der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten eine philosophisch informierte Anthropologie voraussetze und inwiefern sie wichtig und wie sie ausgestaltet sei. Gemäss Hänni solle das innere Gerechtigkeitswissen gepflegt werden und Menschen den Mut haben, für das einzustehen, was sie für richtig halten, statt einfach mitzumachen. Kistler erklärte, die Auseinandersetzung mit philosophischen Texten könne einem Individuum wichtige Impulse für das eigene Denken geben. Zugleich halte eine Auseinandersetzung die Überlieferung lebendig und entwickle sie weiter. Kley schätzte den Menschen als Mischwesen ein, forderte eine gemischte Anthropologie, verbunden mit einer positiven Wendung und der Möglichkeit zur Bildung und damit Besorgung des gesellschaftlichen Wissens.
V. Vorstellung von Dissertationsprojekten
24Zuletzt wurden unter der Moderation von Prof. Dr. Ulrike Babusiaux fünf Dissertationsprojekte des akademischen Nachwuchses vorgestellt. Die Förderung von Menschen und der Austausch mit Studierenden, Doktorierenden und der Kolleg:innenschaft waren wichtige Anliegen für Prof. Dr. Marcel Senn, weshalb dem akademischen Nachwuchs ebenfalls die Möglichkeit zur Vorstellung einiger Dissertationsprojekte eingeräumt wurde.
25Lars Göldi untersucht in seinem Dissertationsprojekt «Das bundesstaatliche Schuldbetreibungs- und Konkursrecht in seiner Genese und Entwicklung» die Hintergründe des eidgenössischen Gesetzgebungsprozesses zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (SchKG) sowie dessen Anwendung im 19. Jahrhundert. Seit den ersten Anstössen zu einer bundesstaatlichen Regelung, namentlich den Beratungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 4. Juli 1868 über ein schweizerisches Handelsrecht und der Petition des glarnerischen Handels- und Gewerbevereins zur Regelung des Hausier-, Konkurs-, Patent- und Niederlassungswesens vom selben Jahr, bis zur Annahme der Referendumsvorlage am 17. November 1889 wurden nicht nur zahlreiche Gesetzesentwürfe erarbeitet, sondern die Materie im Bundesstaat auch breit und teilweise kontrovers diskutiert. Dies war nicht allein den verschiedenen kantonalen Rechtstraditionen und -auffassungen geschuldet, sondern auch den stark divergierenden sozioökonomischen Voraussetzungen in den Landesteilen und Bevölkerungsgruppen. Daher verliefen die bis in die Expertenkommission hineinwirkenden Grundsatzdiskussionen nicht nur entlang der Linien der politischen Lager, sondern waren wesentlich vielschichtiger. Göldi erörtert in seinem Forschungsprojekt die entstehungszeitlichen Hintergründe des SchKG, welche sowohl die Konzeption der Forderungsvollstreckung im Bundesstaat als solche beeinflussten, als auch die einzelnen betreibungs- und konkursrechtlichen Institute in ihrer Anwendung bis heute prägen.
26Leonardo Longhini zielt in seinem Dissertationsprojekt «Die Konstruktion der «Willensnation» und das Staatsverständnis Carl Hiltys» darauf ab, das Phänomen eines offen auf politischen Werten beruhenden Nationalismus in seiner historischen Entwicklung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert näher zu untersuchen. Als Fallbeispiel dienen die Schriften des Staatsrechtlers Carl Hilty (1833–1909), der sich ausführlich mit der Frage des Nationalismus im schweizerischen Kontext auseinandersetzte. Ab den 1870er-Jahren legte Hilty ein Konzept des Nationalismus vor, welches sich nicht primär über Sprache, Kultur, Religion oder Ethnie definierte, sondern politische Werte ins Zentrum stellte, in die das Individuum offen einwilligen muss. Der Quellenkorpus der Arbeit umfasst eine Schaffensperiode von über vier Jahrzehnten und ist durch Hiltys Doppelrolle als akademischer Gelehrter und Politiker geprägt. Eine systematische Analyse seines Œuvres steht aus, obgleich Hiltys Beiträge eine wichtige, bislang wenig beachtete, Position innerhalb der ideengeschichtlichen Entwicklung nationaler Identitätskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert einnehmen. Daher stehen die historische Analyse eines offen auf politischen Werten basierenden Nationalismus, die konzeptuelle Erschliessung von Hiltys Quellen und eine präzise Rekonstruktion seines Nationalismusbegriffs im Zentrum der Untersuchung.
27Mareike Stanke stellte ihr Dissertationsprojekt „Der haftende Liturge im römischen Ägypten: Rechtliche, soziale und wirtschaftliche Aspekte“ vor. Darin befasst sie sich mit Zwangsdiensten, vornehmlich im 2. und 3. Jh. n. Chr. Das System dieser Zwangsdienste, die in allen Bereichen der Verwaltung anzutreffen waren, war essentiell für das Funktionieren der römischen Administration. Zumal die Last der Liturgie im Verlauf des 2. und vor allem im 3. Jh. n. Chr. grösser wurde und die Ausübung von Liturgien teils mit hohen finanziellen Ausgaben verbunden war, wurden Haftungsfragen relevanter. Daher steht in diesem Dissertationsprojekt die Frage im Mittelpunkt, wie die Haftung der Liturgen im römischen Ägypten des 1. bis 3. Jh. n. Chr. juristisch artikuliert war, welche sozio-ökonomischen Auswirkungen die genutzten Haftungsformen auf die betroffenen Personen hatten und welche Verwaltungspositionen involviert waren, wie sie ihre Entscheidungen fällten und welche rechtspolitischen Überlegungen dahinterstehen könnten. Zur Klärung dieser Fragen werden römische Juristenschriften, kaiserliche Konstitutionen, literarische Quellen, Inschriften und vor allem Papyri untersucht. Das breite Spektrum an Quellentypen erlaubt eine umfassende Rekonstruktion der liturgischen Haftung im römischen Ägypten und trägt zu einer nuancierteren Betrachtung dieses Phänomens im 1. bis 3. Jh. n. Chr. bei.
28Anna Elisa Stauffer untersucht in ihrer Dissertation «Methode des Innominatvertrags», wie ein klarer und sicherer Weg bei der Frage nach dem anwendbaren Recht beim Innominatvertrag beschritten werden kann. Am Symposium zeigte sie den Einfluss von Marcel Senn auf ihr Dissertationsprojekt auf und legte den Schwerpunkt auf die Methode. Die Ermittlung des anwendbaren Rechts bei einer Vertragslücke oder bei der Frage der Anwendbarkeit von zwingendem Recht liegt dem Innominatvertrag nicht unmittelbar zugrunde. Es stellt sich daher die Frage, ob die Methode bei der Suche nach dem anwendbaren Recht i.S.v. Senn «aufgeklärt und aufklärend» erfolgt.1 Bei der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die gemäss der Lehre «pragmatisch» und mit einem «Methodenpluralismus» verfährt, ist dies wohl zu verneinen. Eine solche Vorgehensweise ist der Rechtssicherheit nicht zuträglich, weshalb Stauffer zur Schärfung der Methode das Konzept des Innominatvertrags rechtshistorisch untersucht, die in der Literatur tradierten Theorien erörtert und die bundesgerichtliche Rechtsprechung analysiert. Durch den Ausdifferenzierungsprozess wird die Nähe des Innominatvertrags zum gesetzlichen Vertragstypensystem im Zuge seiner rechtlichen Qualifikation eruiert. Anschliessend werden die durch die Qualifikation angezeigten Bestimmungen geprüft, um zu ermitteln, welche einen Analogieschluss zulassen. Dadurch soll der Weg zum angewandten Recht transparent werden, damit man «einen für sich und Dritte nachvollziehbaren und somit sicheren Weg zum Ziel»2 kennt und beschreitet.
29Jonathan Zeller erforscht in seinem Dissertationsprojekt «Die Stellung der Frau im Zürcher Erwerbsleben um 1900 – Die Arbeiterinnenschutzgesetzgebung des Kantons Zürich». Dabei untersucht er die Beweggründe, welche in das Zürcher Arbeiterinnenschutzgesetz vom 12. August 1894 einflossen, und die Ausgestaltung dessen Vollzugs. Das Gesetz wurde als gesetzgeberische Reaktion auf die industrialisierungsbedingten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Umwälzungen erlassen und sollte den Missständen in Bezug auf die Gesundheit, die Jugend, Löhnen und Kündigungen entgegenwirken. Das Projekt schliesst eine Lücke in der Schweizer Arbeitsrechtsgeschichte, deren Fokus bislang dem eidgenössischen und den kantonalen Fabrikgesetzen galt, indem die kantonale Regulierung der Klein- und Handwerksbetriebe zwischen 1880 und 1914 beleuchtet wird. Zudem zeigt Zeller die Rolle weiblicher Akteure im Gesetzgebungsprozess sowie im Gesetzesvollzug auf. Das Projekt stützt sich auf Archivalien und Primärquellen, wie etwa Kantonsratsprotokolle, Regierungsratbeschlüsse, Rechenschafts- und Jahresberichte sowie zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften. Im Rahmen einer rechtsvergleichenden Analyse werden in der Dissertation die kantonalen Arbeiterinnenschutzgesetze einander gegenübergestellt und eine wechselseitige Orientierung sowie Beeinflussung nachvollzogen. Insgesamt wies das Zürcher Gesetz wichtige Bestimmungen auf, welche nicht nur die innerkantonale, sondern auch zwischenkantonale Gesetzgebung beeinflussten und den Grundstein für weiterführende Gesetzgebungen legten.
VI. Schlussbetrachtung
30Das Symposium war ein würdiger Anlass, Prof. Dr. Marcel Senn in seinem Wesen und Wirken zu ehren. Es verdeutlichte den nachhaltigen Einfluss von Marcel Senn auf die Forschung, Lehre sowie Praxis und brachte zugleich die Vielfalt der Forschungsbereiche sowie -projekte zum Ausdruck. Neben hochkarätigen Redner:innen vereinte das Symposium an diesem Tag unterschiedliche Vertreter:innen der Grundlagenfächer aus der gesamten akademischen Gemeinschaft der Schweiz und zeigte auf, wie die Forschung in der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie nicht nur lebendig ist, sondern auch weiterentwickelt wird. Indem der akademische Nachwuchs mit Projektpräsentationen ebenfalls zu Wort kam, wurde einem der Kernanliegen von Marcel Senn, nämlich der Förderung junger Wissenschaftler:innen, entsprochen. Weiter wurden aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze ausgetauscht und die Bedeutung der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie für die Aufklärung und Förderung von eigenständigem, kritischen Denken bei den Studierenden und der Gesellschaft ersichtlich.
31Aus Sicht des Autors hat der Anlass nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Zersplitterung innerhalb der schweizerischen, akademischen Gemeinschaft offenbart. Zu Recht wurde von Luminati das Fehlen von grossen, kollaborativen Forschungsprojekten bemängelt. Es fehlt zudem an der Sichtbarkeit eines allenfalls bereits bestehenden innerschweizerischen Austauschs in der Rechtsgeschichte und -philosophie. Das Symposium hat gezeigt, wie ein intellektueller Dialog zur Feststellung von aktuellen Problembereichen in der Forschung und Lehre beitragen kann. Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass der gesamtschweizerische Dialog zwischen den Grundlagenfächern der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie im Geiste von Marcel Senn fortgeführt wird.