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Rechtlosigkeit im Rechtsstaat
Jan. 9, 2022
Veranstalter: Institut interdisciplinaire d'éthique et des droits de l'homme (IIEDH), Prof. Dr. Regula Ludi
Ort: Universität Freiburg i. Ue. (CH), Avenue de l'Europe 20, Standort MIS 03 / Raum 3115
Datum: 28.01.2022
Deadline für die Anmeldung: 22.01.2022
Die Tagung soll einen Rahmen bieten, um neue Forschungsergebnisse zu
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die
Gegenwart und Zukunft aus interdisziplinärer Perspektive zu würdigen und
kritisch zu diskutieren.
Im
September 2019 publizierte die Unabhängige Expertenkommission
Administrative Versorgungen (UEK) ihren Schlussbericht. Im Zentrum des
Berichts stehen Anstaltsversorgungen von Erwachsenen im Zeitraum vor
1981. Administrative Versorgungen und andere fürsorgerische
Zwangsmassnahmen stellen aus heutiger – und zumindest teilweise auch aus
zeitgenössischer – Perspektive Eingriffe in die elementaren Grundrechte
der Betroffenen dar. Die Untersuchungen der UEK zeigen, dass auch in
einem demokratischen Rechtsstaat bestimmten Menschen grundlegende Rechte
vorenthalten werden konnten. Rechtlosigkeit und Rechtsstaat schliessen
sich offensichtlich nicht aus.
Die Forschungsergebnisse der UEK sind,
abgesehen von der Tagesberichtserstattung und einigen Rezensionen in
wissenschaftlichen Zeitschriften, bislang kaum rezipiert worden. Die
Empfehlungen der UEK beziehen sich primär auf die Rehabilitation der
ehemaligen Betroffenen. Eine breitere öffentliche Diskussion der
Forschungsergebnisse und die kritische Reflexion ihrer Bedeutung für
Demokratie und Rechtsstaat blieben bislang aus. Dabei bestehen
zahlreiche offensichtliche Aktualitätsbezüge, etwa zur
ausländerrechtlichen Administrativhaft, zur Sozialhilfe, zum
Erwachsenenschutzrecht oder zum Strafvollzug, um nur einige Bereiche
anzusprechen. Die Frage stellt sich auch, inwiefern die Erfahrungen der
aktuellen COVID-19-Pandemie dem Zwangsaspekt eine neue Dimension geben.
Zur Diskussion stehen folgende mögliche Fragestellungen:
-
Was bedeutet die historische «Aufarbeitung» durch die UEK und andere
Forschungsgruppen für das heutige Rechtsverständnis und die politische
Kultur in der Schweiz?
- Inwieweit führt der Fokus auf vergangenes
Unrecht zu einer Verrechtlichung und teilweise auch Moralisierung
historischer Narrativen? Inwieweit wird dadurch die Trivialisierung
historischer Erkenntnis gefördert? Inwieweit ergeben sich (neue) blinde
Flecken?
- Inwieweit bestehen Kontinuitäten zwischen historischen und
gegenwärtigen Formen der Rechtlosigkeit und Entrechtung? Welchen
Personengruppen werden heute wesentliche Rechte aufgrund ihres
administrativ-juristischen Status vorenthalten? Welche Institutionen und
Prozesse sind daran beteiligt?
- Unter welchen Bedingungen und
Voraussetzungen gelten Grundrechtseingriffe heute als legitim? Wie haben
sich diese Auffassungen im Lauf der Zeit, aber auch unter Eindruck der
historischen Forschung verändert? Wie beinflussen rechtliche Kategorien
und Massstäbe Gerechtigkeitsvorstellungen in der Vergangenheit und
Gegenwart?
- Inwieweit kann die Forschung zur Identifizierung von
Grundrechtsverletzungen und zur Rehabilitierung der Betroffenen
beitragen, ohne den historischen Rückblick zu nutzen?
Zielpublikum: Wissenschaft, relevante Praxisbereiche, Medienschaffende, interessierte Öffentlichkeit
Sprachen: Deutsch und Französisch (ohne Übersetzung)
9.15 Uhr Begrüssung/Einführung: Regula Ludi
9.30-11.00 Uhr: Historische Einordnung, historiografische Bedeutung, Geschichtspolitik
Lorraine Odier und Urs Germann: Une synthèse engagée sans controverses ? Le rapport final de l'UEK en rétrospective / Eine engagierte Synthese ohne Kontroversen? Ein Rückblick auf den Schlussbericht der UEK
Sonja Matter: Die Stimme der Entrechteten hören und das Desiderat einer Pluralisierung der historischen Methoden: Fallaktenanalyse, Oral-History und Partizipative Forschung im Wandel
Urs Hafner: Die Historikerin ist keine Richterin, aber auch keine Anwältin. Die Grenzen der sogenannten partizipativen Forschung.
11.15-12.45 Uhr: Unrecht im Rechtsstaat – Menschenrechtliche Dimension und Implikationen für das aktuelle Rechtsstaatsverständnis
Liliane Minder: Formen und Grenzen der Wiedergutmachung aus grundrechtlicher Perspektive
Frank Haldemann: Rechtsstaatlich «versorgt»? Reflexionen über Recht und Unrecht
Véronique Dubosson: Le rôle des juges dans le traitement des injustices historiques au sein de l’ordre juridique helvétique
12.45-13.30 Uhr: Mittagspause
13.30-14.45 Uhr: Continuités et discontinuités de l’absence de droit I : pauvreté et aide sociale / Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Rechtlosigkeit II: Armut und Sozialhilfe und Implikationen für das aktuelle Rechtsstaatsverständnis
Raphaël Marlétaz: Lois cantonales d'aide sociale et conditions actuelles de restrictions des droits fondamentaux
Carola Togni: Les apports des résultats de la CIE pour le travail social
Alexander Suter: Sozialhilfe heute: Unterstützung und ihre Grenzen
15.00-16.15 Uhr: Continuités et discontinuités II : réfugiés et étranger-e-s / Kontinuitäten und Diskontinuitäten II: Flüchtlinge und Ausländer:innen
Jonathan Pärli: Die Rechtlosigkeit der einen als Problem für alle: Die Schweizer Asylbewegung seit den 1980er-Jahren und die Ausweitungsthese
Giada de Coulon: L'illégalité régulière : comment la loi sur l'asile entretien la désirabilité du droit au cœur d'un système d'exclusion
Simone Marti: Innere Grenzziehungen. Das Feld der Nothilfe im schweizerischen Asylsystem
16.30-18.00 Uhr: Continuités et discontinuités III : privations de liberté / Kontinuitäten und Diskontinuitäten III: Freiheitsentzug
Louise Hauptmann: Continuités entre les internements administratifs et les privations de liberté actuelles
David Mühlemann: Zugang zum Recht – für Gefangene versperrt
18.15 Uhr: Apéro
Kontakt
Anmeldung bis am 22.01.22 bei Véronique Dupont: veronique.dupont@unifr.ch
Quelle: Rechtlosigkeit im Rechtsstaat.
In: H-Soz-Kult, 04.01.2022, <www.hsozkult.de/event/id/event-115002>.