Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Thorsten Süß

Stefan Andreas Stodolkowitz Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert

1 Für die moderne Forschung ist die Beobachtung justitieller Gegebenheiten eine Nagelprobe der frühmodernen Territorialherrschaft. Qualifikationsschriften, die sich mit einzelnen Gerichten beschäftigen, bilden daher auch ein klassisches Genre. Die von Ulrike Müßig in Passau betreute Dissertation von Stefan Andreas Stodolkowitz befasst sich mit dem 1711 eröffneten Oberappellationsgericht in Celle, dem unter Zeitgenossen und in der rechthistorischen Forschung bis heute und zu recht mit viel Respekt begegnet wurde und wird.

2Aber die Arbeit ist im thematischen Zuschnitt nicht nur klassisch, sie ist zugleich auch methodisch en vogue, zumindest prinzipiell. Denn der Verfasser verfolgt den Ansatz, die Geschichte des Gerichts, seines Verfahrens und seiner Bedeutung nicht nur anhand normativer Quellen nachzuvollziehen, sondern bezieht die Prozessakten als Hauptquellengattung mit ein. Das ist sicherlich eine Stärke der Arbeit. Nicht ganz angemessen ist nämlich die Behauptung von Stodolkowitz, die bisherige Forschungsliteratur zum OAG sei „überschaubar“ (S. 7). In Wirklichkeit handelt es sich um eines der Lieblingskinder der rechtshistorischen Literatur, mit dem sich ganze Studien (Jessen, 1986), aber auch kleinere Beiträge in den regelmäßig erscheinenden Jubiläumsbänden des Gerichts immer wieder beschäftigen – übrigens auch von Seiten namhafter Rechtshistoriker (Coing, Wieacker). Zudem dürfte der Zugriff auf den Großteil der normativen und politisch-diskursiven Quellen unkompliziert gewesen sein. Vieles ist andernorts bereits abgedruckt, was dem Verfasser aufgrund der häufigen Zitate „zitiert nach“ und „abgedruckt bei“ bewusst gewesen sein dürfte.

3 Der methodische Ansatz des Verfassers ist jedoch bemerkenswert und führt weiter: Sein Hauptaugenmerk liegt auf einer quantifizierenden Analyse des einzig verbliebenden Lauenburger Bestandes von Prozessakten des Gerichts. Dieser Bestand hat sein Überleben einem glücklichen Zufall zu verdanken: Während fast alle anderen Akten des Gerichts bei einem Luftangriff auf Hannover 1943 verbrannten, wurden 443 Akten des Lauenburger Bestandes, also diejenigen Akten, die das 1693 an Braunschweig-Lüneburg gefallene Herzogtum Lauenburg betreffen, im Schleswiger Landesarchiv erhalten. Diesen Ansatz legt Stodolkowitz zunächst sehr offen dar, verpasst aber die Gelegenheit für methodisches Problembewusstsein. Denn auch die quantifizierende Analyse nach Ranieri ist – wenngleich immer beliebter – nicht ohne methodische Probleme. Es sei beispielsweise auf die Problempunkte der Vergleichbarkeit von Typologisierungen und der Quantitätendifferenzen hingewiesen.

4Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich dann aber auch gar nicht mit Quantifizierungen, sondern zeichnet die äußere Geschichte und die Verfassung des Gerichts nach. Wie zu erwarten war, bezieht sich der Verfasser dabei im wesentlichen auf bereits publizierte Ergebnisse der Forschungsliteratur und fördert daher in einigen Kapiteln nichts wirklich Neues zu Tage, verbindet aber immerhin die Ergebnisse vieler Einzelstudien und ordnet das Gericht zudem vergleichend in einen Kontext mit dem Wismarer Tribunal und dem Reichskammergericht ein. Dabei wird gleich mehrmals das Gericht als „typisch“ für die frühe Neuzeit dargestellt, wobei der Umstand etwas zu kurz kommt, dass das Gericht erst 1711 gegründet wurde und der Lauenburger Bestand sogar erst ab 1747 einsetzt. In Rede steht somit eine Spätphase der „Frühneuzeit“ und eine echte Umbruchzeit. Diese Implikation wäre hilfreich gewesen, um den „Blick zurück“ auf Reichskammergericht und das Wismarer Tribunal zu ergänzen. Immerhin gelingt es Stodolkowitz, mit Vorurteilen zur Bedeutung des Gerichts für die Entwicklung der richterlichen Unabhängigkeit aufzuräumen, die auch aus markigen überpathetischen Zitaten der bereits genannten Größen der Rechtsgeschichte herrühren (z.B. S. 39).

5Methodisch begibt sich Stodolkowitz auf dünnes Eis, wenn er behauptet, „die Stellung des Gerichts“, ließe sich „weitgehend anhand der Oberappellationsgerichtsordnungen“ (S. 3) nachvollziehen. Das ist ebenso wenig möglich wie die Untersuchung von Nutzung oder Verfahren eines Gerichts ausschließlich anhand normativer Quellen. Methodisch ungeschickt sind auch häufiger anzutreffende Formulierungen, die auf juristische Nachsubsumtionen des Quellenstoffes hinweisen (S. 50 – „rechtswidriger Eingriff“, S. 92 – „Einen Anspruch [gegenüber dem Landesherrn] hatte das Gericht aber nicht“) oder ungelenke Wertungen abgeben (S. 101 – Machtsprüche als Mittel zur Förderung der Gerechtigkeit, S. 69 – Beantwortung eigener Fragestellungen, obwohl ausdrücklich die Quellen nichts hergeben, S. 140 – „Rechtsstaatliche Erwägungen“). Nachvollziehbar hat der Autor allerdings im Hinblick auf eine andere Quellengattung von seinem Recht zur Quellenbegrenzung Gebrauch gemacht: Die Observationes Juris, also die Entscheidungssammlung des berühmten Celler Richters Friedrich Esajas Pufendorf lässt er bewusst außen vor.

6Inhaltlich glänzt die Arbeit insbesondere durch eine zusammenfassende und vergleichende Analyse: Stodolkowitz untersucht die innere Verfassung des Gerichts ebenso wie das angewandte Prozessrecht – letzteres dann auch anhand der „praktischen“ Quellen. Dabei fördert der Verfasser nicht nur erstaunliche Details (z.B. S. 164 ff. Reskriptentscheidungen im Extrajudizialverfahren) zu Tage, sondern es gelingt ihm an vielen Stellen der Vergleich mit Wismarer Tribunal und Reichskammergericht. Diesen nimmt er zum Teil in den Fußnoten und zum Teil im Fließtext vor, so dass das komparative Vorgehen leider ein wenig als ungeliebter Annex erscheint. Durchaus beeidruckend ist auch die tiefe Durchdringung des schwierigen Verfahrensrechts. Den eigentlich quantitativ-analytischen Hauptteil machen zum Schluss dann 70 Seiten aus, in denen der Verfasser die Prozessakten des Lauenburger Bestandes souverän analysiert und sich weitgehend an Typologisierungen Ranieris (Recht und Gesellschaft, 1985) orientiert. Illustriert werden die Ergebnisse in 40 Tabellen.

7Ein wenig irreführend ist der Titel des Werkes gewählt. Stodolkowitz geht es gar nicht um die Rechtsprechung im Sinne von Entscheidung materieller Probleme. Vielmehr beschreibt er die formalen Voraussetzungen und Mittel für diese Rechtsprechungstätigkeit. Trotzdem oder gerade deshalb wird das Buch sicher ein Standardwerk zur Geschichte des Celler Prozesses und lohnt sich überhaupt zur Lektüre für alle, die sich mit Gerichtsbarkeit und Prozessrecht der frühen Neuzeit beschäftigen.

Rezension vom 27. Juni 2012
© 2012 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
27. Juni 2012

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Thorsten Süß, Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (27. Juni 2012), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2012-06-su/