1Die gesetzliche Konzeption der Totalreparation im BGB stellt sowohl in historischer als auch in rechtsvergleichender Hinsicht einen deutschen Sonderweg dar. Ausgehend von dieser Beobachtung sucht Feras Gisawi in seiner 2014 vorgelegten Arbeit nach einer Erklärung hierfür. Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass die maßgeblichen Argumente gegen den strengen Grundsatz der Totalreparation bereits dem historischen Gesetzgeber bekannt waren. Gleichwohl könne man aus den Motiven ableiten, dass der Gesetzgeber bewusst eine ausschließlich an den Interessen des Schädigers ausgerichtete Konzeption des Haftungsrechts gewählt hat. Das aus dem Grundsatz der Totalreparation folgende, strenge „alles oder nichts“-Prinzip dürfe nach dem Willen des historischen Gesetzgebers unter keinen Umständen durch die Heranziehung von Billigkeitserwägungen oder unter Berücksichtigung der Interessen des Schädigers aufgeweicht werden. Gisawi folgert daraus, dass dem BGB eine Konzeption des Haftungsrechts zugrunde liegt, die jegliche Berufung auf „moralisierenden Wertungen“ verbiete (S. 11 f.). Vor diesem Hintergrund stellt er die Frage nach den tragenden rechtspolitischen Überzeugungen und den sie „gedanklich überlagernde“ und argumentativ stabilisierenden“ Wertungen (S. 14). Wie bereits andere vor ihm,1 glaubt der Verfasser die Antwort, im Naturrechtsdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts finden zu können.2 Um diese Annahme zu belegen, erläutert Gisawi die Grundpositionen des Naturrechtsdiskurses anhand summarischer Darstellungen der rechtsphilosophischen Theorien seiner bedeutendsten Protagonisten, wobei er abschließend die Ausformung und Funktion des Schadensersatzrechts in den jeweiligen Naturrechtslehren beleuchtet. Die Struktur der Darstellung ist weitestgehend chronologisch aufgebaut und folgt der von Klippel3 vorgeschlagenen Einteilung in das ältere (§ 2) und das jüngere Naturrecht (§ 3). Während der Verfasser die Lehren der Autoritäten des älteren Naturrechts noch separat behandelt, gliedert er das Kapitel des jüngeren Naturrechts nach Sachthemen. In Anbetracht der großen Zahl an Naturrechtslehren, die erfasst und diskutiert werden, ist dies durchaus zweckmäßig und erleichtert das Verständnis interner Zusammenhänge. In einem vierten Teil wird das Verhältnis der naturrechtlichen Schadensersatzlehre(n) zur historischen Rechtsschule und der Pandektistik und ihrer Protagonisten thematisiert. Das kompakte Abschlusskapitel (§ 5) präsentiert dann die Ergebnisse der Untersuchung. Die Arbeit schließt mit der Feststellung, dass die das Prinzip der Totalreparation in Deutschland noch immer prägenden naturrechtlichen Wertungen, heute nicht „mehr allgemeingültig sind.“ (S. 256) Trotz „intuitiver“ Plausibilität des deutschen Ansatzes, sei eine einseitige Berücksichtigung der Gläubigerinteressen im sozialen Rechtsstaat nicht (mehr) überzeugend. Die das Prinzip der Totalreparation tragenden Grundüberzeugungen des „deutschen Naturrechts“, so folgert Gisawi, dürften mithin „bei der Suche nach allgemein akzeptierten, strukturprägenden Wertungen eines zukünftigen gemeinsamen europäischen Schadensersatzrechts letztlich keine entscheidende Rolle spielen.“ (S. 256)
2Diese Annahme mag durchaus berechtigt sein, insbesondere nachdem es Gisawi mit der vorliegenden Arbeit gelungen ist, dezidiert die das Prinzip der Totalreparation tragenden rechtstheoretischen Grundüberlegungen und Wertungen des spezifisch deutschen Diskurses aufzudecken. Er trägt damit dazu bei, das Bewusstsein für die historischen Bedingtheit des geltenden Rechts und seiner „deep structure“ – wie solche tragenden Wertungen vom finnische Rechtsphilosoph Karlo Tuori4 bezeichnet werden – zu schaffen oder jedenfalls zu schärfen. Eben hierin liegt auch der maßgebliche Wert der Arbeit, die ansonsten auf freilich nicht annähernd so stichhaltig und gründlich begründeten Theorien früherer Untersuchungen basiert.5
3Gerade im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Rechts auf europäischer oder gar globaler Ebene wird das volle Potential einer solchen rechtshistorischen Untersuchung offenbar. Erst der Einblick in die tieferen, historisch bedingten und rechtskulturell vorgeprägten Schichten des Rechtsverständnisses lässt es nämlich zu, bewusst von überkommenen Konzeptionen Abschied zu nehmen und neue Wege einzuschlagen, die geeignet sind, den Bedürfnissen der modernen und stetig stärker globalisierten Gesellschaft gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund hat Gisawi einen wertvollen Beitrag zur Grundlagenforschung geleistet, der weit mehr Bedeutung für das Verständnis des heutigen Rechts und der zukünftige Rechtsentwicklung hat, als es die vorsichtig formulierte Abschlussbemerkung des Autors vermuten lässt.
4Der Versuch der Konzeption des deutschen Haftungsrechts zugrundeliegenden Wertungen zu rekonstruieren, beinhaltet indes auch den Kern des schwerwiegendsten methodischen Einwandes, den man gegen eine solche Untersuchung vorbringen kann: wie lässt sich wissenschaftlich valide nachweisen, inwieweit unausgesprochene „rechtspolitische Grundüberzeugung“ oder „strukturprägende Wertungen“ bei der Gesetzgebung letztlich berücksichtigt worden sind, ja ausschlaggebend waren und die Diskussion bis heute beeinflussen? So stellt der Verfasser doch selbst fest, dass „die Motive des BGB insoweit nur begrenzte Antworten bieten“ (S. 12). Diese Problematik thematisiert Gisawi jedoch lediglich am Rande und begnügt sich mit der Annahme, dass der wissenschaftliche Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts die „strukturprägenden Wertungen der Totalreparation“ maßgeblich geprägt hätte (S. 14). Dies mag aus einer deutschen Perspektive intuitiv plausibel erscheinen. Im internationalen Vergleich ist dies gleichwohl alles andere als selbstverständlich, denn der weitreichende Einfluss des gelehrten Diskurses auf die Gesetzgebung ist ein Spezifikum der civil-lawtradition, die ihre möglicherweise deutlichste Ausprägung in Deutschland erfahren hat. Ein Blick in die USA, nach England oder Skandinavien belegt jedoch, dass hier die das Schadensersatzrecht tragenden Wertungen gerade nicht oder jedenfalls in weit geringerem Masse durch das juristische Schrifttum beeinflusst worden sind, sondern vielmehr durch andre Akteure, wie die Rechtsprechung oder den Gesetzgeber, bzw. die Personen, die maßgeblich an ihr beteiligt waren.6 Diese Beobachtung ist für die vorliegende Arbeit relevant, weil im Schrifttum gerade der skandinavischen Länder der deutsche Diskurs und die ihn tragenden Wertungen oftmals mehr oder minder unkritisch übernommen wurden.7 Nichts desto trotz hat keines der skandinavischen Länder den Grundsatz der Totalreparation in vergleichbarer Konsequenz konzeptualisiert wie das deutsche Recht.8 Es wäre daher naheliegend gewesen, zunächst die Frage zu stellen, warum denn gerade der wissenschaftliche Diskurs in Deutschland das Rechtsbewusstsein so stark formen konnte, dass der Gesetzgeber sich letztlich trotz aller Kritik aus der Rechtspraxis und aus den eigenen Reihen der herrschenden Lehre angeschlossen hat. Insofern wäre es hilfreich gewesen, wenn der Autor den Diskurs im Lichte seines spezifisch wissenschaftstheoretischen Kontextes dargestellt und erläutert hätte, anstatt den wissenschaftlichen Diskurs, quasi abgekoppelt von der Rechtswirklichkeit, als in sich geschlossenes System zu behandeln. Dieser Ansatz wird insbesondere dort erklärungsbedürftig, wo sich gegenläufige Wertungen in Gesetzgebung oder Rechtsprechung manifestiert haben. Ein Beispiel hierfür bilden die naturrechtlichen Kodifikationen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, die den Grundsatz der Totalreparation nur bedingt anerkannt haben. Insbesondere das preußische ALR von 1794 und das österreichische ABGB von 1811 beruhen auf einem Schadensersatzverständnis, in dem die Ersatzpflicht vom Grad des Verschuldens abhängig sein sollte und das deutliche pönale Elemente enthält. Dass sich eben dieser Ansatz, ebenso wie der Grundsatz der Totalreparation durch Wertungen rechtfertigen lässt, die ihren Ursprung in den Werken der auch vom Verfasser behandelten Autoritäten des Naturrechtsdiskurses hatten, zeigt exemplarisch, dass es nicht unproblematisch ist von ‚naturrechtlichen Wertungen‘ zu sprechen. So war es Samuel Pufendorf, der in konsequenter Fortentwicklung seiner Pflichtenlehre dem Haftungsrecht den Charakter einer rechtlichen Reaktion auf einen Verstoß gegen das allgemeine Verbot der Schädigung anderer (neminemlaedere) zuwies,9 und es damit, wie Jansen treffend feststellt, „vom restitutorischen Bezug auf den Schutz individueller Rechtsgüter gelöst hat.“10 Ausgehend von dieser Perspektive lässt es sich durchaus rechtfertigen, den Umfang der Haftung an die Intensität des Verstoßes gegen das Schädigungsverbot und somit an den Grad des Verschuldens zu knüpfen, wie es dann im ALR und im ABGB geschehen ist.11
5Zudem greift Gisawi nur ausnahmsweise auf die wissenschaftstheoretischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurück, wenn er eine bestimmte rechtstheoretische Position darstellt. Die jeweiligen Intentionen der Naturrechtsverfasser oder der zitierten Juristen des 19. Jahrhunderts lassen sich nämlich oftmals nur mit Blick auf die spezifische historische Situation und den argumentativen Kontext der relevanten Aussagen nachvollziehen. So lässt sich Grotius‘ und Pufendorfs Rechtsphilosophie und deren Konzeptualisierung des Schadensersatzrechts nur im Lichte der Folgen des 30-jährigen Krieges verstehen. Die auch für die vorliegende Arbeit entscheidende Differenzierung zwischen Recht- und Moral war hier gerade nicht intendiert, vielmehr ging es Pufendorf darum, die Moraltheologie von der praktischen Philosophie abzugrenzen. Recht und Moral waren in seiner Konzeption des Naturrechts noch nicht strikt getrennt.12 Dagegen kam es für Thomasius in seinem Kampf gegen den politischen Einfluss der Theologen an der Universität darauf an, das Interpretationsmonopol der Theologen in allen Fragen der gesellschaftlichen Moral endgültig zu brechen.13 Erst vor diesem Hintergrund wird sein Versuch, zwischen formalem Recht und Moral zu trennen, wirklich verständlich. Dass Gundling und andere ihm hierin gefolgt sind, hat mit der grundsätzlichen Ablehnung der neo-platonischen und rationellen Konzeption des Naturrechts bei Leibniz und Wolff zu tun.14 Aus Sicht der historisch-empirischen Naturrechtslehre war es nämlich nur konsequent das Recht als äußeren Zwang zu begreifen und moralische Wertungen bewusst auszublenden. In diesem Zusammenhang wäre es interessant gewesen zu fragen, warum gerade in Deutschland diese letztlich auf Hobbes zurückgehende empirische Naturrechtslehre so viel mehr Bedeutung gewinnen konnte, als beispielsweise in Frankreich.
6Die hier skizzierten Zusammenhänge sollen nur beispielhaft erläutern, dass eine weitergehende Kontextualisierung der jeweiligen Naturrechtslehren sicherlich dazu beigetragen hätte, die vom Verfasser dargestellten Tendenzen innerhalb des Diskurses sowie die ihm inhärente Dynamik besser verständlich zu machen. Gisawi gelingt es indes auch mit seiner rein diskursorientierten Perspektive, seine Eingangsthese hinreichend zu belegen. Die gründliche Rekonstruktion der Genesis naturrechtlicher Positionen ist ein Grund hierfür. Darüber hinaus versteht es Gisawi, immer wieder auf die Bedeutung der kontinuierlichen Weitervermittlung dieser Ideen hinzuweisen und diese zu belegen. Denn erst diese Vermittlungstätigkeit in der Juristenausbildung in den zwei Jahrhunderten vor dem Inkrafttreten des BGB kann eine hinreichende Erklärung dafür liefern, dass die Wertungen, die den Grundsatz der Totalreparation tragen, so tief ins Rechtsbewusstsein eindringen konnten, dass sie schließlich vom BGB-Gesetzgeber übernommen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Annahme kann die gezielte Analyse von juristischen Lehrbüchern, auch und gerade der weniger bekannten Naturrechtsverfasser, die Generationen von Juristen als Unterrichtsmaterial gedient haben, wertvolle Erkenntnisse über Rezeptionswege sowie die interne Struktur und Dynamik des Diskurses liefern.15 Bislang waren Autoren wie Kohler oder Höpfner, die im 20 Jahrhundert nahezu in Vergessenheit geraten waren, allenfalls herangezogen worden, um bei den Protagonisten des Diskurses vorgefundene Tendenzen zu bestätigen und zu vertiefen. Hierbei wurde nicht selten verkannt, dass sie selbst eigene, ja oftmals weitreichende Impulse gesetzt und den Gang der Diskussion maßgeblich geprägt haben. Ihre Lehrbücher, die zum Teil bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Juristenausbildung verwendet wurden,16 dürften letztlich ganz maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich die entsprechenden strukturprägenden Wertungen in den Köpfen vieler Juristen festsetzen konnten. Diese Problematik ist vom Verfasser in seinen sehr knappen Überlegungen zur Methode leider allenfalls angedeutet worden (S. 15) und hätte durchaus vertieft werden können. In Kombination mit den ebenfalls sehr knapp gehaltenen Ausführungen zum Gang der Untersuchung erschließt sich dem Leser oftmals nicht unmittelbar, welche Relevanz beispielsweise die regelmäßig umfassenden Erläuterungen zur Anthropologie eines Naturrechtsverfassers im Hinblick auf die oben skizzierte Problemstellung hat. Gerade bei den Autoren des älteren Naturrechts, wie Grotius, Pufendorf, Thomasius und Wolff wirkt die Auswahl von spezifischen Aspekten dieser Lehren auf den ersten Blick zusammenhangslos und etwas willkürlich. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, warum die so zentralen Fragen der Epistemologie, insbesondere des Verhältnisses von Wille und Verstand, erst im Zusammenhang mit Thomasius‘ Naturrechtslehre behandelt werden, während sowohl Grotius als auch Pufendorf hier grundlegende Erkenntnisse geliefert haben, auf denen Thomasius lediglich aufbaut. Was, so fragt sich der Leser auf Seite 65, hat denn die Zurechnung mit dem Prinzip der Totalreparation zu tun. Die Relevanz der jeweiligen Ausführungen ergibt sich dann oftmals erst im weiteren Verlauf der Darstellung.
7Abgesehen von dieser eher stilistischen Anmerkung, überzeugt die klare und oftmals trotz der Kompaktheit der Darstellung pointierte Erläuterung der philosophischen Grundpositionen sowie der dahinter stehenden tragenden Wertungen. Allerdings hätte die Ambivalenz innerhalb einzelner Naturrechtslehren gerade mit Blick auf das Schadensersatzrecht deutlicher hervorgehoben werden können. So scheint es durchaus erklärungsbedürftig, warum sowohl Grotius als auch Pufendorf außerjuristische Wertungen grundsätzlich für zulässig erachten, beide aber im Schadensersatzrecht solche Wertungen jedenfalls nicht explizit zur Begrenzung des Schadensersatzes heranziehen. Insofern hätte man untersuchen können, ob und in welchem Grad die Lehren der spanischen Spätscholastiker von beiden Verfassern bei der Ausarbeitung ihres Schadensersatzrechts herangezogen worden sind. Denn gerade die Spätscholastik und dann auch das frühe protestantische Naturrecht (Melanchton und Hemmingsen) hatten für eine uneingeschränkte Ersatzpflicht des Schädigers plädiert.17 Damit stellt sich wiederum die Frage, ob das Prinzip der Totalreparation nicht bereits älterer Herkunft ist, und lediglich von den Naturrechtlern nach Grotius aufgegriffen und argumentativ verfestigt und tradiert wurde.18 Nun geht es Gisawi darum, die spezifisch deutsche Entwicklung aufzuzeigen und vor diesem Hintergrund mag es möglicherweise vertretbar sein, mit Grotius zu beginnen. Eine Begründung dieser Entscheidung wäre allerdings wünschenswert gewesen.
8Bemerkenswert ist überdies, dass der Verfasser bei der Diskussion der unterschiedlichen Naturrechtslehren ausschließlich auf deutschsprachige Sekundärliteratur zurückgegriffen hat, obgleich gerade für das ältere Naturrecht19 und seine Protagonisten eine Reihe von neuer und zum Teil höchst aktueller Forschung aus dem englischsprachigen Raum vorliegt. Diese Arbeiten, oftmals aus dem Bereich der Ideengeschichte, haben mit progressiven methodischen Ansätzen und basierend auf der Sprachhandlungstheorie Wittgensteins und Austins zu erheblichen Erkenntnisgewinnen gegenüber der älteren deutschsprachigen Forschung geführt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang Quentin Skinners20 Arbeit zum Freiheitsbegriff von Hobbes, sowie Tim Hochstrassers21 und Knud Haakonssens22 Untersuchung der Naturrechtstheorien Grotius‘, Pufendorfs, Thomasius‘, und Wolffs. Auch deutschsprachige Verfasser wie Simone Zurbuchen23 oder Thomas Behme24 haben das traditionelle Bild des Naturrechts als einheitlicher Philosophie auf Grundlage neuer methodischer Ansätze um wichtige Aspekte ergänzt, ältere Sichtweisen teilweise modifiziert oder gar wiederlegt. Gisawi hat zwar einige ihrer Erkenntnisse in seiner Arbeit aufgegriffen und sich zu Eigen gemacht. So hält er die traditionelle Einteilung der Naturrechtsautoren des 18. Jahrhunderts in Schulen für unzweckmäßig (S. 85). Es wird zudem festgestellt, dass der Diskurs weit weniger gradlinig verlief als es ältere rechtshistorische Darstellungen zu diesem Themenkreis vermuten lassen (S. 93 f.). Dass dies aber mit dem vielschichtigen historischen Phänomen „Naturrecht“ und seinen zum Teil höchst unterschiedlichen Funktionen zusammenhängt, wird gleichwohl nicht näher erläutert. Naturrecht war weit mehr als eine philosophische Idee. Man kann nicht einmal behaupten, dass es jemals ein einheitliches Konzept des Naturrechts gegeben habe.25 Vielmehr war Naturrecht ein Genre mit eigenen sprachlichen und methodischen Konventionen: Je nach Bedarf konnte Naturrecht politische Sprache, Idealrecht, wissenschaftliche Methode, Unterrichtsfach, Auslegungshilfe oder Rechtsquelle sein. Es gab den äußeren Rahmen des Diskurses vor und enthielt gewisse konventionelle Topoi, Problemstellungen und Rechtsfragen, die ständig von neuem aus zum Teil völlig unterschiedlichen anthropologischen, politischen und ideologischen Perspektiven behandelt wurden. Dabei verwendeten die Naturrechtsautoren gerade in Rechtsfragen eine vom iuscommune geprägte Terminologie. Es war eben diese Terminologie und der Topos „Natur“, die sich als äußerst flexibles Korsett nicht zuletzt für den rechtstheoretischen Diskurs erwiesen. Eine einheitliche philosophische Theorie lag dem gleichwohl nicht zugrunde. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, wenn Gisawi immer wieder von dem „Naturrecht“, der „allgemeinen Naturrechtslehre“ (S. 14), oder der „Naturrechtsphilosophie“ (S. 249) spricht. Nun wäre es doch durchaus interessant gewesen zu erfahren, ob und ggf. in welchem Umfang die jeweilige Naturrechtsphilosophie eines Autors lediglich eine reine Weiterführung fremder Gedanken und Wertungen beinhaltet, oder diese bewusst oder unbewusst modifiziert. Gisawi macht zwar darauf aufmerksam, dass sich Begründungsmuster ändern, versäumt es jedoch, danach zu fragen, ob der dogmatische Ausgangspunkt der Totalreparation überhaupt noch mit den philosophischen Grundpositionen vereinbar ist.
9Zudem wäre es gelegentlich wünschenswert gewesen, dass sich der Verfasser deutlicher von überholten und anachronistischen Aussagen der älteren Forschung distanziert.26 So scheint es nach heutigem Methodenverständnis und auf Grundlage einer kontextualisierenden Analyse geradezu unvertretbar Wolffs Synthese von Recht und Moral als einen „Rückschritt“ im Hinblick auf Thomasius‘, von ganz anderen Intentionen geleitete Naturrechtstheorie zu bezeichnen (vgl. S. 81).27
10Demgegenüber ist es dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er auch und gerade die Auffassungen und Argumentationslinien weniger bekannter Verfasser quellennah darstellt und so tiefere Einblicke in die Dynamik des Diskurses vermittelt. Hierdurch treten insbesondere die enge Verknüpfung von konventionellen, theoretischen Grundannahmen und Denkmodellen (Naturzustand, Krieg als ursprüngliche Konfliktlösung, unbegrenztes Selbstverteidigungsrecht, Zwangscharakter des Rechts etc.) zum Schadensersatzrecht hervor.28 Gleichzeitig gelingt es dem Verfasser nachzuweisen, dass die Aufgabe beispielsweise des Naturzustandstheorems im jüngeren Naturrecht oder des Hinweises auf die strukturelle Gleichheit des Selbstverteidigungsrechts im Kriegszustand mit dem Recht auf bedingungslosen Schadensersatz keinen unmittelbaren Einfluss auf die inzwischen etablierten juristischen Wertungen hatte. Vielmehr wurden neue Begründungen gefunden, die dasselbe Ergebnis auf Grundlage anderer Argumentationsmuster übernahmen und damit weiter verfestigten.
11Dass diese tradierten Denkmuster dann auch von der historischen Rechtsschule und ihren Vertretern, freilich ohne direkten Bezug auf die naturrechtliche Argumentation, fortgeführt worden ist, mag im Hinblick auf die klare Ablehnung des Naturrechts im 19. Jahrhundert zunächst überraschen. Gisawi vermag aber überzeugend darzulegen, dass tragende Wertungen über den Allgemeinen Teil der Pandektenlehrbücher Eingang in den spezifisch juristischen Diskurs gefunden haben. Es gilt zudem positiv anzumerken, dass der Verfasser nicht lediglich die Stimmen zum Tragen kommen lässt, die seinen Standpunkt stützen, sondern auch diejenigen zu Wort kommen lässt, die einen anderen Weg einschlagen wollten. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, mehr über die konkreten Gründe zu erfahren, die letztlich dazu geführt haben, dass die zahlreichen Kritiker des Prinzips der Totalreparation und ihre zum Teil wohlüberlegten Argumente bei der Konzipierung des BGB und insbesondere im 20. und 21. Jahrhundert unberücksichtigt geblieben sind.
12So meint Gisawi selbst, das Prinzip der Totalreparation habe zunehmende an Plausibilität verloren und sei heute insbesondere mit der modernen Verfassungs- und Werteordnung kaum mehr kompatibel.29 Dieses Ergebnis versucht der Autor mit der „strukturellen Parallelität des Schadensersatzrechts zum Notwehrrecht“ argumentativ zu untermauern. Dies gelingt allerdings nur bedingt. Zunächst scheint die Beobachtung, dass viele Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts der allgemeinen individualistischen und an den Interessen des Rechtsinhabers ausgerichteten Tendenz in Deutschland folgend, für ein grundsätzlich uneingeschränktes „Notwehrrecht“ eintraten wenig überraschend. Hiermit lässt sich allenfalls die bereits zuvor eingehend dargelegte Tendenz des allein an den Interessen des Gläubigers ausgerichteten Rechtsverständnisses innerhalb des deutschen Schrifttums belegen, ohne dass ein Erkenntnisgewinn hinsichtlich der schadensrechtlichen Perspektive zu verzeichnen wäre. Bezeichnenderweise fehlt dann auch in der Zusammenfassung des vierten Kapitels (§ 4 G, S. 249 ff.), die mit dem Erlass des BGB enden, jegliche Ausführung zur Parallelität zwischen Notwehr- und Schadensersatzrecht.
13Ein neuer Gesichtspunkt wird erst im Kapitel „Einschränkungstendenzen (scil. des Notwehrrechts!) insbesondere seit dem 20. Jahrhundert“ ersichtlich (S. 244). Hier meint Gisawi, einen zunehmenden Plausibilitätsverlust des uneingeschränkten Notwehrrechts (und implizit auch der tragenden Wertungen des Grundsatzes der Totalreparation) verzeichnen zu können. Dieser habe letztlich seinen Grund in der Inkompatibilität des strikten Rechtsbewährungsprinzips mit den heute herrschenden Gesellschaftsanschauungen, insbesondere der Verfassung und Werteordnung des Grundgesetzes. So habe sich, wie Gisawi meint, eine „(Rechts-)Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme unter Zurückstellung eigener Rechte zunehmend als Errungenschaft des sozialen Rechtsstaats durchgesetzt.“ (S. 246 mit Referenz zu Arbeiten von Kratsch und Zipf, vgl. Fn. 394) Diese nicht weiter dokumentierte und belegte Behauptung macht Gisawi dann in seinem Ergebniskapitel (S. 256) zur Grundlage seines Resümees: Ein strenges Prinzip der Totalreparation sei heute, obgleich im Grundansatz plausibel, nicht mehr überzeugend. Auch wenn man nach der Lektüre des Buches nur allzu gerne bereit ist, dem Autor in der Sache zuzustimmen, ist es die Aufgabe eines Rezensenten auf Schwächen in der Argumentation hinzuweisen.
14Problematisch ist zunächst, dass Gisawi seine Annahme einer grundlegenden Änderung der Gesellschaftsanschauung in Folge der Errungenschaften des Grundgesetzes nicht näher untermauert, sondern unkritisch als faktische Gegebenheit zugrunde legt. Zudem bleibt der Verfasser sehr vage hinsichtlich des konkreten Zusammenhangs zwischen der Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme und Zurückstellung eigener Rechte und dem Grundansatz des deutschen Haftungsrechts. Unberücksichtigt gelassen wird insofern auch, dass der deutsche Gesetzgeber trotz aller Kritik offenbar am Fokus allein auf den Schadensersatzberechtigten festgehalten hat. Dies gilt sowohl für das Strafrecht als auch für das Schadensersatzrecht. Gisawi selbst macht darauf aufmerksam, dass der Gesetzgeber die stringente Formulierung des Rechtfertigungsgrundes „Notwehr“ in § 32 StGB unangetastet gelassen hat. Auch im Rahmen der Schuldrechtsreform von 2002 wurden Regelungen zur Abmilderung des strengen Grundsatzes der Totalreparation, etwa durch Einführung von Reduktionsklausel wie sie in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen heute gängig sind,30 gar nicht erst diskutiert. Es scheint mithin bis heute Wertungsgesichtspunkte zu geben, die ihre Plausibilität auch im sozialen Rechtsstaat nicht vollständig verloren haben. Einen solchen Wertungsgesichtspunkt spricht der Verfasser mehrfach selbst an. So lehnen die Verteidiger des Grundsatzes der Totalreparation und des unbegrenzten Notwehrrechts die Einbeziehung von „außerrechtlichen Wertungen“ mit dem Argument ab, dies würde letztlich zu Lasten der Rechtssicherheit gehen.31 Es mag dahingestellt bleiben, ob und ggf. wie gewichtig dieses Argument tatsächlich ist. Fakt ist, dass der Gesetzgeber mehrere Gelegenheiten zur Revidierung des „deutschen Sonderwegs“ ungenutzt verstreichen ließ.32 Dies deutet darauf hin, dass in den Köpfen vieler deutscher Juristen offenbar noch immer allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen vorhanden sind, die tiefe Wurzeln in der spezifisch deutschen Rechtskultur haben. Diese Rechtskultur besteht aber eben nicht nur aus den institutionellen Elementen der Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, sondern beinhaltet auch intellektuelle Bestandteile, wie juristische Methode und herrschende Gerechtigkeitsvorstellungen.33
15Bei der Entscheidung zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit schlägt das Pendel in Deutschland, verglichen mit den meisten anderen europäischen Rechtsordnungen, bis heute in vielen, und gerade den klassischen zivilrechtlichen Rechtsgebieten weit in Richtung Rechtssicherheit aus.34 Ein gewichtiger Grund hierfür dürfte in den spezifischen Voraussetzungen und der historischen Entwicklung der deutschen Rechtskultur liegen.
16So gab es bis zur Gründung des wilhelminischen Kaiserreiches (1872) weder einheitliche Gesetzbücher noch ein höchstes Gericht, das für ein als hinreichend empfundenes Maß an Rechtseinheit in Deutschland hätte sorgen können. Es schlicht der Rechtsprechung zu überlassen, Billigkeitskorrekturen am Recht vorzunehmen, wurde als dem Ideal der Rechtseinheit zuwiderlaufendes Unterfangen angesehen.35 Der Fokus auf das gelehrte Recht in seiner wissenschaftlichen und auf Systematik ausgerichteten Zielsetzung kann mithin nicht zuletzt damit erklärt werden, dass man die Rechtswissenschaft bereits zu Zeiten als die politische Einheit Deutschlands noch unvollendet war, als Garant der Rechtseinheit betrachtete.36 Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass sich der Reichsgesetzgeber im späten 19. Jahrhundert einen wissenschaftlichen Ansatz mit seinem Ideal der Vorausberechenbarkeit juristischer Entscheidung zu Eigen gemacht hat. Zudem wurde in Deutschland Vorausberechenbarkeit der Rechtslage als wichtiger Pfeiler der traditionell auf Export ausgerichteten Wirtschaft betrachtet. Diese Grundeinstellung des deutschen Rechtsdenkens ist in vielen Bereichen bis heute vital geblieben.
17Die geltende Rechtslage im Haftungsrecht beruht insofern offenbar noch immer auf der Annahme, dass jegliche Aufweichung und Abmilderung des Notwehrrechts, etwa durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, oder des Grundsatzes der Totalreparation, etwa durch eine auf Billigkeitsgesichtspunkte gestützte Reduktionsklausel, gefährde die Rechtssicherheit. Dem liegt eine der deutschen Rechtskultur immer noch charakteristische Zug zugrunde, das Recht von der Willkür und dem Ermessen des Rechtsanwenders weitestgehend frei halten zu wollen. Etwas überspitzt formuliert könne man die unterschwellige Überlegung wie folgt beschreiben: Vorhersehbare Ergebnisse und damit letztlich Rechtssicherheit lasse sich nur dann gewährleisten, wenn die Rechtsfolge einer Handlung dem Grunde nach dem Gesetzeswortlaut unmittelbar zu entnehmen ist. Diese Idealvorstellung, die ihrerseits bereits in naturrechtlichen Schriften vermittelt wurde, scheint insbesondere im deutschen Zivilrecht noch immer eine gewisse Geltung zu beanspruchen. Dieses Charakteristikum der deutschen Rechtskultur mag somit eine Erklärung liefern, warum eine Abmilderung des strengen „Alles-oder-Nichts“ -Prinzips im Zuge der Schuldrechtsreform weder bei der Notwehr noch im Hinblick auf den Grundsatz der Totalreparation ernsthaft diskutiert wurde. Und erst vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum sich trotz aller Kritik rechtsdogmatische Positionen „halten“ können, obgleich sie von den sie ursprünglich tragenden Wertungen abgekoppelt sind.
18Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die vorliegende Arbeit drei zentrale Schwächen aufweist, eine unzureichende Erläuterung der Methodik, das Fehlen einer komparativen und rechtskulturellen Perspektive und der Mangel an einer vergleichsweise gründlichen Untersuchung der tragenden Wertungen im Diskurs des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Ungeachtet dieser Mängel gilt es festzuhalten, dass Gesawis Arbeit einen wertvollen und lesenswerten Beitrag zum Verständnis der historischen Grundlagen des deutschen Haftungsrechts geleistet.