1Rezensiert von: Sebastian Felz1
2Benjamin Lahusen, „Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“ - Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948.
3München: C. H. Beck 2022. 384 S., ISBN 978-3-406-79026-3.
4I.
5Im Englischen bezeichnet der Begriff „serendipity“ das Glück des nicht intendierten Findens. Einen solchen glücklichen Zufall beschreibt Benjamin Lahusen anschaulich in der Einleitung seiner Untersuchung über die deutsche Justiz im Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Besatzungszeit. Lahusens Blick fiel während einer nicht sehr spannenden Arbeitsgemeinschaft im juristischen Vorbereitungsdienst auf § 245 der Zivilprozessordnung (ZPO). Diese Norm regelt das so genannte Justitium. Dort heißt es: „Hört infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts auf, so wird für die Dauer dieses Zustandes das Verfahren unterbrochen.“2 Die Freude an dieser zufälligen Lesefrucht steigerte sich noch mit Blick auf die vom Verlag gesetzte Fußnote. Diese besagt, dass „wegen der Aufnahme von Verfahren, die am 8.5.1945 bei Gerichten anhängig waren, an denen deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird“, der Rechtssuchende doch bitte im „Zuständigkeitsergänzungsgesetz“ von 1952 Rat suchen möge. Das rechtshistorische Dreieck von Justitium, „Kriegsende 1945“ und Kontinuität ab 1952 ff. sollte nun hoffnungsvoll für eine Habilitation durchmessen werden. Lahusen stellte sich die Frage, ob so einschneidende Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wie Bombenkrieg, Kriegsniederlage und Okkupation und schließlich der Neuaufbau der Justiz in den vier Besatzungszonen zu Perioden des „Stillstandes der Rechtspflege“ geführt hätten. Seine Antworten wurden in der 2020 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten juristischen Habilitation (Betreuer:Jan Thiessen und Christian Waldhoff) gegeben. Das anzuzeigende Buch, bei C. H. Beck im kulturgeschichtlichen (!) Verlagsbereich erschienen, ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift. Die archivalische Grundierung ist beeindruckend: Lahusen hat gut 40 Archive (teilweise online) aufgesucht und dies in Belgien, den Niederlanden, Polen, Israel und Deutschland. Das umfangreiche Literaturverzeichnis findet sich auf der Lehrstuhl-Homepage.3
6Dem interessierten Leser und der interessierten Leserin sei vorab auch das literarische Gespräch mit Patrick Bahners im FAZ Einspruch Podcast4 sowie ein Vortrag Lahusens mit dem Titel „Volkssturm und Kehrwoche“ empfohlen.5
7II.
8In seiner Einleitung „Außerordentliche Normalität“ verfolgt Lahusen die zwei Achsen, auf welcher die „Justiz im totalen Krieg“ laufen sollte: „Das Recht durfte den Krieg nicht stören, aber umgekehrt durfte auch der Krieg das Recht nicht zu sehr stören“ (S. 15). Vor Kriegsbeginn wurden 31 Rechtsakte im Reichsjustizministerium vorbereitet, die die Justiz „kriegstauglich“ machen sollte. Damit sollte Justizpersonal für die Front freigestellt werden, gleichzeitig sollten die, die an der Front sowie die, die an der Heimatfront „kämpften“, nicht auf juristischen Schutz verzichten müssen. Zwar wurde das richterliche Personal der Justitia von 14.000 (1939) bis auf 6.000 (1944) reduziert, und von 150.000 Mitarbeitern in der Justiz zu Friedenszeiten mussten bis Ende 1944 110.000 zum Kriegsdienst einrücken6, aber von den 2.000 Amtsgerichten wurden fast nur 100 geschlossen. Die Vorgabe, nur „kriegsdringliche“ Rechtsangelegenheiten zu bearbeiten, wurde nach Schätzungen des Autors nur auf ca. vier Prozent der Eingänge bei Gericht angewendet. Die Zahlen zeigen also, dass die Justiz – wenn auch teilweise nur auf dem Papier – handlungsfähig blieb und ein Justitium nicht eintrat. Die Rechtsfigur des Justitiums beschreibt Lahusen in der Einleitung knapp (etwas ausführlicher nochmals im Epilog [S. 295 ff.]) von seinen römisch-rechtlichen Wurzeln, seinem aus dem Kirchen- und allgemeinem Landrecht Preußens sich bildenden Stamm sowie mit seinen kodifikatorischen Blüten seit der preußischen Prozessordnung 1780. Lahusen betrachtet etwas amüsiert die „tautologische Präpotenz“ dieses Anspruchs des Rechts. So solle die Fortgeltung des Rechts selbst der „Tod aller Richter“ (Zitat von ZPO-Kommentar Adolf Baumbach) nicht beeinträchtigen können (S. 22):
9„Recht ist deshalb, zumindest bis zu einem gewissen Grad, immer ‚normal‘, jede Störung, jeder Defekt, jede Verwirrung hat ihren Platz auf der juristischen Landkarte. Die Dogmatik des Justitiums zeigt es an: für das juristische Selbstverständnis ist auch die Kartographierung rund des rechtsfreien Raums eine juristische Operation. Das Justitium spannt eine Brücke über alle Abgründe des Daseins. Was im Leben geschieht, wird im Recht auf eine Weise abstrahiert, begrifflich zerlegt und formalisiert, die garantiert, dass auch die größten Zumutungen juristisch beherrschbar bleiben. Die juristischen Konstruktionen erzeugen eine zweite Realitätsebene, eine Papierwelt, die von der Lebenswelt aber nicht nur einfach getrennt, sondern dieser auch hierarchisch übergeordnet ist.“ (S. 38)
10Mit Rückgriff auf Ernst Fraenkels Theorem des Doppelstaates7 („Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung“, S. 33) will Lahusen zu den „bereits bekannten Gewaltdarstellungen“ und Analyse der „Rechtsperversion“ der nationalsozialistischen Justiz als Ergänzung, und nicht als deren Ersetzung, die Ebene einer „juristischen Alltagsnormalität“ belegen und beschreiben. Dass es eine solche „normale“ Justiz gegeben habe, sei das erste Ergebnis dieser Arbeit. Lahusen wendet sich auch dagegen, die Tätigkeiten der Sondergerichte oder des Volksgerichtshofes nur als Nicht-Justiz zu analysieren und zu bewerten, da auch diese außerordentlichen Gerichte „viel mehr an juristischer Massenware“ produziert haben als allgemein hin bekannt sei. Hierin liege nach Lahusen aber auch eine Gefahr, nämlich „die Normalität des Rechts für eine Normalität der Welt zu halten, die vornehmen Worte mit dem echten Leben zu verwechseln und aus der sauberen Ordnung der Akten auf eine saubere Wirklichkeit zu schließen. Das Recht zeigt eher zu viel als zu wenig Normalität, eine Gefahr, der sich nur mit den bewährten historischen Hausmitteln von Kontextualisierung und Relativierung begegnen lässt“ (S. 36).
11In seinem ersten Kapitel „Die Freuden der Pflicht: Dienstbetrieb im Endkampf“ zeichnet Lahusen nach, wie die Frage, ob die Zerstörungen des Krieges, insbesondere des Luftkrieges, einen Stillstand der Rechtspflege rechtfertigen könnten, zu einem hochpolitischen Problem wurde. Das Justitium wurde überhaupt nur zweimal in Erwägung gezogen. Einmal im Mai 1942 in Köln, wo nach einem Bombenangriff von über 1.000 Flugzeugen, der 60.000 Menschen obdachlos machte, der Präsident des Oberlandesgerichts Köln darum bat, ein Justitium ausrufen zu dürfen, um insbesondere den Parteien und ihren Rechtsanwälten Zeit zur Klärung der persönlichen Angelegenheiten zu geben. Dies wurde „aus „militärischen Gründen“ abschlägig beschieden, denn es würde „für die Feindpropaganda wertvolle Anhaltspunkte über die Wirkung der Luftangriffe enthalten“ (S. 45). Auch im Dezember 1942 traf die Stadt Duisburg ein schwerer Bombenangriff. Das Ansinnen des Oberlandesgerichtspräsidenten in Düsseldorf, ein Justitium zu verhängen, wurde ebenfalls vom Reichsjustizministerium abgelehnt, da die „vorübergehende tatsächliche Behinderung des Geschäftsgangs einzelner Gerichte“ einen Stillstand der Rechtspflege nicht rechtfertige. Die Justiz in Duisburg sollte sich mit den Möglichkeiten der Vereinfachungsverordnung sowie mit der Rechtsfigur der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behelfen. 1943 ging das Reichsjustizministerium nach anfänglichem Verschweigen der Beeinträchtigung der Justiz durch die Luftangriffe dazu über, detaillierte Anweisungen für den Ernstfall zusammenzustellen, die von Melde- und Informationswegen über die Anweisung, wichtige Akten im Erdgeschoss zu lagern, bis zum Tipp, Bretter- und Dachpappen-Reserven anzulegen, reichten. Hier zeige sich, so Lahusen, in all den Handreichungen zum Schutz von Schriftgut, Inventar und Gebäuden, zu Brandwachen, Aufräumarbeiten und Ausweichquartieren „die Illusion, auch der Luftkrieg ließe sich administrativ bändigen“ (S. 60). Diese Bemühungen zahlten sich für das NS-Regime aus. In den Stimmungsberichten des Sicherheitsdienstes der SS konnte im Februar 1944 berichtet werden, dass ein Stillstand der Rechtspflege bisher nicht eingetreten sei bzw. nur für sehr kurze Zeiträume, sodass die Justiz ein Beispiel dafür sei, „dass die Arbeit der Behörden und Gerichte trotz der durch die Terrorangriffe verursachten Schäden weitergehe“ (S. 55). „Der Dienstbetrieb wurde aufrechterhalten“ wurde die trotzige Durchhalteformel. Der Justizbetrieb wurde immer mehr zum Kriegsdienst. Im November 1944 teilte ein Oberamtsrichter aus Gemünd mit: „Bei den vielen äußeren und inneren Belastungen, denen die Bevölkerung durch Feindeinwirkung und Gerüchte ausgesetzt ist, bietet der gleichbleibende Behördenbetrieb eine Beruhigung“ (S. 72).
12Der Titel „Das Recht der guten Leute: Auf den Spuren der deutschen Seele“ ist als Programmatik und Suchauftrag dem zweiten Kapitel überschrieben. Lahusen führt die Leserin und den Leser hier in ein imaginäres Örtchen namens „Neustadt“ ein (interessanterweise werden sogar wohl auch imaginierte Aktenzeichen zu diesem erfundenen Ort, der nicht im Ortsregister auftaucht, im Anmerkungsapparat zitiert) und beschreibt anhand der ebenso imaginären „Allerweltsjuristen“, Rechtsanwalt Karl Dürr und Amtsgerichtsrat Eugen Thalmann, den Justizalltag in den ersten Kriegs- und Nachkriegsjahren.
13Während in der so beschaulichen Imagination „Neustadt“ der Nationalsozialismus, der Vernichtungskrieg sowie die totale Niederlage und der bundesrepublikanische Wiederaufbau kaum mehr als ein Hintergrundrauschen für die lokale Justiz sind, führt das dritte Kapitel nach Auschwitz und zeichnet die Arbeit des dortigen Amtsgerichts in Bezug auf die Klärung der Grundeigentums-verhältnisse am Konzentrationslager Auschwitz nach. Heinrich Himmler hatte ab Sommer 1941 hunderte von Beschlagnahmeverfügungen erlassen, die zwar die bisherigen Eigentümer in ihrer Verfügungsmacht beschränkten, aber das Eigentum unangetastet ließen: „Ohne Grundbuch kein Eigentum, und ohne Kataster kein Grundbuch“. Die Rechtsabteilung der IG Farben, die ein Werk für synthetischen Kautschuk in Auschwitz mit Konzentrationslager betrieb, war alarmiert. Es bedurfte einer Intervention des Reichsjustizministers, Otto Thierack, der das Stadtgebiet von Auschwitz in zwei Grundbuchbezirke teilte und damit den Weg frei machte für die grundbuchrechtliche Legalisierung von Firmengelände und Konzentrationslager. Im März 1944 kaufte schließlich die IG Farben vom Deutschen Reich 2500 ha Land für über 4 Millionen Reichsmark. Damit war auch das Amtsgericht Auschwitz überflüssig geworden.
14In Kapitel vier („Lastenausgleich: Das Sondergericht Aachen und sein letzter Richter“) porträtiert Lahusen den Richter Hans Keutgen. Der Autor zeichnet seinen juristischen Werdegang, seine Tätigkeit am Sondergericht Aachen und seine kafkaeske Odyssee durch das immer kleiner werdende Deutsche Reich nach. Keutgens Ausweichen vor der Frontlinie führte ihn von Aachen über Düren, Bergheim und Siegburg schließlich nach Bautzen, wohin Untersuchungshäftlinge aus dem Gefängnis von Aachen verbracht worden waren und noch einmal ins thüringische Ichtershausen verlegt wurden. Dort verurteilte Keutgen als Richter am Sondergericht Aachen noch im März 1945 nach NS-Recht, während in Aachen schon seit einem halben Jahr unter amerikanischer Besatzung ein „neues“ Landgericht seine Rechtsprechungstätigkeit vollzog. Dass Keutgen nicht nur eine gediegene Nachkriegskarriere machte, sondern für seine Reisetätigkeit 1946 auch noch 956,24 Reichsmark Trennungsentschädigung, Tagegeld, Übernachtungsgeld, Reisegeld, Reisebeihilfe, Beschäftigungsvergütung und Beschäftigungsreisegeld erhielt, rechnet Lahusen süffisant nach.
15Unter der Parole „Frühlingsfest“ war im August 1939 zwischen Aachen und der Schweizer Grenze, also auf gut 500 km Länge, in einer so genannten Roten Zone, die etwa 20 km breit war, die Evakuierung der Bevölkerung bei einer Besetzung im Weltkrieg geprobt worden. Während im Sommer 1939 Städte, Strukturen und Menschen unzerstört und unverletzt waren, lief die Evakuierung ab dem Sommer 1944 unter sehr erschwerten Bedingungen ab – und das betraf auch die Justiz. Das besondere Augenmerk bei allen Evakuierungsaktivitäten betraf insbesondere die Akten der Gerichte mit Testamenten und Grundbüchern, Standesamt- und Handelsregister sowie Prozess- und Personalakten. In diesen Monaten wurden Tonnen von Papier – teilweise im Ergebnis vergebens – von einem Ausweichquartier zum nächsten transportiert. In dieser Zeit überbot sich Justizminister Otto Thierack mit immer neuen Befehlen, Gerichte und Dienstposten bis zuletzt zu halten, und er drohte bei „pflichtwidriger Absetzung nach Westen“ mit der Todesstrafe. Ab September 1944 ging die Justizverwaltung dazu über, alle Richter zu Sonderrichtern zu ernennen. Welche Relevanz aber diese Entwicklung von der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu einer Sonder-Sondergerichtsbarkeit hatte, kann aufgrund von Flucht, Chaos und Kriegsniederlage nicht sicher festgestellt werden. Symptomatisch für diese Endphase ist der Bericht des Landgerichtspräsidenten von Thorn, der Ende Januar 1945 meldete: „Gegen 12 Uhr mittags wurden die Gebäude verschlossen und die Schlüssel stecken lassen; es war niemand da, dem man sie hätte geben können“ (S. 215).
16Aber die Türen der Justiz blieben nur kurz, wenn überhaupt, verschlossen. Vielerorts nahmen die Gerichte im Mai 1945 ihre Rechtsprechungstätigkeit wieder auf, wie Lahusen im sechsten Kapitel mit dem Titel „Zwischen den Jahren: Der Stillstand der Rechtspflege im Sommer 1945“ berichtet. Während im Westen dieser geschäftige Übergang aufgrund einer großzügigen Nicht-Entnazifizierung fast reibungslos klappte, brauchte in der „SBZ“ die Transition von einer gelenkten Justiz in eine wiederum gelenkte Justiz etwas länger: „Die Erde mochte wüst und leer sein, aber die juristische Meistererzählung war noch intakt; dem Kenner bot der alte Justizsyllogismus wie gewohnt Orientierung: Prämisse: Revolution (-), Conclusio: Kontinuität (+)“ (S. 262). Dennoch gab es (dazu das siebte Kapitel mit dem Titel: „Die Abwicklung: Der Krieg und sein langes Ende“) Wochen und Monate im Sommer 1945, in denen die Rechtspflege stillstand. Als sie wieder einsetzte, war sie mit dem Problem konfrontiert, dass über 120 Rechtsakte nur „während des Krieges“ Geltung besaßen. Da es keinen Friedensvertrag gab, die bedingungslose Kapitulation nicht ausreichte und die Alliierten den Kriegszustand als andauernd betrachteten, schien jedenfalls im Recht der Krieg weiterzugehen, was zu allerlei rechtlichen Klimmzügen führte. Viele Oberlandesgerichte, Land- und Amtsgerichte aus den östlichen Gebieten, die nun unter sowjetischer oder polnischer Besatzung standen, mussten – soweit noch Personal und Akten da waren – abgewickelt werden, aber: „vielen Rechtsangelegenheiten war die Wirklichkeit abhandengekommen. Es fehlte an Akten, an Parteien, am Interesse“ (S. 290).
17Ein wenig Kriegsabwicklung der Nachkriegszeit ist noch im „Zuständigkeitsergänzungsgesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 310-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das durch Artikel 48 des Gesetzes vom 19. April 2006 (BGBl. I S. 866) geändert worden ist“ erhalten geblieben. So heißt es dort z. B. in § 17 Abs. 1 ZustErgG „für Strafsachen, die am 8. Mai 1945 bei einem Gericht anhängig oder rechtskräftig abgeschlossen waren, an dessen Sitz deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird, ist die Strafkammer des Landgerichts oder unter den Voraussetzungen des § 80 des Gerichtsverfassungsgesetzes das Schwurgericht zuständig, in dessen Bezirk der Beschuldigte oder Verurteilte zur Zeit des Inkrafttretens dieses Gesetzes seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines im Bereich deutscher Gerichtsbarkeit gelegenen Wohnsitzes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies gilt nur für Personen, die zur Zeit des früheren Verfahrens Deutsche waren und im Zeitpunkt der Fortsetzung des Verfahrens oder des Antrags auf Wiederaufnahme Deutsche sind.“ Der Änderungsgesetzgeber im Jahr 2006 war der Auffassung, dass diese Regelung aus dem Jahr 1952 auch über ein halbes Jahrhundert später weiterhin notwendig sei.
18III.
19Soweit der Durchgang durch die faszinierende und multiperspektivische Untersuchung von Benjamin Lahusen. Im Folgenden seien noch einige Beobachtungen aus diesem Durchgang mitgeteilt. Die vom Autor verwendete zeitliche Rahmung von 1943 bis 1948 wird im Buch selbst nicht eingehalten, was bei solchen zeitlichen Grenzen weder verwunderlich noch zu kritisieren wäre, denn die „Geschichte“ lässt sich kaum durch Jahreszahlen bändigen. Der Autor verbindet mit der Rahmung durch „Stalingrad“ und die Währungsreform die Hoffnung auf „Anschlussfähigkeit an die allgemeine Geschichtsschreibung“ (S. 360, Fn. 60), insbesondere an den Sammelband von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller8. Der Befund von Broszat, Henke und Woller, dass in diesem Zeitraum „[…] das mit unheilvollen Traditionsbeständen beladene und unter unüberbrückbaren inneren Spannungen leidende alte Deutschland an das Ende seines im 19. Jahrhundert betretenen Sonderweges“ gelangte, und „im Niedergang des Hitler-Regimes und dann in den nachfolgenden Besatzungsjahren […] sich die Umrisse einer moderneren, homogeneren, sich nach und nach an die westeuropäischen liberaldemokratischen Traditionen angleichende Gesellschaft“ abzeichnete, spiegelt sich jedoch bei Lahusen nur vereinzelt.
20Lahusen schreibt in einem äußerst ziselierten Stil, manchmal salopp und häufig witzig.
21Hervorzuheben ist insbesondere, dass Lahusen nicht einen gut erhaltenen Aktenbestand eines Gerichtes en détail analysiert und diese Analyse zu einer Gesamtaussage über die deutsche Justiz im Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit extrapoliert. In seine Untersuchung ist eine bewundernswerte Vielzahl von Akten und Rechercheergebnissen von Archivarbeit eingeflossen, die – durchaus außergewöhnlich – im zweiten Kapitel beispielsweise mit dem fingierten Neustadt und seinen imaginierten Protagonisten – in einer Synthese zusammengeführt werden.
22In Besonderen anschlussfähig und weiterführungsbedürftig sind die Ausführungen zu den Reaktionen der Justizverwaltung auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. So lagen beispielsweise zu Kriegsbeginn 31 Rechtsakte zur Umstellung der Friedensjustiz auf „Kriegsprozesswirtschaftlichkeit“ vor. Dass der Erste Weltkrieg nicht nur die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, sondern auch die „Geburtsstunde“ des Nationalsozialismus ist9, ist historiographisches Allgemeingut. Wie sich diese erste Kriegserfahrung des „zweiten Dreißigjährigen Krieges“ von 1914 bis 1945 in der deutschen Justiz ausgewirkt hat, harrt weiterer Untersuchungen.10
23„Das Recht ist eine riesige Normalisierungsmaschine“, so urteilt Benjamin Lahusen (S. 304 f.). Dieses wichtige Ergebnis wird bestätigt durch jüngste Forschungen von Georg Falk u. a. zur Zivilrechtsprechung des OLG Frankfurt am Main von 1933 bis 1945. In einem Lagebericht des OLG-Präsidenten Arthur Ungewitter vom Sommer 1944 heißt es dort: „Die Zurückstellung von Zivilprozessen wegen mangelnder Kriegswichtigkeit wird von der Bevölkerung zumeist nicht verstanden und als ungerecht empfunden“.11 Auch Falk und seine Mitautoren kommen zu dem Ergebnis, dass „weit mehr noch“ als sie erwartet hatten, der „Berufsalltag der Richter des Oberlandesgerichts in Zivilsachen“ von einer „berufsrollenspezifischen Normalität“ geprägt war (S. 966). Auch wenn 90% der Urteile in die Kategorie „zivilrechtlicher ‚Normalität‘“ fallen würden, so Falk und seine Mitautoren, „konnte es aufgrund der Rahmenbedingungen keine Inseln NS-freier Normalität“ geben (S. 907).
24Benjamin Lahusen hat wie ein Rechtsethnograph die deutsche Justiz in ihrer „Rechtsnormalität“ von „Neustadt“ bis nach Auschwitz in den 1940er-Jahren beobachtet und sprachgewaltig beschrieben. Die „Banalität des juristischen Dienstbetriebes“ habe sich „inmitten der Kollektivraserei, neben Konzentrationslagern, Todesmärschen, aber auch neben Bombenkrieg, Volkssturm, Besatzung, Flucht“ vollzogen. „Das Normale verlor auch unter vollkommen unnormalen Umständen nicht seine Anziehungskraft. Ist das nun der Gipfel der Zivilisation oder ihre letzte Perversion?“ (S. 305).
25Benjamin Lahusen hat ein außergewöhnliches Buch über diese Frage geschrieben, auf die es eine Antwort nur schwer geben kann.