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Sonja Breustedt*

„Stadtluft macht frei“? Das Bürgerrecht im Mühlhäuser Rechtsbuch. Ein Werkstattbericht.

I. Einleitung

1Auf Initiative des Mühlhäuser Stadtarchivars, Dr. Helge Wittmann, fand in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Rechtshistoriker Prof. Dr. Albrecht Cordes vom 03. bis 05. Oktober 2018 ein wissenschaftliches Kolloquium zum Mühlhäuser Rechtsbuch unter dem Titel „Das Mühlhäuser Rechtsbuch. Rechtsquelle, Rechtsverwandtschaften, Rechtslandschaften“ statt. Das Kolloquium, an dem Historiker, Philologen und Rechtshistoriker teilnahmen, hatte sich die Frage einer Neuedition der Quelle zum Ziel gesetzt.

2Das im 13. Jahrhundert entstandene Rechtsbuch ist zuletzt vom Göttinger Rechtshistoriker Herbert Meyer ediert worden und zwischen 1923 und 1936 in drei, mittlerweile vergriffenen, Auflagen erschienen.1 Der Edition Meyers liegt die Nordhäuser Handschrift (N) des Mühlhäuser Rechtsbuchs zugrunde. Die ebenfalls noch existierende Mühlhäuser Handschrift (M) wurde von der Forschung bislang als jünger eingeschätzt, weshalb nicht nur zuletzt Meyer, sondern auch der vor ihm bereits tätige Nordhäuser Archivar Ernst Günther Förstemann ihren Editionen die Nordhäuser Handschrift zugrunde gelegt haben.2 Im Rahmen des Kolloquiums konnte die Philologin Christa Bertelsmeier-Kierst hingegen überzeugend darlegen, dass die Mühlhäuser Handschrift rund dreißig Jahre älter sein dürfte als die Nordhäuser Handschrift.3 Darüber hinaus konstatierte sie, dass Meyer bei seiner Transkription künstlich antikisiert hat, indem er verstärkt den Selbstlaut „i“ eingefügt hat, um die für die Schriftfassung vermeintlich modernisierte Sprache älter und aus seiner Sicht authentischer erscheinen zu lassen.4 Das Resultat kann heutigen Anforderungen nicht mehr genügen. Vor allem der philologische Befund, aber auch die Einzigartigkeit eines so frühen Rechtstextes in deutscher Sprache sowie das Fehlen einer wissenschaftlichen Standards entsprechenden kritischen Edition haben die Teilnehmer bewogen, eine neue Edition anzustreben.

3Die weiteren Kolloquiumsbeiträge beleuchteten sowohl den historischen Kontext des Mühlhäuser Rechtsbuchs als auch Ausschnitte des normativen Textes selbst. Auf Basis einer modernen Transkription und Übersetzung soll die Rechtsquelle nun vollumfänglich unter interdisziplinären Gesichtspunkten analysiert werden. Die Veranstalter planen, die neu gewonnen Forschungsergebnisse im Rahmen eines weiteren Kolloquiums mit Philologen, Historikern und Rechtshistorikern zu diskutieren.

4Bereits die erste Beschäftigung mit der Rechtsquelle hat nicht nur neue philologische und historische Erkenntnisse gebracht. Vor allem aus rechtshistorischer Perspektive lohnt eine intensive Auseinandersetzung mit dieser frühen Rechtsquelle, die neben dem Sachsenspiegel das älteste Rechtsbuch in deutscher Sprache ist. Der folgende Beitrag erprobt die dazu nötige Methode und greift exemplarisch einen kleinen Textausschnitt des Gesamttextes auf. Er versucht, über den Quellentext hinausgehend mittels eines komparatistischen Ansatzes die Quelle einzuordnen und in ihrer Bedeutung zu würdigen.

II. Historischer Kontext

5Bis heute kann das Mühlhäuser Rechtsbuch nicht genau datiert werden. Über seine Entstehungszeit wurde in zahlreichen Beiträgen diskutiert.5 Die überzeugendste Datierung hat zuletzt Peter Bühner vorgenommen, der die Entstehungszeit auf den Zeitraum zwischen 1231 und 1251 festlegt.6 Als terminus post quem macht er das Jahr 1231 aus. In dem Jahr erteilten Präfekt und Schultheiß in Gegenwart ehrenhafter Männer den Filzmachern ein Innungsprivileg.7 Hätte es zu diesem Zeitpunkt einen Rat gegeben, hätte dieser das Innungsprivileg erteilt. Da der Rat – wie noch zu sehen sein wird – im Mühlhäuser Rechtsbuch aber erwähnt ist, muss es nach 1231 entstanden sein.

6Als terminus ante quem sieht Bühner eine Urkunde vom 14. Dezember 1251.8 In dieser wird der Rat als Institution, vor der eine Güterübertragung stattfindet, genannt.9 Eine so bedeutsame Rolle hatte der Rat im Rechtsbuch indes noch nicht eingenommen.10

7Neben der Entstehungszeit ist auch ungeklärt, wer der Verfasser des Mühlhäuser Rechtsbuchs war. Die jüngsten Untersuchungen haben den Verfasser als Ministerialen identifiziert. In Betracht kommen danach der Schultheiß und Burggraf Swiker (II.) sowie ein vielfach als Zeuge in den Urkunden genannter Heinrich Scolarius.11

III. Quellenanalyse

8Der für die Quellenanalyse herangezogene Abschnitt behandelt das Bürgerrecht und wird in beiden Handschriften mit der Überschrift „wo ein burgere sal werde“ in roter Schrift begonnen.12 Beide Handschriften ordnen die von Meyer in vier Kapitel eingeteilte Passage einem einzigen Kapitel zu. So beginnen Kapitel in M regelmäßig mit einer roten Überschrift und einer blauen oder roten Fleuronné, während in N nach der ebenfalls roten Kapitelüberschrift eine rubrizierte Lombarde folgt. Der nächste von den Schreibern als solcher gekennzeichnete Abschnitt findet sich erst unter der Überschrift „waz ein vrowe virwurke mac ed nicht“ in M bzw. unter der Überschrift „daz ein vrowe nime virlife mac urmi man“ in N.13

9Meyer hingegen hat in seiner Edition die Regelungen zum Erwerb des Bürgerrechts in zwei Kapitel, 38 und 39, unterteilt. Kapitel 38 gab er in seinem Inhaltsverzeichnis die Überschrift „Erwerb des Bürgerrechts, Luft macht frei, Klage um Eigenleute und Hörige“, Kapitel 39 betitelte er mit den Worten „Bürgergeld und andere Gebühren, Bürgereid und Huldeschwur an das Reich“. Den anderen beiden Abschnitten, die in den Handschriften noch im Kapitel über das Bürgerrecht behandelt werden, gab er die Bezeichnungen „Klage um Darlehensschuld“ (Kap. 40) und „Klagebeweis durch Gäste“ (Kap. 41).14 Während alle vier Kapitel der Meyerschen Edition zwar dem Abschnitt zum Bürgerrecht zumindest lose zugeordnet werden können, unterteilt der Verfasser von M selbst das Kapitel nur in drei, der Verfasser von N das Kapitel nur in zwei Unterabschnitte. In M entspricht der erste Unterabschnitt Kapitel 38 bei Meyer, der zweite Kapitel 39, der dritte Abschnitt beinhaltet Kapitel 40 und 41 der Meyerschen Edition. In N entspricht der erste Abschnitt den Kapiteln 38 und 39, der zweite Abschnitt den Kapiteln 40 und 41.

10Sowohl Meyer als auch Hans Patze, der sich ausführlich mit dem Mühlhäuser Rechtsbuch befasst hat, sehen zwischen den Kapiteln 38, 39 und den Kapiteln 40, 41 keinen inneren Zusammenhang. Meyer ordnet lediglich Kapitel 38 und 39 dem eigentlichen Bürgerrecht zu. Er vermutet, dass der Schreiber Kapitel 40 und 41 nur wegen der dort ebenfalls genannten Bürger systematisch hinter dem Bürgerrecht verortet hat.15 Patze sieht in Kapitel 40 einen Nachtrag zu Kapitel 13. Für Kapitel 41 gelingt es ihm hingegen nicht, Anknüpfungspunkte an vorhergehende Ausführungen zu finden. Vielmehr konstatiert er selbst eine nicht zu übersehende inhaltliche Einheit der Kapitel 40 bis 44.16 Ob hier der Verfasser der Handschrift tatsächlich, wie Patze vermutet, von seiner, ansonsten auch von Patze hervorgehobenen, Systematik – er bezeichnet ihn als einen „Rechtsdenker von hohem Rang“17 – abweicht oder, ob nicht doch ein innerer Zusammenhang besteht, wird sich noch zeigen.

11Neben die unterschiedlichen Gliederungsmöglichkeiten tritt das Problem der mangels Interpunktion entstehenden unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten, die aufgrund sich verändernder Syntax auch zu einem anderen rechtlichen Aussagegehalt führen können. Die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten werden im Folgenden im Rahmen der Textanalyse aufgezeigt.

1. Die Erlangung des Bürgerrechts

12Kapitel 38 der Meyerschen Edition widmet sich einzig der Erlangung des Bürgerrechts. Die sehr ausführlichen Bestimmungen zur Frage, wer überhaupt berechtigt war, Bürger zu werden, unterteilte Meyer in neun Unterabschnitte. Ausweislich Meyers Inhaltsverzeichnis umfasst Kapitel 38 den „Erwerb des Bürgerrechts, Luft macht frei, Klage um Eigenleute und Hörige“. Inhaltlich geht es also – Meyer bedient sich des Topos sogleich – um das Prinzip Stadtluft macht frei. Dieses gerne gewählte Narrativ aus dem 19. Jahrhundert hat schon zu mancher Nivellierung der Quellenbefunde beigetragen. Dass es sich keineswegs um einen mittelalterlichen Rechtsgrundsatz handelt, sondern ein obiterdictum Jakob Grimms18 ist, wissen wir seit Heinrich Brunners Untersuchung aus dem Jahr 1910, nochmals intensiv von Gellinek und Haase in der ZRG GA 1989 aufgegriffen.19

13Doch sollen hier weder die etymologische Debatte Gellineks, ob Luft von „lovede“ gekommen sein könnte20, noch die Rechtsgrunddebatte, die von Brunner, Rörig und anderen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt und von Haase 1989 nochmals zusammengefasst wurde21, im Vordergrund stehen. Vielmehr liegt der Fokus auf dem inhaltlichen Regelungsgehalt. Denn nicht in jeder mittelalterlichen Stadt galt der Grundsatz Stadtluft macht frei – so konnte Frankfurt a.M. darauf verzichten22 – und dort, wo er Geltung hatte, war er sehr unterschiedlich ausgestaltet.

14Wie sehen nun die ausführlichen Bestimmungen des Mühlhäuser Rechtsbuches aus?

15Der erste Unterabschnitt des Artikels 38 beschäftigt sich mit einer Person, die sich in der Absicht, Bürger der Reichsstadt Mühlhausen zu werden, niederlassen möchte. Das Mühlhäuser Rechtsbuch gesteht nun den Neuankömmlingen eine vierwöchige Probezeit zu. Man darf sich einen Neumond und einen Vollmond in der Stadt aufhalten. Wer länger bleiben, aber nicht Bürger werden möchte, und Handel tätigt, „wil doch koyphe und virkoyphe“, muss wie ein anderer Gast Zoll zahlen: „so sal he zu rechte sinen coyl gebi alsi ein andir gast“.23 Meyer hat die Ausführungen zum Gast geringfügig anders übersetzt: „so soll er von Rechts wegen seinen Zoll geben, ganz wie ein Gast“.24 Die Übersetzung „ganz wie ein Gast“ impliziert, dass der Niedergelassene nur in Bezug auf den Handel dem Gast gleichgestellt wurde. Folgt man jedoch dem Wortlaut (die Transkription führte hier zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen) wie ein anderer Gast, so ergibt sich eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Danach wäre in dem Zugezogenen, der kein Bürgerrecht begehrt, aber Handel treibt, ein Gast zu sehen, auf den die Bestimmungen des Gastrechts, welches an weiteren Stellen des Mühlhäuser Rechtsbuchs vorkommt, anzuwenden wären. Verfolgt man diesen Ansatz, so scheint die von Meyer und Patze konstatierte Zusammenhangslosigkeit zwischen den Bestimmungen des Bürgerrechts, Kapitel 38 und 39 der Meyerschen Edition, und den Regelungen des Kapitels 40 zur „Klage um Darlehensschuld“, das eine Sonderregelung für Gäste enthält, sowie des Kapitels 41 zum „Klagebeweis durch Gäste“, nicht mehr gegeben. Vielmehr erscheint es systematisch sinnvoll, die Regelungen zum Recht der Gäste und die Ausnahmen, die in Abgrenzung zum Bürger für den Gast gelten, direkt an die Bestimmungen, die aus einem Handeltreibenden entweder einen Gast oder einen Bürger machen, anzuschließen. Auch das Bestreben, jeden niedergelassenen Händler entweder als Bürger, der das Aufnahmegeld und sehr wahrscheinlich Steuern zahlt, oder als Gast, der Zoll leistet, zu qualifizieren, ist unter fiskalischen Gründen nachvollziehbar.

16Als erste Voraussetzung, um überhaupt Bürger werden zu können, kommt das Rechtsbuch nun auf die Eigenschaft des Bürgerrechtsanwärters als Eigen- oder Vogtmann zu sprechen. Wer behauptete, weder Eigen- noch Vogtmann zu sein und sich über Jahr und Tag in der Stadt Mühlhausen aufgehalten hatte, ohne von seinem Grundherrn herausgefordert worden zu sein, „ungevordiritis dinges von den luiten di inwendic landis sin“, sollte als freier Bürger gelten. Wer zugab, ein Eigen- oder Vogtmann zu sein, konnte sogar als Bürger aufgenommen werden, wenn er die Genehmigung seines Herrn erhielt.25

17Die nun folgende Formulierung unterscheidet sich von Meyers Transkriptions- und Übersetzungsvorschlag völlig, wenn man mit der Interpunktionsproblematik anders umgeht. Meyers Transkription beruhte auf der Nordhäuser Handschrift: „Sprichit he abir ia ◦ he si egin edir voitman, so insal min sien zu burgeri nicht inpha ◦ sien herri inirloibiz umi dan ◦ an den he giet, daz he un biste“.26 Folgt man der Interpunktion in N, so endet der Satz mit „inpha“, ein neuer beginnt mit „sien herri“. Trotz allem übersetzte Meyer die zwei Sätze als einen: „Sagt er aber ja, er sei Eigen- oder Vogtmann, so soll man ihn nicht als Bürger annehmen, sein Herr erlaube es ihm denn, von dem er bekennt, dass er ihm zugehöre.“27 Legt man M zugrunde, hat man zwar wesentlich weniger Satzzeichen: „Sprichit he abir ia ◦ hesi eygen edir voytman so un sal man sin nicht zu burgere intpha sin herre in irloybiz umi dan an den he geit daz he un biste ◦“.28 Die Transkription lässt aber, sofern man von einer unsystematischen Interpunktion ausgeht, auch eine andere, an N angelehnte Übersetzung zu, die tatsächlich zwei Sätze herausbildet: „Spricht er aber ja, er sei Eigen- oder Vogtmann, so soll man ihn nicht zum Bürger empfangen, es sei denn, sein Herr erlaubt es ihm. Damit dann, an den er geht, dass er ihm zugehöre.“ Folgt man dieser Übersetzungsmöglichkeit, ergäbe sich inhaltlich eine völlig andere Deutung. Danach erlangte der Eigenmann, der sich mit Genehmigung seines Herrn in ein anderes Abhängigkeitsverhältnis begibt – nämlich in die Zugehörigkeit zum Bürgerverband – die Rechtssicherheit, dass mit Einverständnis seines vorherigen Eigenherrn seine Zugehörigkeit zu diesem endete, da die neue zur Stadt auflebte.

18Je nachdem wie nun der Text transkribiert und übersetzt wird, ergeben sich also völlig verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Allein dieses Beispiel zeigt, dass eine neue kritische Edition dringend erforderlich ist. Erst auf Basis einer neuen Edition können zuverlässige historische und rechtshistorische Analysen erfolgen. Bis dahin kann jede Interpretation nur den Charakter eines Werkstattberichts haben.

19Die nun folgenden Regelungen normieren den Rückforderungsprozess des Eigenherrn. Danach mussten Herren, die Eigenleute einklagen wollten, binnen Jahresfrist vor dem Stadtgericht des Schultheißen klagen.29 Konnte der Eigenmann zur Verteidigung nichts vorbringen, so sollte er ungehindert aus der Stadt ziehen können. Wollte er hingegen „antworten“, ließ er sich also auf eine Verteidigung ein, so sollte man ihm „rechte Währschaft“, „rechte weri“, in Form eines dem Grundherrn ebenbürtigen Mannes zuteilwerden lassen. Danach sollte der andere Mann fortdauernd die Gewähr des Bürgerrechtsanwärters sein und für alles einstehen, wofür dieser seitens seines alten Herrn hätte belangt werden können.30 Diese Konstruktion dürfte in seiner rechtlichen Bedeutung der Klagengewere des sächsischen Prozesses entsprechen, wonach der Kläger dem Beklagten versprach, in dieser Angelegenheit keine weiteren Prozesse zu führen.31 Der andere Mann dürfte als Bürge gedient haben, der die Erfüllung des vom Grundherrn geleisteten Gelöbnisses sicherstellen sollte.32

20Während der Bürgerrechtsanwärter die Möglichkeit hatte, einen Reinigungseid zu leisten, und damit die Klage abzuwehren, war es dem Grundherrn möglich, mittels des Mannes Nagelmagen mütterlicherseits, seine Herrschaft an dem Eigenmann, dem nunmehrigen Bürgerrechtsanwärter, zu beweisen. Dagegen konnte dieser auch nicht schwören. Konnte der Grundherr den Beweis allerdings erfolgreich führen, war der Richter ihm zur Herausgabe des Eigenmannes verpflichtet.33

2. Bürgergeld

21Wesentlich kürzer werden die Aufnahmebedingungen für Bürgerrechtsanwärter geregelt. Die Aufnahmegebühr betrug einen halben Vierdung, je an Richter und Rat sowie eine Mark, die an die Stadt selbst gezahlt werden musste, wobei die Gebühren für Rat und Stadt erlassen werden konnten. Zwei Pfennige erhielten der Reichshofmann, ein Pfennig der Kirchner, der dem Neubürger die Heiligen hinhalten sollte, damit er auf sie schwören konnte – und zwar „dem Reiche die Huld und den Bürgern Treue und Wahrheit“, „mj richi hulde unde din burgerin truwe unde warheit“.34 Dieser Passus ist bemerkenswert, denn die Eidesleistung erfolgte gegenüber dem Reich und den Bürgern. Nicht erwähnt hingegen ist der Rat, den es aber gleichwohl gab, denn er erhielt vom Bürgerrechtsanwärter einen halben Vierdung. Interessant ist die Treueleistung gegenüber den Bürgern. Obwohl es einen Rat gab, erfolgte die Eidesleistung nicht ihm gegenüber. Schaut man sich Bürgereide anderer Reichsstädte an, so wurde die Treue regelmäßig gegenüber Rat und Stadt, nicht aber gegenüber den Bürgern selbst gelobt.35 Aus dieser Tatsache kann man mit Meyer schlussfolgern, dass der Rat noch nicht als Repräsentationsorgan der Bürgergemeinde anzusehen war. Es gab also noch keine klar ausgeprägte Ratsverfassung. Die Gemeindebildung war noch am Anfang.

22Mit der Zahlung weiterer vier Pfennige an den Schultheißen, der so genannten Bannpfennige, war nun der Neubürger schließlich in den Gerichtsschutz der Stadt aufgenommen.36

3. Sicherungsrechte

23Den nun folgenden Abschnitt hat Meyer in seiner Edition in die zwei Kapitel „Klage um Darlehensschuld“ und „Klagebeweis durch Gäste“ unterteilt. Die Handschriften weisen diese Unterteilung dagegen nicht auf. Vielmehr knüpft der erste Satz des Kapitels „Klagebeweis durch Gäste“ nahtlos an den vorangegangenen Satz an.37 Auch die von Meyer gewählte Überschrift „Klage um Darlehensschuld“ kann, sofern man an einer Unterteilung festhält, nicht überzeugen. Aus dem ersten Stück des Quellentextes geht nicht hervor, ob es sich bei dem Rechtsgeschäft um ein Darlehen oder eine Leihe handelt: „liet ein man enin man sin guit zu eime tage“.38 Erst die Ausführungen im von Meyer als „Klagebeweis durch Gäste“ genannten Abschnitt lassen auf die Rückzahlung einer Geldsumme, mithin auf eine Darlehensschuld schließen: „daz sal man geldi ubir die weridin nacht“.39 Da der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen allerdings auf den unterschiedlich ausgestalteten Sicherungsrechten liegt, ist das unerheblich, zeigt jedoch, dass die Unterteilung in zwei Kapitel künstlich ist.

24Zunächst wird klargestellt, dass der Gläubiger vor Zeitablauf den Schuldner weder zur Stellung eines Pfandes, noch eines Bürgen zwingen konnte: „so in mac he un vor dimi tage wed zu phandi noch zu burgin getwinge“. Die nun folgenden Sicherungsmöglichkeiten differenzieren zwischen dem nicht beisitzenden Gläubiger, „unde in iz he nicht ein bizezzin man“, und dem Gläubiger, der Gast ist.40 Sowohl der nicht Beigesessene als auch der Gast müssen – wohl anders als der Bürger, zu dem nichts näher ausgeführt wird – einen Eid leisten, damit der Richter vom Schuldner eine Sicherheitsleistung einfordert. Der Schuldner wird sodann verpflichtet, bis zum nächsten Tag „ubir di weridin nacht“, zu zahlen. Innerhalb der Vereidigung wird zwischen dem nicht Beigesessenen, der als Zeugen entweder zwei Bürger oder einen Bürger und einen Gast beibringen kann, und dem Gast, der zwei Bürger als Zeugen benennen muss, unterschieden. Während der nicht Beigesessene und der Gast einen Reinigungseid zu leisten haben, werden die Bürger immer auf ihren Bürgereid verpflichtet. Sie müssen bei des Reiches Huld schwören.41

IV. Vergleich

25Die wohl spannendste Passage der Bestimmungen zum Bürgerrecht bieten die Ausführungen zum Umgang mit den Eigenleuten und ihre Möglichkeiten, das Mühlhäuser Bürgerrecht zu erlangen, also im Kern die Frage, welchen Freiheitsstatus der Mühlhäuser Bürger erlangen konnte.

1. Verschiedene „Freiheitsphasen“

26Bernhard Diestelkamp hat in seinem 1991 verfassten Aufsatz mit dem Titel „Freiheit der Bürger – Freiheit der Stadt“ verschiedene Entwicklungsstufen dieser Freiheit aufgezeigt.42 So machte er drei Phasen der Freiheitsentwicklung aus: zunächst die Verbesserung des Zensualstatus durch den Erlass des Buteils, der Sterbfallsabgabe, zu Beginn des 12. Jahrhunderts.43 Eine zweite Phase, die ihren Schwerpunkt Ende des 12. Jahrhunderts hatte, charakterisierte er mit einem „beginnenden Autonomiebestreben“ stadtbürgerlicher Freiheit.44 Nun ging es nicht mehr nur um die Beseitigung von Sterbfallsabgaben, sondern vielmehr um den gesamten Rechtsstatus der jeweiligen Person, welcher allerdings nicht per se „Freiheit“ zugestanden wurde. Die Freiheitsbestimmungen der zweiten Entwicklungsstufe kamen im prozessualen Gewand daher und ermöglichten dem Grundherrn eine Beweisführung zur Rückforderung seines Eigenmannes.45 Eine dritte Stufe setzte er schließlich für das 13. Jahrhundert an, in der die „Freiheit“ materiellrechtlich jedem gewährt wurde, der sich in der jeweils privilegierten Stadt, ohne Rückforderung über Jahr und Tag aufgehalten hatte.46

27Betrachtet man die Bestimmungen des Mühlhäuser Rechtsbuchs, so fällt auf, dass sie, folgt man Diestelkamps Kategorisierung, in die zweite Phase der Freiheitsentwicklung, der prozessualer Beweisregeln, fallen. Beispielhaft führte er für die zweite Phase Bestimmungen aus Freiburg im Breisgau an. Dort konstatierte Diestelkamp für den ältesten Rechtsbestand zu Beginn des 12. Jahrhunderts ebenfalls „nur“ eine Beseitigung der Sterbfallsabgaben47: „Si quis burgensium meorum defungitur, uxor ejus cum liberis suis omnia possideat et sine omni contradictione, quecumque vir ejus dimiserit, obtineat.“48 Eine nächste, von ihm als noch zum 12. Jahrhundert gehörende Textschicht eingeordnet, wies prozessuale Bestimmungen auf. Zunächst wurde die Niederlassungsfreiheit eines jeden nach Freiburg Kommenden festgestellt, wovon allerdings sogleich der „servus“, der von seinem Herrn zurückgefordert wurde, auszunehmen war. Leugnete der Eigenmann jedoch seinen Rechtsstatus, so konnte der Herr ihn mit sieben der nächsten Kognaten des Eigenmannes vor dem Herzog als Stadtherrn seiner Eigenschaft überführen.49

28Eine prozessuale Komponente erhielt auch der 1179 von Barbarossa bestätigte Rheinfränkische Landfrieden, nach welchem Grundherrn ihre Ansprüche auf ihre Eigen- oder Vogtleute sowohl in Dörfern als auch in Städten nur im Klageweg vor dem zuständigen Ortsrichter geltend machen konnten.50

2. Die „zweite Freiheitsphase“ – der Rückforderungsprozess

29Alle Fassungen des nun entstehenden Rechtssatzes Stadtluft macht frei stimmen dahingehend überein, dass nun immer der Rechtsstatus selbst in Frage stand, die Rückforderung nur noch gerichtlich geltend gemacht werden konnte und im Allgemeinen der Jahresfrist unterlag. So heißt es in einer Bremer Urkunde aus dem Jahr 1186, dass der Kläger nach Jahr und Tag den Beweis der Hörigkeit nicht mehr führen könne, der Beklagte hingegen aber seine Freiheit beweisen dürfe. Darüber hinaus musste der Kläger zu Prozessbeginn Bürgen stellen und bei nicht ordnungsgemäßen Verfahrensablauf Buße zahlen.51

30Die sich hier andeutende Klagengewere, dass der Kläger zu Beginn einen Bürgen stellen musste, scheint mit dem Prozess des Mühlhäuser Rechtsbuchs vergleichbar zu sein. Während dem Kläger in Bremen nach Jahr und Tag der Beweis der Hörigkeit verwehrt war, der Beklagte aber seine Freiheit nach Fristablauf beweisen konnte, war die Rechtslage nach den Mühlhäuser Bestimmungen für den Beklagten noch günstiger. Hier lag die Beweislast innerhalb der Jahresfrist beim Kläger, der immerhin Nagelmagen des Beklagten mütterlicherseits vorbringen musste. Nach Ablauf des Jahres war die Beweisführung gar nicht mehr möglich und die Freiheitsvermutung galt zugunsten des Beklagten.

31Ähnliche prozessrechtliche Bestimmungen weisen auch andere städtische Statuten auf.

32So konnte 1214 in Bielefeld der Herr innerhalb einer Frist von einem Jahr und sechs Wochen die Eigenschaft des „Entlaufenen“ beweisen, nach Ablauf der Frist galt dieser jedoch als frei:

33Cives non recipiunt aliquem in concivium suum, qui habet dominum contradicentem… Si vero infra annum et VI septimanas dominus suus superveniens eum de servitute iuste convicerit, sine restitutione denariorum, quos dederat, a concivio alienari debet… Qui annum habitaverat in wicbilethe nullo eum in servitutem redigente, libertati debet addici.52

34Das westfälische Herford erhielt 1281 eine Bestätigung seiner Freiheiten durch den Kölner Erzbischof Siegfried von Westerburg. Danach konnte der Eigenherr den Eigenmann vor dem königlichen Vogt nach Hinterlegung einer ausreichenden Kaution einklagen.53 Nach dem Bürener Stadtrecht aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts konnte der Eigenmann, der Jahr und Tag unwidersprochen in der Stadt gesessen hatte, zumindest den Angriff auf seine Freiheit leichter abwehren als ihm zu erliegen.54

35Eine sehr interessante und durchaus mit Mühlhausen vergleichbare Regelung findet sich in einer Rechtsweisung Osnabrücks an Wiedenbrück um das Jahr 1480 herum. Den dort niedergeschriebenen Osnabrücker Gewohnheiten zufolge konnte der Grundherr einen Bürger, der Jahr und Tag unangefochten in der Stadt gesessen hatte, als Eigenmann vor dem Burggericht zurückfordern. Zu Prozessbeginn hatte er allerdings jeweils eine Goldmark an den Rat, das Gericht und den Beklagten zu zahlen. Konnte er sein Eigentum beweisen, erhielt er die drei Goldmark zurück, anderenfalls verfielen sie. Der Beklagte hingegen hatte die Möglichkeit, seine freie Geburt mittels sieben Händen zu bezeugen, vier Hände väterlicherseits, drei Hände mütterlicherseits:

36Were jemant, de unser borghere jenych, de ja und dach unse borgere ghewezen hadde, sunder rechte byspreke vor egen anspreke und den myt rechte echenen wolde, de zal tho vorns deme rade eyne mark goldes vorwyssenen, so wyset ene de raet in dat burgherychte. Und deme rychte sal he ok eyne mark goldes vorwyssenen. So sal he ok deme ghenen, den he ansprekt, vorwyssenen eyne mark goldes. Und kann he dan den egendom over den ghenen, den he ansprekt in deme gherychte, thobrynghen alze recht ys, so blifft he der dryer mark goldes buten scaden; werd he des over nedervelych, so hevet he de dre mark goldes verloren. Thut ok de ghene, de dar anghesproken wert, up eynen vrydom, dat he zecht, he zy vryg gheboren, den vrydom mach he tughen und thobrynghen myt seven handen, alzo myt veer handen by synes vader syt und myd dren by syner moder siid.55

37Damit gewährten sowohl das Osnabrücker als auch das Mühlhäuser Recht dem Eigenmann einen gerechten Prozess. Die Beweislast war allerdings in Osnabrück etwas ungünstiger. Hier war der Beklagte beweispflichtig und das auch noch nach Jahr und Tag. In Mühlhausen vermutete man hingegen nach Jahr und Tag seine Freiheit.

38Diestelkamp sah bereits in der Beweislastverteilung des Bremer Stadtrechts einen Wandel, der von einer vermuteten Unfreiheit zu einer vermuteten Freiheit führte. Völlig zurecht konstatierte er hierin eine Stärkung des Stadtherrn im Vergleich zum benachbarten Grundherrn.56

3. Verbesserung städtischer Autonomie

39Überträgt man diesen Befund auf Mühlhausen, so kann man auch hier eine stadtherrliche Stärkung konstatieren, womit nun Auswirkung und inhaltliche Bedeutung des Freiheitstopos näher betrachtet werden müssen. Spitzt man Diestelkamps Thesen zu und beachtet nochmals den Titel seines Aufsatzes „Freiheit der Bürger – Freiheit der Stadt“, so muss man feststellen, dass es innerhalb dieses ganzen Freiheitstopos vordergründig nicht um die Freiheit des Individuums ging, sondern vielmehr um die Verbesserung der städtischen Autonomie. Durch die Erteilung der Freiheitsprivilegien stärkte der jeweilige Stadtherr die Stadt selbst, nicht aber den Einzelnen. Vielmehr begab sich dieser von der Abhängigkeit seines Eigenherrn in die neue Abhängigkeit der Stadt, unter die des Stadtherrn.

40Diese These lässt sich an weiteren Beispielen verifizieren. Dass vor allem die städtische Autonomie für die Frage der Freiheit zentral war, zeigt eine Urkunde aus Paderborn 1222. Danach sollte ein Eigenmann des Bischofs, der Kirche oder der Ministerialität, der sich in der Stadt niedergelassen hatte, aus der Bürgerschaft verstoßen werden, sofern der Herr ihn innerhalb eines Jahres zurückverlangte.57 Diese sehr grundherrnfreundliche Regelung sah keine Beweiserleichterung zugunsten des Eigenmannes vor. Allerdings kannte auch sie zumindest die Jahresfrist.

41Anders als Paderborn, wo die Bürger noch ihre Autonomie gegen die Bischofsherrschaft erkämpften, verweigerte Dortmund jedweden Rückforderungsprozess, wie eine Bestimmung aus dem zu Beginn des 14. Jahrhunderts angelegten Urteilsbuch zeigt. Dort wurde konstatiert, dass Hörigenprozesse in Dortmund nicht gestattet seien: „Worde wey in unser staid vor eigen an gesproken, enkennet hey des eygendomes eder nicht, gelyke wol mach hey unser stades vriheit gebruken, wante in unse staed neyn gheboysme gheit.“58 Darüber hinaus bestätigte Ludwig der Bayer 1332 den Dortmundern, dass sie jeden nach Jahr und Tag Angenommenen als Bürger ihrer Stadt schützen dürften.59

42Es schien allerdings nicht für jede Stadt erstrebenswert gewesen zu sein, sich einem Rückforderungsprozess auszusetzen. So legt das südlich von Hagen gelegene Breckerfelder Stadtrecht von 1396 fest, dass ein Eigenmann, der die Bürgerschaft begehre, sich nach Jahr und Tag um seine Freilassung von seinem Herrn zu bemühen habe. Anderenfalls müsse er, sofern die Stadt zur Verantwortung gezogen würde, die Stadt verlassen und sogar noch das Abzugsgeld in Höhe des 10. Pfennigs zahlen.60

43Wie stark die Dichotomie zwischen Stadtgründung und Eigenherrschaft war, zeigt das Beispiel der Münsteraner Bischöfe. 1289 hatte Bischof Everhard von Münster die villa Haltern zur Stadt erhoben und Haltern das Freiheitsprivileg Münsters verliehen. Danach sollte der Bürgerrechtserwerber, der nach Jahr und Tag unangefochten in Haltern gelebt hatte, uneingeschränkt in seinem Recht geschützt werden, nach dem gleichen Recht, das zuvor auch den Einwohnern Coesfelds und Borkens verliehen worden war. Gerade einmal 14 bzw. 22 Jahre später verliehen die nachfolgenden Münsteraner Bischöfe den Siedlungen Horstmar und Dülmen Stadtrechtsprivilegien einander übereinstimmenden Inhalts. Danach sollte ohne Zustimmung des Richters und der Schöffen niemand ins Bürgerrecht aufgenommen werden. Eigenleute und die Nachfolger der Liten des Hochstiftes sollten sich jedoch „in diesem Städtchen weder zu Lebzeiten noch nach dem Tod eines besseren Rechts erfreuen, als sie es außerhalb gehabt hätten.“61 Hier standen die Bischöfe als Stadtherrn der von ihnen neu gegründeten Städte in einem Konkurrenzverhältnis mit sich selbst. Offenbar bestand die Gefahr, dass ihre eigenen Liten und Eigenleute den Rechtsstatus des Bürgers in den neugegründeten Städten dem Landleben vorzogen. Damit wirkte sich die Landflucht, die die Stadtgründung begünstigte, im eigenen Herrschaftsbereich negativ aus.

44Dass die Kirche als Eigenherr indes sehr rigoros vorgehen konnte, zeigt die 100 Jahre zuvor erfolgte Androhung der Exkommunikation seitens des Münsteraner Bischofs Dietrich III. im Jahr 1224:

45Verum quia ecclesia Dei non solum ab extraneis sed plerumque etiam a suis fraudem perpetitur, ut videlcet astuta quadam tergiversatione se ad alios fines transferant homines ei pertinentes, et domicilio sibi in oppidis procurato, se frangant in libertatem, qui proprietatis iure tenentur, eorum iniquae machinationi provide obviamus, auctoritate Dei et nostra terribiliter excommunicantes eos, qui se ultra mensuram suae conditionis extollentes, collum excutiunt a iugo servitutis, qua astricti sunt ecclesiae campi sanctae Mariae, nec non et illos, qui tales transfugas colligunt et tenent.62

46Auch das Hochstift Paderborn versuchte seine Eigenleute zu halten. Zwar drohte Bischof Bernhart von Paderborn keine Exkommunikation an. Allerdings privilegierte er die westlich von Paderborn gelegene Stadt Brakel 1322 nur dahingehend, dass Bürger, die Jahr und Tag unangesprochen in der Stadt gesessen hatten, zwar gegen Ansprüche fremder Herren zu schützen seien, von dieser Regelung allerdings alle kirchlichen Eigenleute sowie Hörige des Domkapitels und der Klöster und Kirchen des Hochstifts ausgenommen seien.63

47Anders war hingegen die Situation in den Reichsstädten, wie auch in Mühlhausen. Hier standen sich unterschiedliche Interessen einander gegenüber. Stadtherr war regelmäßig der Kaiser bzw. König, das umliegende Land lag aber im Machtbereich eines Fürsten oder Grafen, sodass hier Grundherr und Stadtherr anders als im Münsteraner Beispiel nicht identisch waren. Ein Höhepunkt der Stadtgründungspolitik mittels bürgerlicher Freiheiten, bei dem ganz deutlich wird, dass es immer nur um die Interessen des Stadt- und des Landesherrn ging, zeigt sich am Beispiel des kleinen, östlich von Paderborn gelegenen Städtchens Schwaney. Hier hatten 1344 Graf Ludolf von Herse und Bischof Balduin von Paderborn gemeinsam aus den bereits bestehenden Siedlungen Ecwordinchusen und Elnere die Stadt Schwaney gegründet. Laut Gründungsurkunde sollten alle Eigenleute, die zu diesem Zeitpunkt die beiden Siedlungen bewohnt hatten, solange sie in Schwaney wohnten, Freiheit genießen. Sollte aber jemand die Stadt verlassen, so durfte der jeweilige Grundherr den Abtrünnigen verfolgen. Unfreie, die hingegen in keiner der beiden Siedlungen ansässig waren, sollten nicht ohne Einwilligung ihres Herrn nach Schwaney ziehen. Anderenfalls durfte der Grundherr sie in die Stadt verfolgen und Sterbfallsgebühren oder andere Dienste und Leistungen, die ihm zustanden, einfordern können. Außerdem unterlagen die Rückforderungsansprüche des Grundherrn keiner Verjährung!:

48de wy unde her Ludolf nu hebbet tzo Ecwordinchusen und tzo Elnere, die scholen vry wesen die wyle se wonet unde sittet in dessen slote vorbescreven; meven voren sie ut den slote, so mochte elich van uns volghen sinen luden unde syme rechte. Meven andere unse oft heren Ludolfs oft sines zones lude oft enigher stichte oft riddere oft knapen oft anderer lude, de in unsem stichte beleghen oft besethen sin, eghene lude solen in dit slot nicht varen buten unsen unde sinen oft erer heren willen; voren sie aver in dit slot, so mochte etlich sinen luden unde sinen rechte volghen in ervetael in denste unde in allem rechte; unde de luden enmochten ouch in desen slote eren heren nicht vorjaren.64

4. Zwischenergebnis

49Damit kann als Zwischenergebnis festgestellt werden, dass das Freiheitsprivileg vor allem der jeweiligen Stadt bzw. ihrem Stadtherrn zum Vorteil gereichte. Der jeweilige Eigenmann stand hier nicht im Fokus der Interessen.

50Allein über die zeitliche Dimension der Freiheitsprivilegien und damit auch einer zeitlichen Verortung des Mühlhäuser Rechtsbuchs lässt sich auf Basis der anderen Quellen keine Erkenntnis gewinnen.

51Während Diestelkamp eine Weiterentwicklung der Freiheitsprivilegien beobachtet, bei der am Anfang die Beseitigung der Sterbfallsabgabe steht, die dann von einer prozessualen Komponente der Beweiserleichterung abgelöst wird, bis hin zu einer „echten“ Freiheit nach Jahr und Tag, hat Volker Henn, dessen Beispiele hier herangezogen wurden, für die westfälischen Quellen andere Befunde erhoben. Er konstatiert vielmehr ein Fehlen des Satzes „Stadtluft macht frei“ vor 1150 in Westfalen, macht dann zu Beginn des 13. Jahrhunderts, also im Zeitraum des Mühlhäuser Rechtsbuchs, eine mehr oder weniger uneingeschränkte Geltung des Satzes aus, die seines Erachtens zum Ende des Jahrhunderts wieder eingeschränkt wird.65 Die beiden Befunde stehen einander diametral gegenüber. Der Mühlhäusener Befund passt zu Diestelkamps Konzeption, nicht aber zu der Volker Henns. Vielleicht sollte man, um diesen Widerspruch aufzulösen, von der Idee eines allgemeinen Entwicklungsgedanken Abstand nehmen. Es erscheint angemessener, die jeweilige Stadt in ihrem Kontext zu betrachten und zu überlegen, ob das jeweilige Stadtrechtsprivileg, so wie es erteilt worden ist, im Interesse des Stadtherrn und im geringstmöglichen Konflikt zu dem den Eigenmann verlierenden Grundherrn stand. Vielleicht spiegelt sich die von Diestelkamp vorgenommene Kategorisierung, die an sich nicht im Widerspruch zu Henns Beispielen steht, in den Quellen sehr wohl wieder – aber nicht im Rahmen einer zeitlichen Entwicklung, sondern in einem abgestuften, den lokalen machtpolitischen Ansprüchen entsprechendem Nebeneinander.

V. Kontextualisierung des Mühlhäuser Rechtsbuchs

52Ein Blick zurück zur Mühlhäuser Quelle wirft nach dem festgestellten Zwischenergebnis Fragen zum Entstehungskontext des Rechtsbuchs auf. Weshalb finden sich so ausführliche Regelungen zum Freiheitsprozess der Eigenleute? Wie kann es überhaupt zu diesen Regelungen gekommen sein? Welche Interessengegensätze standen sich in Mühlhausen einander gegenüber?

53Zunächst ist anzunehmen, dass es überhaupt ein Regelungsbedürfnis gegeben haben wird. Ohne praktische Konfliktfälle wären derartige, ausführliche Regelungen wohl nicht im Rechtsbuch aufgenommen worden.

54Üblicherweise erhielten die Städte entweder im Zuge ihrer Gründung oder zu einem späteren Zeitpunkt vom jeweiligen Stadtherrn – bei den Reichsstädten durch den Kaiser, in den Bischofsstädten vom jeweiligen Bischof – diese Freiheitsprivilegien erteilt.66 Für Mühlhausen lässt sich ein Privileg dieser Art erst für das Jahr 1274 finden.67 Danach bestätigte Rudolf von Habsburg am 21. März 1274 der Stadt Mühlhausen die ihr von Friedrich II. verliehenen Rechte und Freiheiten.68 Das erwähnte Privileg Friedrichs II. ist hingegen nicht auffindbar, was natürlich nicht zwangsläufig heißt, dass keines erteilt worden ist. Immerhin kann es auch verlorengegangen sein.

1. Privileg Friedrichs II.

55Fraglich ist jedoch, wann ein solches Privileg Friedrichs II. erteilt worden sein soll. Auffällig ist das strikt formulierte Verbot, keine Eigen- und Vogtleute in Mühlhausen aufzunehmen: „sal un vrege ob he iminin biste daz he sin eigen edir sinvoyt man si... Sprichit he abir ia ◦ hesi eygen edir voytman so un sal man sin nicht zu burgere intpha sin herre in irloybiz umi“.69 Für den Fall, dass der Bürgerrechtsanwärter zugab, ein Eigen- oder Vogtmann zu sein, konnte er nur noch mit Genehmigung seines Eigenherrn aufgenommen werden. Diese strenge Regelung und vor allem die Tatsache, dass sich das Verbot nicht nur auf Eigenleute geistlicher Fürsten erstreckte, spricht für eine Regelung nach Erlass des Statutum in favorem principum 1231/1232. Durften nach der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220 nur Eigenleute geistlicher Fürsten nicht mehr in die Reichsstädte aufgenommen werden70, erstreckte sich das Verbot 1232 auf alle Eigenleute fürstlicher, adeliger, ministerialer oder kirchlicher Eigenherren.71 Da allerdings der Mainzer Reichslandfriede von 1235 das Aufnahmeverbot der Eigenleute nicht mehr normierte72, müsste ein so restriktiv formuliertes Privileg zwischen 1232 und 1235 erteilt worden sein.

56Der einzige bekannte Fall, in dem Friedrich II. zwischen 1232 und 1235 ein solches Stadtrechtsprivileg erteilt hat, war Erfurt. Für diesen Fall hat allerdings Stephanie Wolf sehr überzeugend dargelegt, dass die Begünstigung Erfurts durch Friedrich II. lediglich ein Mosaikstein im Konflikt mit seinem Sohn Heinrich (VII.) war. Mithin handelte es sich bei der Privilegierung um ein machtpolitisches Kalkül.73 Ein vergleichbare Konflikt- und Interessenlage ist für Mühlhausen nicht bekannt. Wenn überhaupt, hätte Friedrich II. ein solches Privileg erteilt, um seine Position bedeutend zu stärken. Damit kommt aber eine Privilegienerteilung vor 1235 eigentlich kaum in Betracht. Vor April 1235 hielt er sich nicht in Deutschland auf und bis zu seiner eigenen Ankunft war er auf eine Unterstützung seitens der Fürsten angewiesen. Dass er wirklich in dem kurzen Zeitraum zwischen seiner Ankunft in Deutschland und der Verabschiedung des Mainzer Reichslandfriedens im August 1235 noch ein entsprechendes Privileg für Mühlhausen erteilt hat, erscheint doch nicht so sehr wahrscheinlich.

2. Flämische Rechtsgewohnheit

57Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass Friedrich II. Mühlhausen genau wie Erfurt an sich binden wollte oder, dass die Mühlhäuser Bürger den König um die Ausstellung eines so ausgestalteten Freiheitsprivilegs gebeten hatten. Für das Gebiet nordöstlich von Mühlhausen ist bekannt, dass flämische Siedler möglicherweise ihr eigenes Recht mitgebracht hatten, was im neu besiedelten Gebiet sukzessive Einzug erhielt.74 Heinrich Brunner hat in seiner Untersuchung 1910 gezeigt, dass das Freiheitsprinzip im flämischen Gebiet schon lange Zeit vor vergleichbaren Sätzen in deutschen Städten gegolten hatte.75 Ob nun aber Mühlhausen, das offenbar nicht mehr von flämischen Zuzüglern besiedelt worden war, das Freiheitsprinzip noch von flämischen Siedlern kennengelernt und nun eingefordert hatte, erscheint zwar als eine denkbare Möglichkeit, allerdings nicht als die Wahrscheinlichste. Grundsätzlich scheint der zu einer gewissen Freiheit führende Weg in die Stadt ja kein vereinzeltes Phänomen im Norden des Reiches gewesen zu sein und damit auch einem gewissen Bekanntheitsgrad unterlegen haben.

3. Konflikte mit umliegenden Grundherren

58Betrachtet man die Ausgestaltung des Prinzips im Mühlhäuser Rechtsbuch, so scheint doch der Aspekt eines drohenden Rückforderungsanspruchs sehr stark gewesen zu sein. Schaut man sich die geographische Lage der Reichsstadt genauer an, stellt man fest, dass acht Kilometer nordöstlich von Mühlhausen das Kloster Volkenroda liegt. Das 1131 gegründete Zisterzienserkloster hatte einen weiten Streubesitz, war sowohl von den Päpsten als auch den Königen privilegiert, von letzteren unter anderem mit Marktrecht ausgestattet worden, und unterstand dem Schutz der Landgrafen von Thüringen.76 Seit 1219 verfügte das Kloster Volkenroda immerhin über einen Freihof in Mühlhausen.77 Eine unmittelbare Verbindung zwischen Kloster und Stadt war damit gegeben. Dass der ein oder andere handwerklich tätige Eigenmann die Stadt dann doch klösterlichen Ländereien vorzog, um dort nach Jahr und Tag Bürgerrecht zu erhalten, ist jedenfalls nicht auszuschließen.78

59Im Übrigen war Mühlhausen als einer der Hauptkriegsschauplätze im staufisch-welfischen Thronstreit auf eine größere Bürgerschaft angewiesen. Nachdem 1198 Philipp von Schwaben in Mühlhausen zum König gewählt worden war, belehnte dieser 1199 Landgraf Hermann von Thüringen unter anderem mit den ursprünglichen Reichsstädten Nordhausen und Mühlhausen. 1203 entzog der König ihm aber das Lehen wegen seines Parteiwechsels zu Otto IV. wieder, dem der Landgraf allerdings auch nicht treu blieb. Gunzelin von Wolfenbüttel, der Truchsess Otto IV., baute Mühlhausen nach dem Tod Philipps von Schwaben zu einem wichtigen Stützpunkt im Krieg gegen den Landgrafen aus und befestigte im Zuge dessen die Reichsstadt.79 Ein Mauerbau war allerdings kostenintensiv. Hier bedurfte es sicherlich einiger Einnahmen, sei es durch Steuern von Bürgern oder Zöllen von Gästen, um die Kosten zu decken. Im Übrigen brauchte man sicherlich auch personelle Ressourcen, sodass für Mühlhausen eine Erweiterung der Bürgerschaft erstrebenswert gewesen sein dürfte. Umgekehrt bot natürlich eine ummauerte Stadt den Menschen mehr Schutz als das umliegende Land, das auch noch kriegerische Auseinandersetzungen aushalten musste.

4. Zwischenergebnis

60Möglicherweise kamen bei der Verleihung der Freiheiten mehrere Aspekte zum Tragen. Vielleicht begehrten die Mühlhäuser Bürger von Friedrich II. ein Freiheitsprivileg, um in Rückforderungsprozessen des Klosters Volkenroda besser gewappnet zu sein. Möglicherweise war die Erteilung eines solchen Privilegs sogleich für den Kaiser von Vorteil, um Mühlhausen als staufische Bastion zu stärken und weitere Verbündete vor Ort zu haben. Leider fehlen die Quellen, um diese Vermutungen weiter zu erhärten. Um genauere Aussagen treffen zu können, müssten sowohl die staufische Städtepolitik im Hinblick auf die thüringischen Gebiete als auch das Phänomen „Stadtluft macht frei“, ergänzt um andere Quellen, noch stärker untersucht werden.

VI. Ergebnis

61Die Bestimmungen des Rechtsbuches zeigen, dass das Mühlhäuser Recht im Hinblick auf das Bürgerrecht kein Alleinstellungsmerkmal hatte, sondern sich in eine Reihe vergleichbarer Rechtsbestimmungen einordnen lässt. In vergleichbarer Ausführlichkeit treten solche Bestimmungen indes selten auf. Nicht nur die Normierung des Bürgerrechts, sondern auch die zahlreichen anderen rechtlichen Aspekte, die in der Quelle angesprochen werden, bedürfen einer ausführlichen Untersuchung.

62Die aufgezeigten Differenzen zwischen der Meyerschen Edition und der von der Verfasserin versuchsweise vorgenommenen Transkription und Übersetzung zeigen jedoch, wie unerlässlich die Anfertigung einer kritischen Edition zunächst ist. Erst danach können sich weitergehende Untersuchungen den vielfältigen Rechtsthemen dieses einzigartigen Rechtsdenkmals widmen. Vielleicht ist auf Basis neuer Erkenntnisse auch eine genauere Datierung des Mühlhäuser Rechtsbuchs möglich. Vom Bürgerrecht ausgehend scheint sich die Entstehungszeit auf die Jahre zwischen 1232 und 1235 eingrenzen zu lassen. Ob sich dieser Befund auch ausgehend von anderen Rechtsmaterien bestätigen wird, muss sich künftig zeigen. Das Mühlhäuser Rechtsbuch bietet jedenfalls eine spannende, noch unerschlossene Welt!

Articles May 9, 2019
© 2019 fhi
ISSN: 1860-5605
First publication
May 9, 2019

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2019-002