Ein Vorwort zur estnischsprachigen Ausgabe der Constitutiones Academiae
Dorpatensis (Academia Gustaviana), 1997 - Zusammenfassung
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1. Die Gründung der Academia Gustaviana |
Die Unterzeichung der Gründungsurkunde der Academia Gustaviana
am 30. Juli 1632 bei Nürnberg durch den schwedischen König Gustav
Adolf II (1594-1632) war eine Demonstration seiner Position im damaligen
Europa, verbunden "mit den Vorhaben der ganzen christlichenWelt". Bereits der Versuch einer Verwirklichung seiner Ambitionen
sollte Schweden in die Reihe der wichtigsten Staaten des damaligen Europas
führen. | 1 |
Seit Gründung der Universtität zu Bologna haben Universitäten
(neben Papst und Kaiser) als dritte Universalmacht gegolten. Zu ihren
wesentlichen Attributen gehörten schon immer die von den höheren
weltlichen und geistlichen Mächten verliehenen Privilegien. Aus diesem
Grunde mußte sich eine Universität bis zum 17. Jahrhundert
stets durch die zwei früheren Universalmächte definieren. | 2 |
Die Situation der protestantischen Universitäten ab dem 17. Jahrhundert
war hingegen eine andere. Die Gründung der Universität zu Dorpat
durch den Schwedenkönig als weltlichen Herrscher, dessen Willen die
ganze christliche Welt beeinflusst hatte, sollte ein Signal setzen. | 3 |
Die Gründung der Universität zu Dorpat führt uns zu
einer Frage, die mit der Geschichte Est- und Livlands im Kontext der Entwicklung
Europas eng zusammenhängt: wie ist es dem kleinen, verhältnismäßig
armen Schweden gelungen, 150 Jahre lang einen Platz unter den führenden
Größen des Abendlandes zu behaupten? In der Nähe von Dorpat
lag die größte Stadt Schwedens, Riga, die damals als einzige
des Königreiches eine Großstadt im europäischen Sinne
war. Deshalb kommt auch der Gerichtsstadt Dorpat (Hofgericht) eine neue
Bedeutung zu, die ihr einen festen Platz in Europa verschaffte. Die Tatsache,
daß Dorpat, bereits vor Gründung der Universität Gerichtsstadt
wie auch administratives Zentrum Livlands war, vergrösserte ihre
Bedeutung sowohl im Königreich Schweden, als auch in den Staaten,
die mit Schweden als Großmacht verkehrten. | 4 |
2. Die Gründungsurkunde und Verfassung der
Academia Gustaviana als wesentliche Kulturtexte |
Es besteht kein Zweifel daran, daß die Gründung einer Universität
in Dorpat auch unsere Kulturgeschichte grundsätzlich verändert
hat; seit der Gründung der Universität zu Bologna entwickelten
sich Universitäten immer mehr zu einem wesentlichen Instrument der
Hochkultur einer Gesellschaft. Im 17. Jahrhundert ist diese Idee durch
Generalgouverneur J. Skytte nach Livland getragen worden, der sie schon
früher im Zuge von Reformen an der Universität zu Uppsala verwirklicht
hatte. In den Gründungsdokumenten war dem Ideal einer europäischen
Universität eine konkrete Form gegeben worden. Die Anordnung des
Königs sollte dieses Ideal schließlich verwirklichen. Die Gründungsdokumente
der Universität zu Dorpat werden in unserer Kultur immer als ein
Ideal bestehen bleiben, nach dem man auch in der Zukunft die Aktivität
einer Universität messen und beurteilen kann. | 5 |
Obwohl die Universität zu Dorpat schwierige Zeiten durchgemacht
hat, ist ihre erste Gründungsurkunde für unsere intellektuelle
Elite stets ein Mittel gewesen, die Einheit mit europäischen Universitäten
zu fühlen. Eine eigene Universität ist dabei immer ein Antrieb
zur ständigen Weiterentwicklung; die Universität ist deshalb
für Hochkulturen eine der bedeutendsten Einrichtungen, die Informationen
sammelt, austauscht und bearbeitet. Eine wesentliche Rolle spielte neben
den mit der Universität direkt verbundenen Menschen auch die mit
ihr unlösbar verbundenen Einrichtungen, wie z.B. die Bibliothek,
die Druckerei, usw.. Indem man das System der europäischen Universitäten
übernahm, war sichergestellt, daß alle wichtigen Neuerungen
der europäischen Universitäten auch früher oder später
nach Dorpat gelangten. | 6 |
3. Die Gründungsurkunde und Verfassung der
Academia Gustaviana als Rechtstexte |
Die Gründungsurkunde der Universität zu Dorpat muß
als typisches Privileg der damaligen Zeit betrachtet werden. Gustav Adolf
II fügte ihr die Widmung "auf das diese Akademie ewig blühe"
hinzu. Außer der ewigen Perspektive bekam die Universität auch
die Aufgabe, so zu handeln, daß "die christliche Welt von
ihrer Tätigkeit profitiere". Somit kam zu der Ewigkeit als
Zeitfaktor die christliche Welt als bestimmter Raum hinzu. | 8 |
Die Art und Weise, wie Gründungsurkunde und Universitätsverfassung
nach Dorpat gelangten, ist uns durch die Beschreibung von Friedrich Menius
lebendig überliefert. Unter anderem beschreibt er, wie Rektor J.
Skytte als erster den Rektoreneid ablegte. | 9 |
Mit diesem Eid begann die Existenz der Universität zu Dorpat.
Die Verfassung aus dem 17. Jahrhundert besteht zu großen Teilen
aus verschiedenen Eiden. Alle akademischen Bürger waren untereinander
durch Eide verbunden, die aufgrund fester Regeln ab und zu erneuert werden
mussten. So wurden die Studenten bei der Immatrikulation, ebenso wie Dekane
und Professoren, vereidigt. Die Universität war immer auch Spiegel
ihrer Zeit. Auch wenn in neueren Eidestexten (ungefähr seit
dem 16. Jahrhundert) im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kriminalrechts
die Beschreibung der Sanktion bei Eidesbruch fehlte, so ist doch ihr archaischer
Hintergrund immer noch sehr deutlich fühlbar. | 10 |
Auch wenn aus unserer Universitätstradition der Eid praktisch
verschwunden ist, hat er sich dennoch in dem Kulturraum erhalten, zu dem
wir geschichtlich gehörten, und zu dem wir angeblich immer noch gehören
möchten.An deutschen Universitäten z.B. beenden Professoren,
wie ihre Kollegen in Dorpat im 17. Jahrhundert, ihren Eid mit der Anrufung
Gottes. Daraus ergibt sich auch die praktische Wichtigkeit der Veröffentlichung
und Bekanntmachung historischer Verfassungen heute. Durch die Geschichte
ist das Universitätsleben von ständigem Wandel des Inhalts und
einer verhältnismäßig konservativen Form der Verwirklichung
desselben geprägt gewesen. Hieraus ergibt sich die wesentliche Frage,
wo die minimale Norm der Konservativität liegt, bei der die Universität
ihr historisches Wesen erhält. Beim Lesen der Gründungsurkunde
und der Verfassung aus dem 17. Jahrhundert hat man das Gefühl, es
handele sich nicht um historische Dokumente, sondern eher um gesetzgeberische
Akte, in denen das Wesen der Universität zutiefst erkannt worden
ist. | 11 |