Zeitschrift Aufsätze

Marcus Mollnau (Berlin)

Gründe und Hintergründe des DDR-Rechtsanwaltsgesetzes

1.

Von der Geschichte des Rechts der DDR ist gesagt worden, sie sei nicht nur ein weites Feld, sondern sie bestehe aus vielen Feldern: Schlachtfeldern, Kornfeldern, Trümmerfeldern.1) Von einer solchen Differenzierungsmöglichkeit wird in Nachwendedarstellungen zur Rechts- und Justizgeschichte der DDR noch wenig Gebrauch gemacht. Das summarische Bild herrscht vor. Was dabei beschrieben wird, ist in der Regel der Delegitimierung der DDR-Rechtsordnung durch Betroffenheitserzeugung verpflichtet oder folgt nostalgischen Absichten. Selektiv und realitätsfern ist das eine wie das andere. Insoweit werden heute - unter entgegengesetzten politischen Rahmenbedingungen - bei der Analyse der DDR-Rechts- und Justizgeschichte weiterhin Methoden angewandt, die bereits von der Rechtsgeschichtsschreibung der DDR gepflegt wurden. 1
Wenn in der juristischen Literatur der DDR von der Justiz und Rechtsprechung die Rede war, dann stand der Staatsanwalt und der Richter im Vordergrund; die Rechtsanwälte wurden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Die Rechtsanwaltschaft, ihre Stellung und Funktion waren kein Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung. Die wenigen Aufsätze, die in der "Neuen Justiz" erschienen, erörterten - von Ausnahmen abgesehen2) - die Rechtsanwaltschaft vornehmlich aus der Sicht ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Bedeutung oder trugen Jubiläumscharakter. 2
Die erste Publikation, die die Tätigkeitsfelder und die Stellung der DDR-Rechtsanwälte systematisch und nach juristischen Kriterien beschrieb, kam im Jahre 1990 heraus, also zu einem Zeitpunkt, da der Untergang der DDR schon absehbar war.3) Dieses Buch war denn auch schon in Teilen überholt, als es in die Buchläden kam, was aber seinem rechtsgeschichtlichen Wert nicht schmälert. 3
Auch die Gesetzgebung tat sich mit der Rechtsanwaltschaft schwer. Abgesehen von dem Beschluß über die Zulassung von Rechtsanwälten vor dem OG der DDR vom 13. 02. 19504) und der VO über die Bildung von Rechtsanwaltskollegien vom 15. 05. 19535), die Teilaspekte der Stellung und Funktion der DDR-Rechtsanwaltschaft normierten, wurde ein Rechtsanwaltsgesetz erst 1980 erlassen. Damit trat auch die bis dahin formal noch geltende Rechtsanwaltsordnung vom 01. 07. 1878 außer Kraft. 4
Zu diesem Bild paßt, daß erst 1982 das Ministerium der Justiz erstmalig eine offizielle Textausgabe der gesetzlichen Bestimmungen über die Rechtsanwaltschaft herausgab.6)5
Im folgenden soll die Entstehungsgeschichte dieses Rechtsanwaltsgesetzes und ihr Kontext anhand von Unterlagen erörtert werden, auf die der Verfasser in der Stiftung der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) stieß.7)6
In Untersuchungen zur DDR-Justiz, die nach der Aufhebung der deutschen Zweistaatlichkeit publiziert wurden, wird zwar die Rolle und Tätigkeit der Rechtsanwaltschaft thematisiert, jedoch im Vordergrund steht dabei die Abschaffung der freien Advokatur und die Bildung von Rechtsanwaltskollegien. Ein Vorgang, der in Anlehnung an die Landwirtschaftspolitik im Realsozialismus von verschiedenen Autoren als "Kollektivierung der Rechtsanwaltschaft" bezeichnet wird.8) (Ob diese Benennung glücklich gewählt ist, mag dahingestellt bleiben.) 7

2.

Wie auch immer der Vorgang benannt wurde und wird, die Bildung von Rechtsanwaltskollegien war eine folgenreiche Zäsur in der Entwicklung der DDR-Rechtsanwaltschaft. 8
Die Rechtsanwaltskollegien brachen mit dem überkommenen Status der Rechtsanwälte und ihrer traditionellen Funktion, die nicht wenig Freiraum für demokratisches und rechtsstaatliches Engagement einschloß. Dies wußten einige Juristen der DDR, die 1952/53 so vehement für die Kollegien plädierten, aus eigener Erfahrung, z.B. jene, die als Anwälte der Roten Hilfe in der Weimarer Republik agierten, sehr genau.9) Der Bruch mit den demokratisch-republikanischen Anwaltstraditionen, wie sie sich in Deutschland bis 1933 herausgebildet hatten, fiel umso radikaler und unreflektierter aus, da er im Wege des sowjetischen Rechts- und Justiztransfers erfolgte. Die Sowjetische Kontrollkommission initiierte und kontrollierte ihn mit oktroyierender Hand und ohne Rücksichtnahme auf die national geprägten rechts- und justizpolitischen Besonderheiten in der DDR. Erst nach Stalins Tod und nach dem 17. Juni wurde der Rechtstransfer mit moderateren Methoden betrieben. 9
Gleichwohl ist eine Standort- und Funktionsbestimmung der DDR-Rechtsanwaltschaft, die lediglich an den Kollegien als kollektiver Anwaltsorganisation festgemacht wird, nicht in der Lage, die Alltagsrealität dieses juristischen Berufsstandes in der DDR mit ihren Gegenläufigkeiten, Widersprüchen und Paradoxien einzufangen. Trotz Anwaltskollektiv kam es auch weiterhin auf den einzelnen Anwalt, auf sein Berufsverständnis, sein juristisches Können und seinen politischen Mut an. 10
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, der gegen eine nur auf den Anwaltskollektivismus der Kollegien gerichtete retrospektive Betrachtung der DDR-Rechtsanwaltschaft spricht: die Existenz und Funktion von Einzelanwälten sowie die Einrichtung des Rechtsanwaltsbüros für internationale Zivilrechtsvertretungen. Beides Institutionen, die neben und unabhängig von den Rechtsanwaltskollegien bestanden. 11
Gewiß, die Zahl der zugelassenen Einzelanwälte sowie die jener Anwälte, die diesem Rechtsanwaltsbüro angehörten, war nicht groß; das rechtspolitische und politische Gewicht ihres Wirkens war aber kaum geringer als jenes aller Kollegiumsanwälte zusammen genommen. Zu kurz gegriffen scheint es deshalb zu sein, wenn "politische Optik" als Grund für die Einrichtung des Rechtsanwaltsbüros für internationale Zivilrechtsvertretungen vermutet wird.10)12
In die Tiefe geht auch nicht die Feststellung, Einzelanwälte seinen deshalb zugelassen worden, um sie nicht dem in den Kollegien geltenden Revisionsreglement unterwerfen zu müssen.11)13
Sicher gab es in den verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR-Rechtsordnung Unterschiede in der rechtspolitischen Bedeutung und funktionellen Reichweite der einzelnen Bereiche der Rechtsanwaltschaft. So praktizierte in den 50er und 60er Jahren eine abnehmende Zahl von Einzelanwälten, die nicht in ein Kollegium eintraten. Das wurde geduldet und respektiert, weil in den meisten Fällen die biologische Lösung absehbar war. Ungefähr seit Ende der 60er Jahre war jedoch eine Art konstitutive Zusammengehörigkeit und funktionelle Komplementarität von Rechtsanwaltskollegien, Einzelanwälten und Rechtsanwaltsbüro für die Rechtsanwaltschaft und ihre Stellung im Rechtssystem der DDR charakteristisch. Es begann die Phase in der Entwicklung der DDR-Anwaltschaft, in der eine bestimmte Anzahl von Rechtsanwälten, die nicht in einem Kollegium Mitglied waren, gewünscht und gewollt wurde. Normativ nachvollzogen wurde dieser Tatbestand in der Honecker-Ära. Mit der Verabschiedung des eingangs erwähnten Rechtsanwaltsgesetzes traten fast zeitgleich Anordnungen über die Aufgaben und die Tätigkeit der Einzelanwälte sowie über das Statut des Rechtsanwaltsbüros für internationale Zivilrechtsvertretungen in Kraft.12)14
Um die Hintergründe aufzuhellen, warum die Rechtsanwaltskollegien, die Einzelanwälte und das Rechtsanwaltsbüro im vorgenannten Sinne zusammengehörten, bedarf es weiterer Archivrecherchen, die sich nicht auf Archive der DDR beschränken können.13) Sowohl das Wirken der DDR-Einzelanwälte wie das des Rechtsanwaltsbüros für internationale Zivilrechtsvertretungen wäre jeweils ein eigenes Thema. Zumal das, was die Normtexte über die Aufgaben der Einzelanwälte bzw. des Rechtsanwaltsbüros hergeben, mehr ver- als entschleiert. 15
Zur Zeit des Inkrafttretens des RAG und seiner Nachfolgeregelungen waren in den 15 Kollegien mit ihren 341 Zweigstellen 523 Rechtsanwälte organisiert, die ein Durchschnittsalter von 47,4 Jahren hatten. Die Zahl der Einzelanwälte betrug 34, die der Rechtsbeistände 18. Dem Rechtsanwaltsbüro für internationale Zivilrechtsvertretungen gehörten neun Anwälte an. Damit war die DDR der europäische Staat des Realsozialismus, der die geringste Anzahl von Rechtsanwälten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hatte. Besonders groß war der Unterschied zur Sowjetunion; dort kam ein Anwalt auf 13.700 Einwohner, in der DDR waren es 30.000 Einwohner.14)16

3.

Vor dem Hintergrund gesamtpolitischer Entwicklungen in der DDR betrachtet, entstand das RAG im Kontext jener rechtspolitischen Veränderungen, die beim Übergang von der Ulbricht- zur Honecker-Ära vor sich gingen. Diese Änderungen waren nicht eingleisig. Einerseits gab es begrüßenswerte Maßnahmen wie die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches und die Abschaffung der Todesstrafe15), andererseits wurde eine nachhaltige Hinwendung zur verstärkten Repressivität und geheimdienstlichen Überwachung vollzogen. Strafrechtlich schlug sich dies in den Strafrechtsänderungsgesetzen, sicherheitspolitisch in veränderten Dienstanweisungen des MfS nieder.16)17
Im Unterschied zur Ulbricht-Zeit waren die rechtspolitischen Kursänderungen unter Honecker nicht von spektakulären ideologischen Kampagnen und Auseinandersetzungen begleitet. Dies machte es zusätzlich schwer, diese Kursänderungen in ihrer vollen Tragweite zu erkennen. 18
Wie rückblickend inzwischen belegt werden kann, gab es einen Politbürobeschluß, der die konzeptionellen Eckpunkte der Rechts- und Justizpolitik setzte, die nach dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker betrieben wurde. Dieser Beschluß wurde am 24. 04. 1973 gefaßt17), sein äußerer Anlaß war die Beratung eines Berichts über die Kriminalitätsentwicklung in der DDR und ihre Bekämpfung in den Jahren 1971/72. Dieser Bericht, vorgelegt von den Abteilungen Staats- und Rechtsfragen sowie Sicherheitsfragen des zentralen SED-Parteiapparates, vom Generalstaatsanwalt und vom Innenminister, konstatierte einen dramatischen Anstieg der Kriminalitätsziffern.18) Wie alarmierend diese Mitteilung gewirkt haben muß, geht daraus hervor, daß das Politbüro bereits acht Wochen vorher aufgrund von Vorabinformationen des ZK-Sekretärs Paul Verner über die besorgniserregende Kriminalitätsentwicklung beschlossen hatte, die Kriminalitätsziffern geheim zu halten und im Statistischen Jahrbuch der DDR von 1973 keine Angaben über die Kriminalität des Jahres 1972 zu veröffentlichen.19) Dabei störte die Mitglieder des Politbüros nicht im geringsten, daß sie wenige Monate zuvor, nämlich zum 23. Jahrestag der Gründung der DDR, eine Amnestie unter Hinweis auf die "günstige Straftatenentwicklung und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung" beschlossen hatten und fünf Tagesordnungspunkte vor der Beschlußfassung über das Veröffentlichungsverbot der Kriminalitätsstatistik einer Vorlage über den - natürlich wieder "erfolgreichen" - Abschluß dieser Amnestie zugestimmt hatten.20)19
Doch zurück zum Bericht über die Kriminalitätsentwicklung der Jahre 1971/72 und den Schlußfolgerungen, die aus ihr gezogen wurden. Als Reaktion auf den Kriminalitätsanstieg forderte der Bericht Verschärfungen des Strafrechts, der Anklage- und Strafpolitik. Gravierend waren dabei die Vorgaben für die geforderte Überarbeitung der Gefährdetenverordnung vom 15. 08. 1968 sowie für die Ergänzung des Strafgesetzbuches. Ferner sollte eine Arbeitsgruppe die Möglichkeiten für die Betreuung solcher Personen prüfen, die "infolge Debilität und Psychopathie sozial und kriminell gefährdet sind". Die Strafprozeßordnung sollte mit dem Ziel überarbeitet werden, das Strafverfahren von überflüssigen Formalitäten, ausweitenden Anforderungen und unnötigem Aufwand zu befreien.21)20
Sodann bestätigte das Politbüro einen Katalog von Änderungen, die die Justizorganisation, die Rechtsprechung sowie die Kompetenzverteilung zwischen Oberstem Gericht und Justizministerium betrafen. Waren diese Änderungsforderungen schon nicht ohne weiteres als Schlußfolgerungen aus dem Kriminalitätsbericht ableitbar, so galt das erst recht für die Aufhebung des Rechtspflegeerlasses des Staatsrates vom 04. 04. 1963, die das Politbüro bei dieser Gelegenheit lapidar und fast beiläufig verfügte. 21
Nun wäre sicher sehr viel Kritisches zum Rechtspflegeerlaß zu sagen, aber eine kausale Verbindung zwischen ihm und der Kriminalitätsexplosion in der DDR in den Jahren 1971/72 herstellen zu wollen, würde schwerlich gelingen. Doch bei der Aufhebung des Rechtspflegeerlasses ging es eigentlich um etwas anderes. Sie war nämlich Teil jener Anstrengungen und Maßnahmen, die Honecker unternahm, um sich von seinem Vorgänger kritisch abzusetzen und damit seine Machtstellung zu konsolidieren und seine Politik zu legitimieren. Hinzu kam, daß damals die Führungsgruppe um Honecker alle Hände voll zu tun hatte, um die Renitenz des politisch kaltgestellten Ehepaares Ulbricht unter Kontrolle zu bringen, dazu mußte Honecker sogar mehrere Politbürobeschlüsse fassen lassen. 22

4.

Die Aufhebung des Rechtspflegeerlasses tangierte die Rechtsgrundlagen der anwaltlichen Tätigkeit in der DDR. Enthielt doch der zweite Teil des Erlasses einen mit der Überschrift "Die Mitwirkung der Rechtsanwaltschaft der DDR im Gerichtsverfahren” versehenen besonderen Abschnitt. Obgleich alle substantiellen Vorschläge, die von Rechtsanwälten in der Diskussion zum Entwurf des Rechtspflegeerlasses gemacht worden waren, auf der Strecke blieben, war in diesem Abschnitt manches konkreter und faßlicher fixiert worden, als dies in der VO über die Bildung der Rechtsanwaltskollegien aus dem Jahre 1953 mit ihren sechs Durchführungsbestimmungen der Fall war. 23
Nicht unerheblich war beispielsweise, daß die Rechtsanwaltschaft "als eine gesellschaftliche Einrichtung der sozialistischen Rechtspflege” im Staatsratserlaß definiert wurde. Gewiß, diese Definition war interpretationsfähig und sagte nichts über die juristische Qualität anwaltlicher Tätigkeit aus, aber sie räumte immerhin der Rechtsanwaltschaft und ihrer Tätigkeit eine gewisse Perspektive und relative Selbständigkeit in der DDR-Rechtsordnung ein. Doch allzu ernst war gerade Letzteres aus der Sicht der Obrigkeit nicht gemeint. Während nämlich für die anderen Bestandteile des Rechtspflegesystems der DDR im Anschluß an den Staatsratserlaß neue gesetzliche Regelungen in den 60er Jahren erlassen wurden, ging die Rechtsanwaltschaft leer aus. Allerdings gab es Vorschläge, auf der Grundlage der Prinzipien des Abschnitts zur Rechtsanwaltschaft des Staatsratserlasses unter der Verantwortung des Justizministeriums eine Rechtsanwaltsordnung zu schaffen. Der Entwurf dazu sollte im IV. Quartal 1963 im Ministerrat beraten werden.22)24
Ulbrichts Rechtspolitik griff in Bezug auf die Rechtsanwaltschaft auf die auch in anderen Bereichen praktizierte Methode des Offenhaltens der rechtlichen Normierung regelungsbedürftiger Verhältnisse zurück. Diese Methode führte zur Verletzung der Pflicht des Staates zur Gesetzgebung, die nicht selten auf das - gewollte - Anlegen rechtsfreier Räume hinauslief.23) Eine Folge, die in dem Maße willkürfreundlich war, wie sie der Rechtssicherheit schadete. 25
Auch in der Honecker-Ära wurde hinsichtlich der Rechtsanwaltschaft zunächst auf die Methode des Offenhaltens der rechtlichen Normierung gesetzt. Weder gab es im oben erwähnten Politbürobeschluß einen Auftrag an die Gesetzgebung, die mit der Aufhebung des Staatsratserlasses weggefallenen Grundsätze und Neuregelungen des Anwaltsrechts zu ersetzen, noch machte die Abteilung Staats- und Rechtsfragen in dieser Richtung Anstrengungen. Die Gründe dafür scheinen politisch-ideologischer Natur gewesen zu sein. Wie aus Unterlagen hervorgeht, hegte der Parteiapparat, namentlich die Abteilung Staats- und Rechtsfragen, trotz gegenteiliger verbaler Versicherungen, gegenüber großen Teilen der Rechtsanwaltschaft trotz ihres Zusammenschlusses in Kollegien Argwohn. Genährt wurde dieser aus verschiedenen Quellen. In Analysen über den Zustand der SED-Grundorganisationen der fünfzehn Rechtsanwaltskollegien wird beispielsweise über ungenügende politische Orientiertheit von Rechtsanwälten verbunden mit einer starken Kritikfreudigkeit an Mängeln in der Arbeit der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Untersuchungsorgane geklagt. Besonders schlimm sei, daß "nicht parteimäßige Positionen” in den SED-Versammlungen unwidersprochen blieben.24) Hinzu kam, daß die Rechtsanwälte mit Beginn der 70er Jahre immer selbstbewußter für die Erweiterung ihrer Position und Funktion eintraten. Dies fiel aus der Sicht des Parteiapparates um so negativer ins Gewicht, da zu den Rechtsanwälten, die sich in dieser Weise engagierten, nicht wenige SED-Mitglieder gehörten. Einige traten sogar als Sprecher hervor.25)26
Auch spielte ein gewisser Sozialneid wegen hoher Einkommen eine gewisse Rolle. Die Nettoeinkommensstruktur der Kollegiumsanwälte ergab Ende der 70er Jahre folgendes Bild: Ein Durchschnittseinkommen von 1.500,- Mark hatten 92 Anwälte, von 3.000,- M hatten 235 Anwälte, von 4.000,- M hatten 88 Anwälte und über 5.000,- M verdienten 24 Anwälte.26)27
Für erhebliche Aufregung sorgte schließlich Mitte der 70er Jahre der Fall des Rechtsanwaltes Götz Berger. Berger, KP-Mitglied seit 1927, Naziverfolgter, Spanienkämpfer und nach seiner Rückkehr aus der Sowjetemigration 1946 für einige Jahre selbst im zentralen Parteiapparat der SED für Justizfragen verantwortlich gewesen, hatte rechtliche Bedenken gegen die Ausbürgerung Biermanns erhoben und wirkte als Verteidiger Havemanns, ohne den Bannfluch zu beachten, den das Politbüro über seinen Mandanten ausgesprochen hatte. Berger wurde daraufhin 1976 aus der DDR-Rechtsanwaltschaft ausgestoßen und mit Berufsverbot belegt. Administrativ zu vollziehen hatte dies der Justizminister; entschieden hatte darüber aber der Parteiapparat, selbst Generalsekretär Honecker war mit dem Vorgang befaßt.27)28
Was nun die Abteilung Staats- und Rechtsfragen dazu bewog, Ende der 70er Jahre die DDR-Rechtsanwälte aus der Grauzone halber, veralteter und fehlender rechtlicher Regelungen zu entlassen und die seit Jahrzehnten überfällige Schaffung von Rechtsgrundlagen für die anwaltliche Tätigkeit auf den Weg zu bringen, läßt sich aus den verfügbaren Akten nicht genau erschließen. 29
Aus einer Hausmitteilung, die der damals für die Abt. Staats- und Rechtsfragen zuständige ZK-Sekretär Paul Verner an Honecker richtete, geht jedoch hervor, daß Gründe der außenpolitischen Imagepflege eine große Rolle spielten.28) Die DDR und ihr Rechtssystem wurde Ende der 70er Jahre wegen der Biermann-Ausbürgerung und der Repressionen gegen jene, die mit dieser Maßnahme nicht einverstanden waren, sowohl in den westlichen Medien wie in internationalen Gremien scharf kritisiert. Im Brennpunkt der Kritik standen die eingeschränkten bzw. die nicht vorhandenen juristischen Möglichkeiten der DDR-Bürger, sich gegen staatliche Entscheidungen zu wehren, erforderlichenfalls auch mit Hilfe eines Anwalts. Mit dem Erlaß eines RAG sollte diesen Attacken auf die DDR entgegengewirkt werden.29) Verner hob deshalb in seinem Schreiben an Honecker hervor, der Erlaß eines RAG entspräche der UN-Konvention über zivile und politische Rechte vom 16. 12. 1966. 30
Zur außenpolitischen Motivierung des Rechtsanwaltsgesetzes trug ferner bei, daß die DDR - nachdem die Sowjetunion 1979 eine gesetzliche Regelung der Anwaltstätigkeit geschaffen hatte - der einzige Staat des Warschauer Paktes war, der eine derartige Regelung nicht hatte.30) Vermutlich war sogar der Erlaß des sowjetischen Anwaltsgesetzes der letzte Anstoß dafür, in den Arbeitsplan des Politbüros für das erste Halbjahr 1980 die Vorlage und Bestätigung des Entwurfs einer RAVO aufzunehmen.31)31

5.

Einige Zeit bevor die Beratung des Entwurfs einer RAVO in den Sitzungsplan des Politbüros aufgenommen wurde, hatte die Abt. Staats- und Rechtsfragen dem Justizministerium grünes Licht für die Ausarbeitung einer Rechtsvorschrift für die Rechtsanwaltschaft gegeben. Mit Datum vom 06. 11. 1979 legte das Ministerium dem Sektor Justiz der Abt. Staats- und Rechtsfragen Entwürfe für eine Verordnung über die Rechtsanwaltskollegien vor. 32
Der Entwurf wurde den Kollegien zur Diskussion und Stellungnahme zugeleitet. Das Echo fiel unerwartet heftig aus. Von ein paar vorgesehenen Regelungen für die Organisation der Kollegien abgesehen, fiel der Entwurf durch. Die Einwände, die aus den Rechtsanwaltskollegien kamen, waren grundsätzlicher und substantieller Natur. Es spricht für die DDR-Rechtsanwaltschaft und ihre Sprecher, daß sie diese Einwände der Obrigkeit ziemlich unverschlüsselt mitteilten. Das geschah in einer Beratung beim Minister der Justiz kurz vor Weihnachten 1979. Der bei dieser Beratung anwesende Vertreter des zentralen Parteiapparates schlug ob der Reichweite der Kritik am Verordnungsentwurf in seiner Abteilung Alarm, woraufhin Abteilungsleiter Sorgenicht vom Staatssekretär - wohlgemerkt nicht vom Minister - die umgehende Zusendung einer Ablichtung der Stellungnahme der Rechtsanwälte zur geplanten neuen rechtlichen Regelung verlangte.32)33
Was beanstandete die Kritik der Anwälte? 34
a) Eine Normierung der Rechtsanwaltstätigkeit sollte von deren Bedeutung für "die Gewährleistung der Rechtssicherheit, der Freiheit und Menschenwürde der Bürger” ausgehen. Es wurde bemängelt, das im Entwurf an verschiedenen Stellen nur von Interessen der Bürger, nicht aber von deren Rechten gesprochen wurde. 35
b) Die im Entwurf vorgesehene Einschränkung der Möglichkeiten der Bürger, sich anwaltlicher Hilfe zu bedienen, wurde zurückgewiesen. Es sei politisch falsch, hieß es, "auf dem Gebiet der Rechte der Bürger eine Schlechterstellung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand vorzunehmen”. 36
c) Indirekt wurde die defizitäre Rechtssicherheit für die DDR-Bürger infolge der fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit angesprochen. Mit guten Argumenten wehrten sich die Anwälte gegen Bestrebungen, Bürger nicht vor Verwaltungsorganen vertreten zu können. Sie führten aus, daß eine erhöhte Gesetzlichkeit im Verwaltungsverfahren "im gesamtgesellschaftlichen Interesse” liege und dazu gehöre "die fachkundige Auseinandersetzung mit den Rechtsgrundlagen, die die Bürger betreffen”. Das offiziell vorgebrachte Argument, der unmittelbare Kontakt zwischen Bürger und Verwaltung würde durch die Einschaltung eines Anwalts behindert, konterten sie mit dem Hinweis, eine solche Behinderung wäre ja auch durch das Auftreten eines Anwalts im Gerichtsverfahren nicht gegeben. 37
d) Die Kollegiumsanwälte verwahrten sich dagegen, die Kollegien als Genossenschaften anzusehen. Schon gar nicht sei das Kollegium ein Betrieb, der durch seine Mitglieder Anwaltstätigkeit ausübe. Nicht möglich sei es deshalb, wie im Entwurf vorgesehen, die anwaltlichen Aufgaben und Pflichten allein aus dem Mitgliedschaftsverhältnis abzuleiten. Weiter hieß es: "Der Rechtsanwalt verliert durch die Mitgliedschaft im Kollegium nicht die Eigenverantwortlichkeit der Berufsausübung”. Als Schlußfolgerung daraus wurde eine klare Unterscheidung von Aufgaben des Kollegiums und Aufgaben der Mitglieder verlangt. 38
e) Dieser nicht ungeschickte Vorstoß, die Rolle des einzelnen Anwalts trotz Kollegiumsmitgliedschaft zu stärken, wurde flankiert von Vorschlägen, den Kollegien größere Unabhängigkeit zu verschaffen. Deshalb wurde die Entwurfsabsicht zurückgewiesen, dem Justizminister Weisungsbefugnisse gegenüber den Kollegien einzuräumen. "Die sozialistische Rechtsanwaltschaft und die Rechtsanwaltskollegien als gesellschaftliche Einrichtung können nicht Weisungen eines staatlichen Organs unterliegen.” 39
f) Schließlich forderten die Anwälte, ihre Angelegenheiten nicht in einer VO, sondern in einem Gesetz zu regeln. Angesichts der Ambivalenz der hierarchischen Beziehungen im Rechtsquellensystem der DDR und angesichts der Kriterienwillkür bei der Wahl zwischen Gesetz oder Verordnung im Gesetzgebungsverfahren, war dies ein Vorschlag ohne rechtsinhaltliches Gewicht.33) Allerdings war er gut für die Rechtsoptik der DDR, vor allem nach außen. Zudem kostete seine Verwirklichung weder rechtsideologisch noch -politisch etwas. Er wurde deshalb von der Abt. Staats- und Rechtsfragen nicht nur aufgegriffen, sondern als ihr eigener ausgegeben. Als das Politbüro am 15. 07. 1980 die vorgesehene rechtliche Regelung zur Rechtsanwaltschaft beriet, lag ihm noch der Entwurf als Verordnung vor. In der Beschlußvorlage dazu sowie in einem Schriftwechsel mit Generalsekretär Honecker erklärte die Abt. Staats- und Rechtsfragen und Paul Verner, sie seien aus wichtigen Gründen dafür, nicht eine Rechtsanwaltsverordnung, sondern ein Rechtsanwaltsgesetz zu erlassen. So steht es denn auch als Beschluß im entsprechenden Reinschriftprotokoll des Politbüros.34)40

6.

Die Kritik der Kollegiumsanwälte führte dazu, daß das Justizministerium einen neuen Entwurf vorlegen mußte. Dieser war am 12. 02. 1980 fertiggestellt und wurde unverzüglich der Abt. Staats- und Rechtsfragen vorgelegt. Aus den Archivunterlagen ist nicht ersichtlich, welche Richtlinien dem Justizministerium von der Abt. Staats- und Rechtsfragen zur Ausarbeitung des zweiten Entwurfes erteilt wurden. Jedoch kam dieser Entwurf der Anwaltskritik in einigen inhaltlichen Punkten entgegen. 41
So wurde dem Justizminister gegenüber den Kollegien keine Weisungsbefugnis mehr eingeräumt. Der Entwurf sah nur eine ministerielle Anleitung in Form von "Empfehlungen und Hinweisen" vor, die darüber hinaus zur Beratung und Entscheidung in den Vorständen oder Mitgliederversammlungen zur Debatte gestellt werden sollten. Dem Minister blieb indes die Möglichkeit, Beschlüsse von Kollegiumsorganen, die gegen die Verfassung, gegen Gesetze oder sonstige Rechtsvorschriften verstießen, aufzuheben. 42
Abgeschwächt wurden im 2. Entwurf die Versuche, die anwaltliche Tätigkeit einzuschränken. So sah der Aufgabenkatalog nicht mehr nur die anwaltliche Beratung und Vertretung der Bürger vor, sondern auch die "anderer Auftraggeber". Zudem wurden zwei Aufgabenbereiche neu aufgenommen: die Vertretung der Bürger und anderer Auftraggeber in Verfahren vor den Staatlichen Notariaten sowie die kostenlose mündliche Rechtsauskunftserteilung an Bürger. 43
Nicht unwichtig war ferner, daß den Forderungen der Rechtsanwälte nachgegeben wurde, keinen Raum für Versuche zu lassen, die Kollegien als Genossenschaften betrachten zu können. In der Präambel des 2. Verordnungsentwurfs wurden die Kollegien als "sozialistische gesellschaftliche Organisation" definiert. Ein Vorstoß, der darauf zielte, die offene Frage nach der Rechtsnatur der Anwaltskollegien einer Beantwortung näher zu bringen. Der Entwurf griff damit ein Anliegen des Rechtspflegeerlasses des Staatsrates auf, der die Anwaltskollegien als "gesellschaftliche Einrichtungen der sozialistischen Rechtspflege" bestimmte (sechster Abschnitt, Ziffer 1). 44
Hintergrund für die Forderung der Anwälte, ihre Kollegien als gesellschaftliche Organisationen rechtsverbindlich definiert zu sehen, war der Wunsch nach größerer Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, besonders gegenüber dem Justizministerium.35) Auch dürfte eine Rolle gespielt haben, den Anwaltskollegien bestimmte rechtliche Privilegierungen zugute kommen zu lassen, die andere gesellschaftlichen Organisationen in der DDR-Rechtsordnung besaßen.36)45
Wäre das Anwaltsrecht der DDR nach diesem Entwurf gestaltet worden, wäre dies nicht nur für die Mehrzahl der Anwälte, sondern auch für die DDR-Rechtsordnung von Vorteil gewesen. Aber dies geschah nicht. 46
Der Entwurf stieß in der Abt. Staats- und Rechtsfragen auf Bedenken. Ihr ging das Entgegenkommen verschiedener Formulierungen gegenüber den Anwaltsforderungen zu weit. Die Ausarbeitung eines dritten Entwurfs wurde daher in Auftrag gegeben. Dieser Entwurf lag am 04. 07. 1980 vor. Er war rechtssprachlich präziser gefaßt und strukturell übersichtlicher, nahm aber das meiste von dem wieder zurück, was aufgrund der anwaltlichen Kritik am 1. Entwurf in den 2. Entwurf Eingang gefunden hatte. Damit wurde jene gesetzgeberische Verfahrenstaktik wiederholt, die schon 1962/63 benutzt wurde, um die Forderungen zu kanalisieren, die Rechtsanwälte bzw. Rechtsanwaltskollegien in der Diskussion des Rechtspflegeerlaßentwurfs des Staatsrates erhoben hatten.37)47
Die im 1. Verordnungsentwurf geplante Weisungsbefugnis des Justizministers wurde allerdings nicht wieder reaktiviert. Die im gegenteiligen Fall vorausgesagte Diskussion und Unruhe unter den Anwälten glaubte man sich politisch nicht leisten zu können. 48
In der ausführlichen Begründung, die der Leiter der Abt. Staats- und Rechtsfragen zur Vorbereitung der Beschlußfassung über den Entwurf seinem Dienstvorgesetzten, dem ZK-Sekretär Paul Verner, schickte, hieß es, die Aufgaben und Befugnisse des Ministers der Justiz seinen präzisiert und als Beratungsorgan des Ministers solle der Rat der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte geschaffen werden. Zudem seien die Befugnisse der Kollegiumsvorsitzenden erweitert worden. 49
Sodann machte Sorgenicht, gewissermaßen in letzter Minute, noch einen Vorschlag, der zur Kompensierung des weggefallenen Weisungsrechts des Justizministers beitragen sollte. Er schrieb nämlich an Verner, die im Musterstatut enthaltene Bestimmung über die geheime Wahl des Vorstandes und der Revisionskommission sollte gestrichen werden; dann: "Es genügt zu sagen, daß die Mitgliederversammlung diese Organe wählt".38)50

7.

Als das DDR-Rechtsanwaltsgesetz am 01. 03. 1981 in Kraft trat, schuf es für einen juristischen Berufsstand und dessen Tätigkeit zwar mehr Rechtsklarheit, indessen änderte es nichts Grundsätzliches an der Stellung und Funktion der Rechtsanwälte, wie sie in der Praxis bereits bekannt war. Eine Aufwertung des Rechtsanwaltsberufs war mit diesem Gesetz nicht verbunden. Auch wurde die Zulassungspraxis weiterhin restriktiv gehandhabt. Zahlreiche Eingaben, die Juristen wegen der Ablehnung ihres Antrags auf Zulassung als Rechtsanwalt an die Abt. Staats- und Rechtsfragen in den 80er Jahren richteten, belegen das. Die Argumente, mit denen diese Eingaben in der Regel zurückgewiesen wurden, deuten auf wachsendes politisches Mißtrauen des SED-Parteiapparates gegenüber der Mehrzahl der Rechtsanwälte hin. Der Kreis der Rechtsanwälte, der politisch und ideologisch in der Sicht des Parteiapparates vertrauenswürdig war und gegenüber dem es keine sicherheitspolitischen Bedenken gab, war sehr klein. 51
Ein interessantes Indiz dafür ist eine Liste mit den Namen der Rechtsanwälte und Notare, die den Mitgliedern der Parteiführung und "anderen leitenden Genossen" zur Regelung persönlicher Angelegenheiten empfohlen wurden. Es sind dies insgesamt neun Namen. Erstaunlicherweise praktizierte davon die Hälfte nicht in Rechtsanwaltskollegien oder Staatlichen Notariaten, sondern als Einzelanwalt oder -notar.39)52
Wenn in der bereits erwähnten apparatinternen Begründung des Entwurfs der Anwaltsverordnung40) der klar formulierte "politische Grundauftrag des Rechtsanwaltes" sowie der "gewachsene Parteieinfluß" in den Kollegien herausgestellt wurden, so sah die Realität etwas anders aus. Eine eklatante Fehleinschätzung war es jedenfalls, wenn die Abt. Staats- und Rechtsfragen meinte, die neuen rechtlichen Regelungen würden die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit nunmehr "bewährter und politisch stabiler Kollegien mit neuen Zielsetzungen" bilden.41)53
Wie prekär die Situation unter Teilen der Rechtsanwaltschaft wirklich zu der Zeit war, als das RAG und seine flankierenden Regelungen in Kraft traten, zeigten die politischen Erschütterungen im Rechtsanwaltsbüro für internationale Zivilrechtsvertretungen. In jener Zeit wurden gegen den Vorsitzenden des Rechtsanwaltsbüros Vorwürfe der Parteifeindlichkeit und des Revisionismus erhoben. Der so Beschuldigte, dem auch Äußerungen faschistischer und rassistischer Ideologie unterstellt wurden, verlor seinen Posten und wurde gemaßregelt.42)54

Last but not least war er schließlich ein Rechtsanwalt eines Kollegiums, der in den 80er Jahren die Kraft und den Mut hatte, das politisch-rechtliche System der DDR und einige seiner ideologischen Prämissen kritisch zu beleuchten und das Ergebnis seiner Analyse auf den Begriff zu bringen: Rolf Henrich.43) Seine These von der DDR als einem vormundschaftlichen Staat machte in der sogenannten Wendezeit Furore, dann wurde sie schnell vergessen. Aber war Henrichs These eigentlich so verkehrt, daß sie dieses Schicksal verdient? 55

Fußnoten:

1 Uwel Wesel, Felder einer Ausstellung - Über die DDR-Justiz in einer Retrospektive des Bundesjustizministeriums, in: Wochenpost vom 30. 06. 1996.

2 Eine dieser Ausnahmen war die von Joachim Göhring angestoßene Diskussion über die juristische Natur der anwaltlichen Tätigkeit und über den Anwaltsvertrag. Göhring polemisierte gegen die Position, die eine Anwendung der ZGB-Regelungen über persönliche Dienstleistungen unter Hinweis auf die These, die Anwaltstätigkeit sei eine Form der Rechtspflege, ablehnte. Er plädierte demgegenüber für eine Subsumtion des Anwaltsvertrages unter die §§ 197 ff. ZGB-DDR und entwickelte eine schlüssige Argumentation, um rechtsideologische Bedenken gegen eine ZGB-Anwendung zurückweisen zu können. Speziell setzte er sich dabei mit der Meinung auseinander, eine Anwendung dieser zivilrechtlichen Normen auf den Anwaltsvertrag würde die anwaltliche Tätigkeit, namentlich das Institut der Verteidigung, privatisieren und den Anwalt allzusehr auf die Interessen der Mandanten orientieren. Siehe: Joachim Göhring, Die Tätigkeit des Rechtsanwalts als persönliche Dienstleistung, NJ 1978, 38 und die dort angegebene Literatur. Göhrings Position erhielt Flankenschutz aus dem Justizministerium sowie von Rechtsanwälten; siehe: Gerhard Baatz, Rechtliche Charakterisierung anwaltlicher Tätigkeit, NJ 1980, 38 sowie Klaus Horn, ebd. S. 39 f. Herrn Prof. Dr. Göhring, der heute als Rechtsanwalt wirkt und kürzlich seinen 65. Geburtstag beging, ist dieser Aufsatz zugeeignet.

3 Jutta Burmeister, Gerhard Eberhardt, Gregor Gysi (Leiter des Autorenkollektivs), Horst Pryssok, Handbuch für Rechtsanwälte, Berlin 1990. Die Arbeiten am Manuskript wurden jedoch schon in der "alten" DDR aufgenommen.

4 MBl. Nr. 10, S. 43.

5 GBl., S. 725.

6 Aufgaben und Arbeitsweise der Kollegien der Rechtsanwälte, Textausgabe, herausgegeben vom Ministerium der Justiz, Berlin 1982.

7 Diese Archivrecherchen hat der Verfasser als Teilnehmer des Doktorandenseminars von Herrn Prof. Dr. Rainer Schröder, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, durchgeführt. Das Dissertationsthema des Verfassers ist jedoch nicht dem Anwalts-, sondern dem Grundeigentumsrecht der DDR gewidmet.

8 Vgl. etwa: Thomas Lorenz, Die Kollektivierung der Rechtsanwaltschaft als Methode der systematischen Abschaffung der freien Advokatur, in: Hubert Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, Köln 1994, S. 409 ff.; Christian Gerlach, Die Rechtsanwaltschaft, in: Im Namen des Volkes, Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesjustizministeriums, Leipzig 1994, S. 141 ff. Der Begriff "Kollektivierung der Rechtsanwaltschaft" wurde aber von der westlichen Ostrechtsforschung schon lange vor 1989 benutzt.

9 Zu diesen Anwälten gehörte auch Rolf Helm. Er war in den fünfziger Jahren der Leiter der für die Rechtsanwälte zuständigen Abteilung im Justizministerium (vgl. seine Schrift: Anwalt des Volkes, Berlin 1978 sowie den Nachlaß Rolf Helm im Zentralen Parteiarchiv) Die amtlich ideologisierte Sicht über die Entstehung des Anwaltskollegien hat Helm in einem Aufsatz beschrieben: Die Bildung von Rechtsanwaltskollegien, NJ 1953, 317. Zum tatsächlichen Ablauf der Kollegienbildung siehe Th. Lorenz, a.a.O., S. 414 ff.

10 Christian Gerlach, a.a.O., S. 143.

11 So Th. Lorenz, a.a.O., S. 426 f. unter Berufung auf ein Nachwende-Gespräch mit dem ehemals für die Rechtsanwaltschaft zuständigen Abteilungsleiter im Justizministerium der DDR.

12 vgl. GBl, 1981, S. 10 ff., 7 ff.

13 Anhaltspunkte für diese These findet der Leser in: Jens Schmidthammer, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West, Hamburg 1987.

14 Information über die Rechtsanwaltschaft der DDR (Stand: 01. 01. 1980), in: SAPMO-BArch Dy 30 / 30456.

15 Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 09. 03. 1972 (GBl. S. 89) war die erste Novellierung des kurze Zeit zuvor erlassenen StGB. Die Todesstrafe wurde im Vorfeld des Honecker-Besuches in Bonn abgeschafft (GBl. I, 1987, S. 192), die entsprechende Änderung des StGB erfolgte mit dem 4. StÄG vom 18. 12. 1987 (GBl. I, S. 301).

16 Besonders das 2. StÄG vom 07. 04. 1977 (GBl. I, S. 100) und das 3. StÄG vom 28. 06. 1979 (GBl. I, S 139) sind hier zu nennen. Zur MfS-Problematik jetzt die Analyse und Dokumentenedition von Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996, insbesondere S. 45 ff.

17 Der Politbürobeschluß sowie seine vorbereitenden Unterlagen befindet sich in den Arbeitsprotokollen des Politbüros; SAPMO-BArch J IV / 2 / 2 A 1677.

18 Die festgestellten Straftaten waren von 1968 bis 1972 um 37 % angestiegen. Ein Kriminalitätssprung war vom Jahr 1970 mit 109.101 Straftaten zum Jahr 1971 mit 129.534 Straftaten zu verzeichnen. Publizistisches Echo dieses Politbürobeschlusses war der Artikel von Josef Streit, Zu einigen theoretischen und praktischen Fragen des Kampfes gegen die Kriminalität, NJ 1973, 12. Der Generalstaatsanwalt rief darin dazu auf, die Instrumente des Strafrechts vollständig einzusetzen, gleichzeitig täuschte er die Öffentlichkeit über die wirkliche Sachlage. Kein Wort verlor er über die gestiegene Kriminalität in der DDR, umso mehr lamentierte er über den Kriminalitätszuwachs in der BRD. - In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß das Politbüro bei der Verabschiedung des in Rede stehenden Beschlusses auch festlegte, wer ihn erhalten durfte. Das waren, neben den an der Ausarbeitung beteiligten Personen, der Ministerratsvorsitzende Stoph, die 1. Bezirks- und Kreissekretäre der SED, nicht aber der Justizminister und der Präsident des Obersten Gerichts.

19 Arbeitsprotokoll der Politbürositzung vom 20. 02. 1973, SAPMO-BArch J IV 2 / 2 A 1662. Erst seit 1978 wurden im Statistischen Jahrbuch der DDR wieder Angaben zur Kriminalitätsentwicklung gemacht. Dabei wurden auch die Angaben für die Jahre 1975-1977 nachgeliefert. Die Kriminalitätsexplosion zu Beginn der Amtszeit Honeckers wurde aber weiter verschleiert gehalten; für die Jahre 1970-1974 wurden nur Durchschnittswerte veröffentlicht. - Wie Vertreter der altbundesrepublikanischen DDR-Rechtsforschung darauf reagierten, siehe: A. Freiburg, Hanebüchene Sozialakrobatik. Zur Kriminalitätsstatistik der "DDR", Deutschland-Archiv 1979, 68, F.-Chr. Schröder, Die Entwicklung der Kriminalität in der DDR 1979, Deutschland-Archiv 1981, 845.

20 Mit Stichtag 01. 11. 1972 waren 92.181 Personen amnestiert worden: 25.351 Entlassungen aus dem Strafvollzug und 6.344 aus der Untersuchungshaft, gegen 12.355 Personen wurde das Verfahren eingestellt. Ferner fielen 48.131 Personen mit Strafen ohne Freiheitsentzug unter die Amnestie. 5.213 Strafgefangene wurden nicht amnestiert (Quelle wie Fn 17).

21 Zu welchen widersprüchlichen und teilweise problematischen Konsequenzen diese Forderung bei der Neufassung der StPO 1975 führte, siehe Horst Luther, Strafprozeßrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hg.) Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 381 ff.

22 Beschluß über Maßnahmen zur Durchführung des Erlasses über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege (SAPMO-BArch Dy IV2 / 13 / 102).

23 Die Methoden, die in der DDR zur Verletzung der Gesetzgebungspflicht angewandt wurden, waren systemspezifisch geprägt; gleichwohl sind sie nicht nur ein Phänomen realsozialistischer Rechtssysteme. Siehe hierzu: Hermann Klenner, Von der Pflicht zur Gesetzgebung im Rechtsstaat, Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1992, 275.

24 Vgl. hierzu die Berichte in SAPMO-BArch vorl. SED 19419 und 19420.

25 Von den 523 Rechtsanwälten, die per 01. 01. 1980 Mitglieder in Kollegien waren, gehörten 309 der SED, 34 der NDPD, 33 der LDPD und 18 der CDU an. 129 RAe waren parteilos. Siehe: Informationen über die Rechtanwaltschaft, a.a.O. Fn. 14.

26 SAPMO-BArch vorl. SED 304556.

27 SAPMO-BArch vorl. SED 42599 und 42588 sowie die Akteneinheit IV 2 / 1 / 530. Die Meinungen über die Abberufung Bergers als Rechtsanwalt waren im Berliner Rechtsanwaltskollegium geteilt. Nichtsdestoweniger bekundete das Kollegium in einer Entschließung vom 03. 12. 1976 seine Ergebenheit und Treue gegenüber Partei und Staat, namentlich gegenüber Generalsekretär Honecker. Berger hatte eine analoge politische Entwicklung wie Havemann genommen: vom Stalinismus zum Antistalinismus. Die dazu im Parteiarchiv vorhandenen Unterlagen bedürfen noch der Aufarbeitung, dabei geht es auch um eine kritische Analyse der stalinistischen Entwicklungsphase Bergers.

28 SAPMO-BArch Dy 30456.

29 Hierzu heißt es in einem Papier, das der Leiter der Abt. Staats- und Rechtsfragen an Verner richtete, das RAG würde in internationaler Sicht Möglichkeiten eröffnen, "eine politisch positive Wertung erhalten zu können.... Zum anderen schaffen wir damit auch weitere günstige Positionen in der Auseinandersetzung über die Verwirklichung der Rechte der Bürger in der sozialistischen Gesellschaft.” Büro Paul Verner Dy 30 / IV / 2 / 2.036 / 57.

30 Ebd.

31 Für diese Vermutung spricht, daß nach der Veröffentlichung des sowjetischen RAG in der Prawda vom 03. 12. 1979 eine Arbeitsübersetzung angefertigt wurde und daß zu dieser Zeit die Planvorschläge der einzelnen ZK-Abteilungen zum 1. Halbjahresplan 1980 zusammengestellt wurden, den das Politbüro bestätigte. Näheres hierzu: SAPMO BArch 30 / 30456.

32 Staatssekretär Kern kam diesem Verlangen am 15. 01. 1980 nach (SAPMO-BArch vorl. SED 30456). Die folgenden Darlegungen basieren auf dem von Kern der Abt. Staats- und Rechtsfragen zugesandten Papier.

33 AA Thomas Lorenz, a.a.O.

34 SAPMO-BArch Dy 30 / J IV 2 / 2-2338.

35 Hier die einschlägige Argumentation aus dem oben erwähnten, vom Staatssekretär Kern an den ZK-Apparat geschickten Papier: "Die sozialistische Rechtsanwaltschaft und die Rechtsanwaltskollegien als gesellschaftliche sozialistische Einrichtung können nicht Weisungen eines staatlichen Organs unterliegen. Das widerspricht dem Charakter der Rechtsanwaltschaft und dem Charakter der gesellschaftlichen Organisation. Die Richtlinien (des Justizministers - M. M.) für die Organe der Kollegien würden die Mitgliederversammlungen und Vorstände in ihrer Tätigkeit behindern. Damit werden Entscheidungen vorgegeben, die von den gewählten Organen der Rechtsanwaltschaft getroffen werden sollten. Abgesehen davon, daß eine Richtlinienbefugnis des Justizministers gegenüber der Anwaltsorganisation erheblich Diskussionen schaffen würde, besteht hierfür weder eine politische noch eine praktische Notwendigkeit." SAPMO-BArch vorl. SED 19420 (im Original ist diese Passage mit zwei dicken Fragezeichen versehen!).

36 Hierzu: Autorenkollektiv, Die gesellschaftlichen Organisationen in der DDR, Berlin 1980.

37 Damals wurden allerdings Forderungen, die unter dem Diskussionsdruck in den Endentwurf des Rechtspflegeerlasses aufgenommen worden waren, durch Politbürobeschluß verworfen. Das Politbüro wies an, "den ursprünglichen Text" des Erlaßentwurfes über die Aufgaben der Rechtsanwaltschaft wiederherzustellen und beauftragte Karl Polak, die Kommission, die den Rechtspflegeerlaß ausgearbeitet hatte, noch einmal eizuberufen, um die Änderung zu begründen (SAPMO-BArch J IV 2 / 2A / 953). Thomas Lorenz, a.a.O., S. 423 ff., erwähnt diesen Politbürobeschluß nicht; insofern ist seine Beschreibung der Entstehungsgeschichte der Passage des Rechtspflegeerlasses des Staatsrates nicht ganz exakt.

38 SED-Hausmitteilung von Abt. Staats- und Rechtsfragen an Genossen Paul Verner vom 12. 06. 1980 mit 2 Anlagen (SAPMO-BArch Dy 30 / IV 2 / 2.036 / 57).

39 SAPMO-BArch, entfällt aus Gründen der Anonymisierung und des Datenschutzes.

40 Siehe Fn. 38.

41 Ebd.

42 Der gesamte Vorgang befindet sich in Akteneinheiten SAPMO-BArch vorl. SED 42493.

43 Siehe seine Schrift: Der vormundschaftliche Staat, Hamburg 1989.

Aufsatz vom 1. September 1997
© 1997 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
1. September 1997