11842 stellt der Göttinger „Stadt-Syndicus“ Ferdinand Oesterley1 in seiner „Geschichte des Notariats“ einleitend fest, man lebe in „einer Zeit, wo dieses Rechts-Institut bald in das Gebiet der Antiquitäten verwiesen werden zu müssen scheint.“2. Diese berühmten Worte stellt auch Scharnhop seinem Buch voran3. Das ist berechtigt, denn seit jeher prägt der rätselhafte Satz die Geschichte der Notariatsgeschichte. Nur wenige Jahre später erweist er sich als falsch. Deutschlandweit sehen wir erhebliche legislatorische Aktivität auf dem Gebiet des Notarwesens. Zu nennen wären Württemberg (Notariatsgesetz vom 14.06.1843), Preußen (Gesetz vom 11.07.1845), Braunschweig (Notariatsordnung vom 19.03.1850), Hamburg (Notariatsordnung vom 18.12.1850), Hannover (Notariatsordnung vom 18.09.1853), Sachsen (Notariatsordnung vom 03.06.1859) und Bayern (Notariatsgesetz vom 10.11.1861). Lübeck bildete mit seiner Notariatsordnung vom 10.10.1838 den Vorreiter4.
2Aber stimmt Oesterleys Feststellung von 1842 überhaupt? Auch für das deutsche Notariat gilt Thomas Nipperdeys berühmter Satz: „Am Anfang war Napoleon“5. Eine Generation früher wird das Ventôse-Gesetzes in großen Teilen Deutschlands eingeführt bzw. beibehalten, so etwa mit Dauerwirkung in der bayerischen Pfalz, den Rheinlanden, Hamburg (Notariats-Ordnung vom 18.12.1815)6 und Hessen7, temporär im Königreich Westphalen, Oldenburg und Friesland8 und auch, wie Scharnhop herausarbeitet, in Hannover (S. 36-47, 114). Württemberg9 und Baden10 (Notariatsordnung von 1806) gehen auch nach dem Ende der Napoleonischen Kriege ihren Sonderweg.
3Die Frage, warum um 1850 das Notariat einen plötzlichen Aufschwung nimmt (falls diese These überhaupt zutrifft11), gehört für mich zu den vielen Geheimnissen dieses rätselhaften 19. Jahrhunderts. Ich habe bislang vermutet, dass die großen Infrastrukturaufgaben dieser Zeit (Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Straßen- und Eisenbahnbau) die mit dem Notariat konkurrierende gerichtliche Beurkundungszuständigkeit an ihre ressourcenbedingten Grenzen führte. Scharnhop zeigt, dass hier zumindest auch ein anderes Aspekt ein große, wenn nicht gar die entscheidende Rolle spielt: Mit der Bauernbefreiung und dem wachsenden Wohlstand der Bauern im 19. Jahrhundert bekommt das Notariat eine neue Klientel12. Das ist ein sehr wichtiges Ergebnis. Denn heute neigt man dazu, diesen Faktor zu übersehen, angesichts der geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Landwirtschaft und der Tatsache, dass sich die Agrarlobby den Notar als Berater durch den Ende der 80er Jahre ertrotzten § 19 Abs. 4 KostO vergrault hat.
4Doch wie baut Scharnhop seine Untersuchung auf? In einem ersten Teil stellt er das in Lüneburg geltende notarielle Berufsrecht und seine Veränderungen in den politischen Kontext der Geschichte des entsprechenden Territoriums13. Sodann „zoomt“ er in einem zweiten Teil die Einzelfrage nach dem Zugang zum Notarberuf und die Amtspflichten des Notars aus diesem Komplex heraus14. In einem dritten Teil stellt er einzelne Urkunden lüneburgischer Notare nach Form und Inhalt vor15. In einem vierten Teil16, ergänzt durch einen umfangreichen und sehr erhellenden biografischen Anhang17, schreibt Scharnhop eine Sozialgeschichte der lüneburgischen Notare des 19. Jahrhunderts. Geboten wird deren Soziologie nach Herkunft, Studium und außernotariellen Interessen, insbesondere auch ihrem politischen Engagement.
5Was die Quellenlage betrifft, begibt sich Scharnhop in beeindruckendem Maße auf Neuland. Bislang unerforscht gebliebene Archivalien werden – soweit ersichtlich erstmals – ausgewertet. Dies gilt in besonderem Maße für Urkundsbestände. Leider ist gerade die Gesetzgebungsgeschichte der hannoverschen Notariatsordnung von 1853 nicht vollständig durch die Zeitläufte auf uns gekommen. Schon an dieser Stelle kann man der Arbeit Scharnhops (und der dahinter stehenden enormen Leistung) Respekt zollen. Das gilt gerade für ihren ersten und ihren vierten Teil, dank des zwischen Allgemeinem und Besonderem wechselnden Blicks.
6Drei kritische Anmerkungen seien dem Rezensenten gestattet. Scharnhop sieht im 19. Jahrhundert eine „Entwicklung der notariellen Tätigkeit“ im „Wandel“ des Notars von einer „rechtsberatenden zu einer rechtsgestaltenden Institution“18. Als Argument führt er zum einen die Aufgabenerweiterung in der französischen Zeit an, zum anderen den „Umfang der vor dem Notar abgeschlossenen Rechtsgeschäfte“. Ich lasse hier einmal meine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Annahme von „Wandel“ oder gar „Entwicklung“ in der Geschichte beiseite – das sind problematische Neuhegelianismen. Bei dem postulierten „Wandel“ scheint mir jedenfalls zum einen unklar, worin er genau besteht. Worin liegt der Unterschied zwischen Rechtsberatung und Rechtsgestaltung? Gestaltet der Notar nicht etwa durch Beratung? Zum anderen belegt Scharnhop dies nur mit der französischen Zeit, verallgemeinert also eine nur wenige Jahre messende Zeitspanne, so wichtig sie auch gewesen sein mag. Die bessere Fragestellung scheint mir zu sein, ob es eine „Entwicklung“ vom rechtsbezeugenden zum rechtsgestaltenden Beruf gegeben haben könnte (was ich bezweifle: die früheren Kollegen waren auch keine reinen Stempelbeamten). Indikator für eine solche „Entwicklung“ könnte die Dogmengeschichte der notariellen Belehrungspflicht sein. Doch auch hier beschränkt sich die Darstellung Scharnhops auf die französische Zeit19. Damit steht diese These der Arbeit auf nicht gerade sicherer Grundlage. Gleiches gilt für den weiteren Lackmustest mittels des Indikators der Notarhaftung20. Die Rückwirkungen des Funktionswandels der notariellen Form auf den Notarberuf, ein weiterer, von Scharnhop nicht herangezogener Indikator, dürften zeitlich deutlich später anzusiedeln sein21. Das ändert allerdings nichts daran, dass die französischen Epoche in ihrer Modernität ebenso beispiellos wie ihre ideelle Wirkungsgeschichte unerforscht ist. Ebenso wie bei Osterleys Feststellung könnte mithin auch hier ein Wahrnehmungsproblem der heutigen Zeit bestehen.
7Im dritten Teil kapituliert Scharnhop leider vor der Aufgabe, Kautarjurisprudenz in den Kontext des um sie herum geltenden Rechts zu stellen: „Die Rechtsgrundlage, auf die der Notar dabei zurückgreift, bleibt größtenteils im Dunkeln ... Daher ist die Ermittlung des angewandten Rechts fast immer unmöglich.“ Auch heute werden in Urkunden kaum je Paragrafen zitiert. Dennoch muss jede Urkunde vor einem Hintergrund eines geltenden Rechts mit zwingenden und dispositiven Bestimmungen gesehen werden. Dieser aber lässt sich aus den Gesetzen sowie der Fachliteratur, insbesondere auch der zeitgenössischen Formulare, erschließen. Auch die Frage des Verhältnisses nebeneinander geltender Rechtsordnungen ist von den damaligen Juristen natürlich gesehen worden. Schade – denn hier wird eine Chance vertan. Allerdings wäre dies ein eigenes Buch geworden und hätte den Rahmen einer Dissertation gesprengt.
8Meine Kritik darf ich an folgendem Beispiel festmachen: Unter Nr. 18 stellt Scharnhop eine Urkunde zur Besitzergreifung des Guts Dahlenburg von 1811 durch dessen Erben dar22. Die Geltung römischen Rechts in diesem Fall wird von ihm ohne nähere Begründung unterstellt und der Fall als aditio hereditatis eingeordnet23. Als Beleg für das römische Antrittsprinzip zitiert Scharnhop aus dem 1829 erschienenen Lehrbuch des Pandektenrechts von Carl Julius Meno Valett (1787-1845), des Göttinger Fakultätskollegen von Gustav Hugo24. Um eine Praktikerperspektive des Jahres 181125 zu gewinnen, hätte es nahe gelegen, außer bei Hugo etwa in der Literatur des späten Usus Modernus nachzusehen, z.B. bei Glück, Böhmer oder vielleicht schon beim shooting starThibaut. Aufgrund des im März 1811 in Dahlenburg geltenden Rechts wäre zeitgenössische französische Literatur – insbesondere französische Formularsammlungen – ohnedies naheliegender gewesen, am besten im Vergleich mit entsprechender deutscher Literatur. Was mag davon den Weg in die Bibliothek eines lüneburgischen Notars gefunden haben26? Wie relevant mag der Code Napoléon angesichts eines im Notariat des Alten Reichs verhafteten Formularschranks wohl gewesen sein? Es mag dennoch Gründe dafür geben, als Belegstelle für die Rechtslage von 1811 ein 1829 erschienenes Buch zu wählen. Diese Gründe hätten mich interessiert. Hier wurde die Chance vertan, die Effektivität napoleonischer Gesetzgebung zu testen.
9Kurz gesagt: es geht im dritten Teil um den Kontext, und der kommt bei Scharnhop leider oft genug zu kurz.
10Ein anderes Beispiel hierfür findet sich auf S. 159. Hier scheint das etwas naive Staunen Scharnhops über die Worte „Comparent“ und „Requirent“ durch. Er scheint nicht zu ahnen, dass dieser Sprachgebrauch (wie auch die heutige Eingangsformel „Auf Ansuchen [engl. „upon requirement“] beurkunde ich, was folgt:“) auf bis ins Hochmittelalter zurückgehende Vorstellungen des Tätigwerdens des Notars als Träger eines officium27aufgrund einer rogatio der „Ansuchenden“ zurück geht. Guilhelmus Durantis28 und Bartolus de Saxoferrato29 stecken in meinem Beruf eben in allen Ecken.
11Der dritte Punkt betrifft das Lektorat. Leider finden sich in der Arbeit zahlreiche Flüchtigkeiten. So heißt mein verehrter Hamburgischer Kollege und Verfasser des lesenswerten Beitrags über Gabriel Riesser30Langhein und nicht Langheim31. Bei der Orthografie der französischen Zitate bleibt unklar, ob die Fehler im Original enthalten sind (was interessante Rückschlüsse auf die Französischkenntnisse der damals Beteiligten ermöglichen würde) oder es sich um Fehler beim Abtippen handelt32.
12Scharnhops Feststellung auf Seite 83, dass die Aktiengesellschaft mit einem privatschriftlichen Vertrag gegründet hätte werden können, überrascht angesichts Art. 208 Satz 2 ADHGB33 schließlich dann doch etwas. Statt eines möglicherweise missverstandenen Sekundärzitats34wäre der Blick ins Gesetz zielführender gewesen.
13Insgesamt aber hat Scharnhop eine sehr materialreiche und schon aus diesem Grund verdienstvolle regionalgeschichtliche Studie vorgelegt. Sowohl der Einblick in die Vielfalt notarieller Tätigkeit im 19. Jahrhundert als auch ihr Zusammenhang mit der Bauernbefreiung zeigen dem Leser viel über ein Jahrhundert, das eigentlich noch gar nicht so lange her ist und doch so weit weg. Ich jedenfalls habe das Buch mit Gewinn gelesen und bin auf der Suche nach dem „lebendigen Zusammenhang“35, der ab der Jenaer Romantik36 Welt, Geist und Zeit verknüpft, vielleicht sogar ein wenig weiter gekommen.