1 Die beiden anzuzeigenden Bände kommen zur rechten Zeit und dürfen eine breite Resonanz erwarten. Dies ist allerdings nicht der Tatsache geschuldet, dass politische Ideengeschichte gegenwärtig Konjunktur hätte. Die daran interessierte Zielgruppe haben beide Bände natürlicherweise im Blick. So wird verlässlich über die grossen Debatten der Spanischen Spätscholastik zum „ius gentium“informiert, wie z.B. über die Frage nach einem säkularen Naturrecht, der Rechtfertigung von Eroberungskriegen und Fragen des christlichen Missionsrechts. Auf diese Themen wird zurückzukommen sein. Von aktueller Bedeutung sind beide Bände vielmehr, weil sie die Suche nach der richtigen Perspektive auf das Völkerrecht im Kontext der Spanischen Spätscholastik zum Generalthema machen. Ist das Völkerrecht der Spanischen Spätscholastik primär aus einer Perspektive des Rechts, der Philosophie oder der Theologie zu verstehen? Diese Frage musste die damalige Zeit interessieren, war doch historisch nicht ausgemacht, dass Rechtsbeziehungen mit nicht-christlichen Völkern denselben Prinzipien gehorchten wie denjenigen zwischen den Völkern der „Alten Welt“. Die Bände gehen also zu Recht der Frage nach der richtigen Perspektive (und der zuständigen Disziplin) für Fragen des Völkerrechts nach.
2 Die fundamentale Frage nach der richtigen Perspektive auf das Völkerrecht stellt sich gerade heute wieder, nachdem der (unkritische) Positivismus im Völkerrecht wissenschaftlich immer mehr diskreditiert wurde. Allerdings scheint die Abkehr vom (unkritischen) Positivismus im Völkerrecht länger zu dauern als in anderen Bereichen des Rechts und ist – jedenfalls wenn man auf die völkerrechtliche Praxis, z.B. des Internationalen Gerichtshofs blickt – auch noch längst nicht abgeschlossen. Den Prozess der Abwendung vom (unkritischen) Positivismus wollen verschiedene, neuere Strömungen der Völkerrechtstheorie beschleunigen und anleiten, wie z.B. der globale Konstitutionalismus, der eine verfassungsrechtliche Sprache in Bezug auf das Völkerrecht legitimieren möchte. Auch die sog. kritischen Ansätze im Völkerrecht, wie z.B. die Third World Approaches to International Law (TWAIL), die sich des Völkerrechts aus einer Perspektive der Dritten Welt annehmen, sind inspiriert von der Infragestellung eines (unkritisch) positivistischen Zugangs zum Völkerrecht.
3 Die Gewinnung der richtigen Perspektive auf das Völkerrecht setzt „Kritik“ voraus. Diese muss hinreichend fundamental ansetzen: Heute wie in der Spanischen Spätscholastik muss damit mehr als eine Kritik völkerrechtlicher Rechtsbehauptungen (etwa der Art: „Die spanischen Kriege gegen die Indios waren unrechtmässig“) gemeint sein, wenn es um die Frage nach der richtigen Perspektive gehen soll. Andererseits kann zur Zeit Vitorias aber auch nicht die Rechtskritik durch überpositives Recht gemeint sein: Natürliches und menschliches „ius gentium“ waren in der Zeit Vitorias noch nicht unterschieden. 1 Eine Konfrontation beider erscheint daher auch vor diesem Hintergrund gar nicht möglich. „Kritik“ zur Gewinnung der richtigen Perspektive auf das „ius gentium“ meint hier daher eine Art Meta-Kritik am Völkerrechtsdiskurs oder – genauer – eine Kritik der Bedingungen, unter denen rechtliche Argumentation im Verhältnis zu fremden Völkern überhaupt erst möglich ist. Bei den in den Bänden verhandelten Autoren, Francisco de Vitoria, Bartholomé de Las Casas, Luis de Molina, handelt es sich um Theoretiker, die diese fundamentale Fragen stellten: Unter welchen Bedingungen kommt den Indios die (volle) Rechtsfähigkeit zu? Und in der Konsequenz: Welche Rechte haben die Spanier gegenüber den Indios, wenn diese als gleichberechtigte Herren ihrer selbst betrachtet werden müssen? Unter welchen Bedingungen ist das „ius gentium“ für alle Völker gleichermassen verbindlich? Unter welchen Umständen ist eine humanitäre Intervention gerechtfertigt?
4 Gleich zu Beginn dieser Rezension ist aber ein caveat anzubringen, welches besonders bei der Wiederaneigung der Spanischen Spätscholastik durch das Völkerrecht zu bedenken ist: Wenn im 16. Jahrhundert, insbesondere bei Vitoria, von „ius gentium“ die Rede ist, dann wird damit etwas grundsätzlich anderes bezeichnet als „Völkerrecht“ im heutigen Verständnis, wie Seelmann in seinem Beitrag sehr hilfreich herausstreicht (4:235). Das „ius gentium“ weist gleichsam nur eine Familienähnlichkeit mit dem Völkerrecht als einer im Wesentlichen zwischenstaatlichen Rechtsordnung auf: „Ius gentium“ – im Verständnis des 16. Jahrhunderts – gilt nicht „zwischen“ Völkern, sondern „unter“ den Völkern, d.h. im Innenbereich eines staatlichen Gemeinwesens, nicht im Zwischenbereich der Völker (oder Gemeinwesen) untereinander. „Ius gentium“ bezeichnete also damals das allen Völkern gemeinsame Recht. Dies ändert sich erst bei Suárez, der als erster unter dem „ius gentium“ primär das „ius inter gentes“ versteht: „Uno modo quia est ius, quod omnes populi et gentes variae inter se servare debent; alio modo quia est ius, quod singulae civitates vel regna intra se observant. Prior modus videtur mihi proprissime continere ius gentium.“2
5 Der schieren Fülle an Themen und Fragestellungen, die in den hier anzuzeigenden Bänden verhandelt werden, kann eine Rezension nicht gerecht werden. Im Folgenden wird der Ertrag der Studien anhand von vier besonders bedeutsam erscheinenden Forschungsfeldern aufgezeigt: Quellen der Normativität des „ius gentium“, transnationale Rechtsgemeinschaft und Strafkrieg, Rechte des Menschen und die Konstruktion von Eigenem und Fremdem.
6(1) Normativität. Mehrere Beiträge befassen sich mit der Frage der Normativität des „ius gentium“ und dem Problem, woraus sich dessen Verpflichtungskraft speise. Da „ius gentium“ und „ius naturale“ von Vitoria noch nicht eigentlich unterschieden werden, verweist die Frage nach der Normativität auf den Geltungsgrund des „ius naturale“.3 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, ob Vitoria ein säkulares Naturrecht gedacht hat, ob also die Vernunft oder das göttliche Gesetz Grundlage der „lex naturalis“ (und damit des „ius gentium“) ist. Die vorliegenden Beiträge kommen in dieser Frage zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, aus welcher Perspektive sie sich dem Problem nähern: Spindler (3:62 ff.), dessen Beitrag handlungstheoretisch nach den Prinzipien der „lex naturalis“ fragt, greift weit aus und bezieht Vitorias Kommentar zu Thomas von Aquins Lex-Traktat mit ein. Für Vitoria sei es – im Anschluss an Thomas – die allen Menschen gemeinsame, praktische Vernunft, die den Handlungen die Prädikate „gut“ bzw. „schlecht“ zuweise und ein „Set materialer Erstprinzipien“ (3:87) zutage bringe, die „objektiv selbstevident“ seien und ohne Vermittlung der Religion eingesehen würden. Die zweite Tafel des Dekalogs (Mord-, Diebstahls-, Ehebruchsverbot etc.) sei daher naturrechtlich vorgegeben, jeder vernunftbegabten Person einsichtig und nicht an die (christliche) Religion gebunden (3:90). Beispielsweise gelte das Tötungsverbot, so Spindler in einem weiteren Aufsatz, unabhängig von der Offenbarung allein aufgrund der universellen praktischen Vernunft (4:50). Indem die „lex naturalis“ von Vitoria religionsunabhängig gedacht werde, ergebe sich ein universelles „ius gentium“, einen gemeinsamen „Rechtsbestand“ aller Völker, der auf die Vernunft gegründet sei (3:91). In dieser Interpretation kommt Vitoria das Verdienst zu, die thomistische Konzeption praktischer Vernunft „universalisiert“ zu haben. Dies hat eine wichtige Konsequenz: Nur die Perspektive einer universellen praktischen Vernunft ermöglicht die Vorstellung einer wirklich globalen Rechtsgemeinschaft (dazu unten 2.).
7 Es ist aber auch eine andere Perspektive auf das Normativitätsproblem bei Vitoria möglich. Diese zweite Perspektive, die vor allem auf die Wirksamkeit juridischer Regeln achthat, bringt Stiening ins Spiel. Anders als Spindler hält Stiening ein säkulares Naturrecht bei Vitoria für ausgeschlossen (3:133). Die Verbindlichkeit der Gesetze bei Vitoria setze die Instanz des Gewissens voraus (und begründe damit auch die Zuständigkeit der Theologie) (3:132). Stiening kann auf Stellen in Vitorias „De potestate civili“ verweisen, die Rechtsübertretungen als „Sünde“ identifizieren (3:131). Damit sei dann auch zugleich gesagt, dass für naturrechtliche Fragen letztlich die Theologie zuständig sei (3:133). Dieser Auffassung neigt auch Cavallar zu, wenn er Vitorias Denken nicht als säkularisiert ansieht, v.a. wegen der Verpflichtung zur Missionierung, die Vitoria den Spaniern auferlege (4:4).
8 Eine kritische Perspektive auf die Frage der Normativität des Völkerrechts entwickelt Vitoria in beiden Deutungen nicht: Im ersten Fall hängt die Geltung des Völkerrechts von der vorausgesetzten Evidenz des Naturrechts ab, in der zweiten Deutung von einer anspruchsvollen (theologischen) Konzeption des Gewissens. In beiden Fällen wird das Völkerrecht anfällig für ideologische Zuschreibungen. Nach Brieskorn (3:246) ist es erst der weitsichtige Bartolomé de Las Casas, der eine kritische Perspektive entwickelt: Erst Las Casas sehe, dass solchen Konstruktionen des Völkerrechts eine unentrinnbar ideologische Absicht innewohne, indem er „den Blick auf die ungleiche Entwicklung, den ungleichen Zustand [lenke, T.A.] und darauf, dass die Welt eine Welt der Schwachen und Starken ist“ (3:246).
9(2) Transnationale Rechtsgemeinschaft und Strafkrieg: Bei aller Unklarheit darüber, inwieweit die Normativität des Völkerrechts bei Vitoria tatsächlich säkularen Ursprungs ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass Vitoria auf der Grundlage des „ius gentium“ eine Gemeinschaftsordnung christlicher und nicht-christlicher Völker denkt. Es ist gerade die Gemeinsamkeit des Rechts in Form des „ius gentium“, die eine universelle Rechtsgemeinschaft der Völker etabliert. Entscheidend ist auch für Vitoria, wer wozu aufgrund des „ius gentium“ berechtigt ist. Hier zeigt sich nun, wie Scattola (3:109) und auch Bunge (4:129) treffend darlegen, dass Vitoria dem „ius gentium“ wesentlich eine „transnationale“ (im Unterschied zu einer „internationalen“) Wirkung beimisst. „Ius gentium“ ist nicht einfach reines, universelles „Innenrecht“ der Gemeinwesen, sondern ihm kann durchaus – modern gesprochen – eine „extraterritoriale Wirkung“ zukommen. Scattola zitiert die einschlägige Passage aus „De iure belli“, in der Vitoria darlegt, dass der Herrscher nicht nur die öffentliche Gewalt über seine Bürger habe, sondern kraft Naturrechts auch Autorität (d.h. vor allem Strafgewalt) über Fremde auf fremdem Territorium habe (3:109). Wie Scattola richtig schreibt, ist Krieg in dieser Perspektive „Rechtsprechung“ (bzw. – genauer – Rechtsdurchsetzung) eben des „ius gentium“ gegenüber Rechtsbrechern (3:109). In der transnationalen Logik des „ius gentium“ ist die Sorge für das völkerrechtliche Gemeinwohl den Herrschern der einzelnen Gemeinwesen übertragen – das „ius gentium“ ist also ganz auf dezentrale Rechtsdurchsetzung angewiesen.
10 Es finden sich allerdings vereinzelt Hinweise bei Vitoria, die eine Internationalisierung dieser transnationalen Ordnung andeuten: So streicht Wagner heraus, dass es Vitoria auch gerade um die rechtsförmige Durchsetzung des „ius gentium“ angelegen sei, er etwa bereits an eine Institutionalisierung eines völkerrechtlichen Gerichtsverfahrens gedacht habe (3:162).
11 Das zentrale Problem der Relectio „De Indis“, nämlich die Frage nach der Rechtmässigkeit der spanischen Eroberungen, ist dann auch vor dieser „transnationalen“ Deutung des „ius gentium“ zu sehen. Wie Scattola darlegt, nennt Vitoria drei elementare Verletzungen des „ius gentium“ durch die Indios, die in der transnationalen Deutung fremde Herrscher zur Rechtsdurchsetzung in Form eines Strafkriegs berechtigten (3:114):4 Der erste Rechtsgrund ist der der Verweigerung eines Volkes, an der natürlichen Gemeinschaft der Völker teilzunehmen. Diese Gemeinschaft manifestiert sich vor allem in einer universellen Kommunikationsgemeinschaft. Wie Brieskorn darlegt, habe der Einzelne ein natürliches Recht, in fremde Länder einzuwandern und mit anderen Völkern Handel zu treiben (3:232). Werde ihnen dieses Recht vorenthalten, könnten die fremden Völker mit Gewalt zur Einhaltung des „ius gentium“ gezwungen werden. Scattolas Ausführungen erhellen: Die Teilnahme an der Völkergemeinschaft und ihrer Kommunikation sind für Vitoria eine natürliche, weil das „ius gentium“ erst ermöglichende Pflicht (3:115). Der zweite Rechtsgrund betrifft die Verbreitung der christlichen Religion, der sich ein fremder Fürst nicht widersetzen darf. Tut er dies dennoch, darf er mit Gewalt abgesetzt werden. Einen dritten Rechtsgrund für einen Strafkrieg gibt die „humanitäre Intervention“ ab, wenn nämlich ein fremder Fürst die „Grenzen der Menschlichkeit und der Religion“ gegenüber seinen Untertanen überschreite (3:115).
12 Auch hinsichtlich der transnationalen Rechtsgemeinschaft und des Strafkriegs zeigen die Aufsätze in beiden Bänden, dass Vitoria nicht eigentlich eine kritische Perspektive auf das Völkerrecht entwirft. Zwar lehnt Vitoria theologische Begründungen (etwa die Weltherrschaft des Papstes oder die Verweigerung der Annahme des christlichen Glaubens) als Rechtfertigung für eine Fremdherrschaft über die Indios ab, wie Brieskorn ausführt (3:229). Zugleich lassen die drei von Vitoria als legitim akzeptierten Rechtsgründe aber sehr viel Spielraum für eine Rechtfertigung der spanischen Eroberung. Erst Immanuel Kant wird den Fall des ersten, von Vitoria genannten Grundes – Strafkrieg wegen Verweigerung der Teilnahme an der natürlichen Gemeinschaft der Völker – auf einen passenden Begriff bringen, wenn er vom „ungerechten Feind“ spricht.5 Dieser ist einer, der sich aktiv einer universellen Friedensgemeinschaft widersetzt, mit dem also kein Frieden zu machen ist. Nur in diesem Fall dürfe er – so Kant – gewaltsam zur Friedenswahrung gezwungen werden. Ein Recht auf Eroberung ist damit in der Kantischen Konzeption ausgeschlossen. Der zweite Strafkriegsrund, die Behinderung oder Unmöglichmachung der christlichen Missionierung, ist ebenfalls problematisch: Cavallar führt die Kritik Richard Zouches an, der in Fragen der Religion und Missionierung nur ein „Vorwand“ für Krieg gesehen habe (4:13). Der dritte Grund, die humanitäre Intervention, ist auch für Manipulation anfällig; zugleich wird dieser Grund aber in der frühen Neuzeit positiv aufgegriffen, wie Cavallar schreibt, etwa von Gentili (4:11) und natürlich von Grotius (4:17).
13(3) Subjektive Rechte des Menschen? Eine weitere fundamentale Frage, die von einigen Beiträgen behandelt wird, ist, ob dem Menschen subjektive Rechte zukommen oder ob er vielmehr blosses „Objekt“ von Rechten anderer ist. Bevor man sich dem Problem zuwenden kann, ob dem Menschen subjektive Rechte zukommen, ist eine wichtige Vorabfrage zu klären: Diese bestehe, wie Spindler (3:69) darlegt, in der Frage der Rechtsfähigkeit von Menschen – also die Fähigkeit, eine Rechtsperson zu sein. Hier wendet sich Vitoria ausdrücklich dagegen, in den Indios „Sklaven von Natur aus“ – in Sinne des Aristoteles – zu sehen (s. Spindler 3:69). Das Institut der Sklaverei werde von Vitoria allerdings nicht grundsätzlich in Frage gestellt (3:77; eine grundsätzliche Begrenzung der Sklaverei finde bei Molina statt, s. Kaufmann 4:291 ff.).6 Vielmehr ziehe Vitoria – so wird man Spindler hier verstehen dürfen – die handlungstheoretischen Konsequenzen aus der thomistischen Konzeption des Vernunftgebrauchs: Danach hätten alle Vernunftwesen (also im Grundsatz alle Menschen, nicht aber die Tiere) das ‚dominium‘ über ihre Handlungen (3:74‒75). ‚Dominium‘ ist wohl am besten mit „Herrschaftsrecht“ zu übersetzen (oder „vollständiges Verfügungsrecht“, so Kaufmann 4:300). Mit der Zuschreibung von ‚dominium‘ sei für Vitoria die Fähigkeit verbunden, subjektive Rechte zu haben sowie Unrecht erleiden zu können (3:75). Vitoria bejahe die Rechtsfähigkeit der Indios, da diese über Vernunftgebrauch verfügten, etwa wenn sie eine politische Ordnung untereinander errichteten (3:76). Sofern Vernunftgebrauch in actu vorliege, komme Menschen „Rechtsfähigkeit“ zu und sie seien als „wahre Herren“ ihrer selbst zu behandeln. Wie Schmeisser (3:19; in Anlehnung an Michael Sievernich) richtig sieht, liegt darin der Keim eines Diskriminierungsverbots: Die Eigenschaft, eine Rechtsperson zu sein, kann nicht unter Hinweis auf religiöse oder politische Andersheit verneint werden. Wie oben beschrieben, haben die Rechtspersonen bei Vitoria kraft „ius gentium“ ein subjektives Recht auf Einreise und Handel.
14 Doch entpuppt sich Vitoria in der Frage der subjektiven Rechte keineswegs als „liberaler“ Vorkämpfer der Menschenrechte, wie die Beiträge übereinstimmend deutlich machen. Spindler weist etwa darauf hin, dass Vitoria sich einen Spielraum offenhält, wenn er das Vorliegen von Vernunftgebrauch durch die Indios für eine „empirische“ Frage hält, auf die die Antwort so oder auch anders ausfallen könne (3:76 f.). Damit vergibt sich Vitoria letztlich bedeutsames kritisches Potential: Grund ist, dass Vitoria zum einen für die Rechtsfähigkeit des Menschen nicht an die Vernunftfähigkeit anknüpft, sondern an den (betätigten) Vernunftgebrauch. Die Rechtsfähigkeit der indigenen Völker wird daher bei Vitoria letztlich zur Tat-, nicht zu einer Rechtsfrage. Zum anderen wird eine kritische Perspektive auf das Völkerrecht verfehlt, indem Vitoria nicht eigentlich Menschenrechte, also Rechte aufgrund des Menschseins, formuliert. Wie Bunge (unter Berufung auf Michael Sievernich) schreibt, verwendet erst Las Casas den Begriff der „Menschenrechte“ (4:142). Vitoria hingegen kennt subjektive Rechte des Einzelnen aufgrund des „ius gentium“ (wie das Einreise- und Handelsrecht). Die problematische Rechtsungleichheit ist hier keine formale, sondern sie ergibt sich aufgrund der nicht-reziproken Inanspruchnahmemöglichkeit: Die Spanier, nicht aber die Indios, sind materiell überhaupt in der Lage, die „Rechte“ aus dem „ius gentium“ einzufordern. Vitorias Konstruktion der subjektiven Rechte des Menschen im „ius gentium“ ist daher manipulierbar und bevorteilt den Starken (vgl. nochmals Brieskorn 3:246). Cavallar weist zudem auf die Kritik Alberico Gentilis hin: Zwar sei das Recht auf Handel ein „Grundrecht“, den Spaniern sei es aber gar nicht um Handel, sondern von vornherein um Herrschaft gegangen (4:10).
15(4)Eigenes und Fremdes. Beide Bände geben Auskunft über die lebendigen Auseinandersetzungen der Schule von Salamanca um die Position und Deutung des „Fremden“ in einer bedeutsamen Zeit des Umbruchs, der beginnenden Herausbildung moderner Staatlichkeit. In dieser Frage kommt es darauf an, wie das „Fremde“ konstruiert wird und welche Konsequenzen daraus für das Verhalten diesem gegenüber gezogen werden: Welches sind rechtlich relevante Unterschiede zwischen Spaniern und Indios? Von Bedeutung ist, wie Schmeisser (3:20) darlegt, dass für Fragen des „ius gentium“ die kulturelle oder religiöse Verschiedenheit der Indios keine Relevanz besitzt, diese insbesondere keinen Kriegsgrund abgibt. Allerdings verletzten die Indios – nach Ansicht Vitorias – das „ius gentium“ (etwa durch Verweigerung der Einreisefreiheit und des Handeltreibens) und seien aus diesem Grund „anders“ (3:25). In diesen Überlegungen Vitorias, wiewohl im Ergebnis eine fatale Apologie der spanischen Eroberung ermöglichend, steckt freilich konzeptionell eine beachtliche Säkularisierungsleistung: Vitoria argumentiert in Bezug auf den „Fremden“ innerhalb eines juridischen Begriffsrahmens (‚dominium‘; ‚ius peregrinandi‘). Allein diese Kategorienwahl enthält eine Rationalisierung der Diskussion um das „ius gentium“. Auch an anderer Stelle wird eine weitere Säkularisierungsleistung Vitorias in Bezug auf das „ius gentium“ deutlich: So weist Scattola in seinem Beitrag darauf hin, dass schon bei Vitoria die blosse „potestas indirecta“ der Kirche in Bezug auf die politische Ordnung angelegt ist (3:102 f.). Erst diese Säkularisierungsleistungen, die mit dem Problem, welche Behandlung dem „Fremden“ zukomme, virulent wurden, machten den Übergang in das zwischenstaatliche „ius gentium“ der frühen Neuzeit, für das exemplarisch Hugo Grotius steht, möglich.
16 Die in den Bänden versammelten Aufsätze stellen insgesamt einen bedeutsamen Beitrag zur Erforschung des „ius gentium“ der Spanischen Spätscholastik dar. Der Leser gewinnt einen Einblick in das völkerrechtliche Denken und die Debatten der massegebenden Theoretiker in der Zeit des Übergangs zur Neuzeit, wobei beide Bände einen gewissen Schwerpunkt auf Francisco de Vitoria legen. Das ist durchaus in Ordnung; eine vergleichbar dichte Auseinandersetzung mit dem Werk von Las Casas wäre aber sicher in einem weiteren Band der frommann-holzboog Reihe wünschenswert. Positiv zu vermerken ist auch, dass die zeitgenössische Kritik an Vitoria (etwa durch Las Casas oder de Molina) nicht zu kurz kommt (vgl. nur die Beiträge von Bach 3:191; Brieskorn 3:219). Allerdings hätte sich der Leser beim zweiten, hier besprochenen Band, „Kontroversen um das Recht“, eine thematische Einteilung der Beiträge gewünscht. Hier werden Beiträge zu fundamentalen Fragen und solche zu Spezialproblemen unvermittelt nebeneinander abgehandelt.
17 Die Beiträge machen deutlich: Indem die Schule von Salamanca nicht bei Oberflächendifferenzen im Hinblick auf die „Ungläubigen“ stehenblieb, sondern nach den normativen Grundlagen für rechtliche Beziehungen zwischen „alter“ und „neuer“ Welt fragte, trug sie ganz massgeblich zur Schaffung eines kritischen Reflexionsrahmens für Fragen des frühneuzeitlichen Völkerrechts bei. Dass die Spanische Spätscholastik aber nicht nur eine begriffliche und konzeptionelle Vorbereitung des „ius gentium“ der frühen Neuzeit war, sondern durchaus einen eigenen Weg in der Konzeption einer transnationalen Gemeinschaftsordnung formulierte, zeigen die Beiträge auf eindrückliche Weise
18
19Norbert Brieskorn/Gideon Stiening, »[N]ec evidenter iustum, [...] nec evidenter iniustum«? Francisco de Vitorias De Indis in interdisziplinärer Perspektive
20Martin Schmeisser, Francisco de Vitorias De Indis im Kontext der frühneuzeitlichen Reiseliteratur
21Ofelia Huamanchumo de la Cuba, Zum Einfluss der Relectio de Indis auf die kirchliche Gesetzgebung zur Taufe der Indios
22Anselm Spindler, Der Handlungsbegriff als Grundbegriff der praktischen Philosophie – Francisco de Vitorias Thomas-Rezeption und ihre Wirkung auf die Relectio de Indis
23Merio Scattola, Das Ganze und die Teile – Menschheit und Völker in der naturrechtlichen Kriegslehre von Francisco de Vitoria
24Gideon Stiening, Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis
25Andreas Wagner, Die Theologie, die Politik und das internationale Recht – Vitorias Sprecher- und Akteursrollen
26Frank Grunert, Theologische Norm und der politische Anspruch der Kirche – Bemerkungen zur Völkerrechtslehre von Francisco de Vitoria
27Oliver Bach, »At nobis contrarium videtur verum« – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas
28Norbert Brieskorn, Die Kritik von Bartolomé de Las Casas an der Relectio de Indis
29Kontroversen um das Recht, Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez (zit. als 4: Seite)
30Georg Cavallar, From Francisco de Vitoria to Alfred Verdross – The Right to Preach the Gospel, the Right of Hospitality, and the International Community
31Anselm Spindler, Positive Gesetze als Ausdruck menschlicher Rationalität bei Francisco de Vitoria und Domingo de Soto
32Christian Schäfer,Ad usum Leopoldi – Der Rechts- und Gesetzesbegriff in Sepúlvedas Democrates-Dialogen
33Christiane Birr, Recht als Argument in Bartolomé de Las Casas’ Tratado sobre los indios que han sido hechos escla
34Kirstin Bunge, Ordnung und Freiheit – Zum Begriff der Freiheit und des Rechts bei Francisco de Vitoria und Bartolomé de Las Casas
35Jörg Alejandro Tellkamp, Das Gemeinwohl und der gerechte Krieg gegen die Indios bei Alonso de la Veracruz
36Hernán Neira, Interweaving International and Civil Law – A Theory of Communicative Action for Preaching the Gospel
37Nils Jansen, Zur Diskussion um die Restitutionslehre bei Francisco de Vitoria und seinen Nachfolgern
38Kurt Seelmann,Ius naturale und ius gentium bei Fernando Vázquez de Menchaca
39Merio Scattola, Naturrecht und politische Theologie in der Relectio regulae »Peccatum« von Diego de Covarrubias
40Matthias Kaufmann, Subjektive Rechte als Grenzen der Rechtssetzung bei Luis de Molina
41Stefan Schweighöfer, Luis de Molinas Theorie der Gerechtigkeit und ihre Auswirkungen auf das Recht
42Gideon Stiening,Suprema potestas [...] obligandi – Der Verbindlichkeitsbegriff in Francisco Suárez’ Tractatus de Legibus