Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Christof Rolker*

Atria Ann Larson, Master of Penance: Gratian and the Development of Penitential Thought and Law in the Twelfth Century. Studies in Medieval and Early Modern Canon Law 11 , Washington , Catholic University of America Press 2014. ISBN: 9780813221687

1Atria Larson hat eine gewichtige Monographie vorgelegt, die sich dem als De penitentia bekannten Bußtraktat im Decretum Gratiani, seiner Entstehung und seiner Rezeption widmet. Es handelt sich um einen zentralen Text sowohl der Gratian-Forschung als auch einen (allein schon aufgrund seiner sehr weiten Verbreitung) fundamental wichtigen Text der Theologie und Kirchenrechtsgeschichte des späteren Mittelalters. Daher auch entwickelt Larson in ihrer Arbeit grundlegende Überlegungen zum Verhältnis der sich im 12. Jahrhundert allmählich ausdifferenzierenden Disziplinen der Theologie einerseits und der Rechtswissenschaften andererseits; im ersten Teil des Buches widmet sie sich zudem der komplexen Frage nach der Entstehung des Decretum Gratiani. Es sind „große“ Themen, denen sich Larson widmet, und um es gleich zu sagen, meistert sie diese mit Bravour.

2Bereits die kurze Einleitung hat es in sich. Sie widmet sich, neben einer ebenso knappen wie kenntnisreichen Darstellung der Forschungsgeschichte, hauptsächlich einem vergleichsweise speziellen Problem, der Unterscheidung der frühesten Versionen des DecretumGratiani. Auch wenn es hier zunächst „nur“ darum geht, eine gesicherte Textgrundlage für die folgende Untersuchung zu schaffen, nimmt Larson die offenen Forschungsfragen in diesem Bereich zum Anlass, auf Basis sehr solider Handschriftenkenntnisse eine eigenständige Position zu beziehen. Insbesondere argumentiert sie, auch wenn sie überwiegend mit der als Fc bekannten Florentiner Handschrift arbeitet, dass die Sankt Galler Gratian-Handschrift („Sg“) trotz des auch von Larson akzeptierten Einflusses einer späteren Gratian-Version dennoch in Teilen eine besonders frühe Fassung von De penitentia bewahre. Larson widerspricht damit insbesondere Anders Winroth, der die Handschrift als kontaminierte Kurzfassung der von ihm als „first recension“ bezeichneten Textstufe ansieht. Larson argumentiert hier ausgesprochen umsichtig. Nicht nur kennt sie ihre Handschriften und entwickelt kodikologische, historische und philologische Argumente von erheblicher Rafinesse. Besonders löblich ist auch, wie ausführlich und ausgewogen sie auch entgegenstehende Argumente referiert und diese frei von jeder Polemik diskutiert; sie macht auch deutlich, wo, wie und warum sie ihre eigene Überzeugung verändert hat. Man mag sich von ihrer Position überzeugen lassen oder nicht, aber das Niveau und eben auch der Tonfall der Debatte sind vorbildlich.

3Im ersten der beiden Hauptteile (Kap. 1-7) geht es um die eigentliche Bußlehre, die in De penitentia enthalten ist. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf der berühmten ersten distinctio des Traktats und damit die Frage, wie (innere) Reue und (äußere) Beichte jeweils zur Vergebung der Sünden beitragen. In der Forschung sind seit langem unterschiedliche Rekonstruktionen von Gratian Argumentation diskutiert worden. Einige durchaus gängige Deutungen kann Larson durch ihre präzise Arbeit am Text und/oder die Berücksichtigung des Kontextes als Missverständnisse erweisen; die Vertrautheit der Autorin mit der theologischen Literatur des 12. Jahrhunderts ist dabei beeindruckend, ihre Argumentation ebenso nuanciert wie nachvollziehbar. Auf dieser Basis kann sie auch Gratians Bußlehre mit den Konzepten, wie sie in nordfranzösischen Sentenzensammlungen im Umkreis der „Schule von Laon“ etwas früher nachgewiesen sind, überzeugend in Verbindung setzen. Ebenfalls sehr überzeugend ist das Argument, dass De penitentia nicht irgendein Teil des DecretumGratiani sei (die ältere Forschung wollte es teilweise als späteren Zusatz ausscheiden!), sondern formal und inhaltlich eng mit dem Rest des Werkes zusammenhängt. Spätestens hier zahlt es sich aus, mit welcher Sorgfalt Larson ihre Textgrundlage erstellt hat, denn wie gleichsam nebenher klar wird, wären viele entscheidende Hinweise aus den gedruckten Fassungen nicht ersichtlich.

4Der zweite Hauptteil (Kap. 8-12) ist dem Einfluss von De penitentia im weiteren 12. und 13. Jahrhundert gewidmet und geht dabei auch der Frage nach, wie unterschiedlich die Rezeption in „theologischen“ und „kanonistischen“ Werken (selbst wenn diese von ein- und derselben Person verfasst wurden) ausfiel. Neben den bekannteren Werken, allen voran den Sentenzen des Petrus Lombardus, berücksichtigt Larson hier eine große Zahl kanonistischer und theologischer Werke aus Italien, Frankreich, England und den Rheingebieten, aber auch päpstliche Schreiben insbesondere von Alexander III. und Innozenz III. Sorgfältig unterscheidet Larson auch hier zwischen unterschiedlichen Traditionen und kommt zu gut begründeten Einzelurteilen, z.B. hinsichtlich des Einflusses von Abaelard und/oder Gratian auf Petrus Lombardus. (Die intertextuellen Beziehungen zwischen Gratians De penitentia einerseits und den Sentenzen des Lombarden sind dabei zusätzlich in einem der nützlichen Appendices dokumentiert.) Wie die einzelnen Kapitel zur Rezeption an den Universitäten, an der Kurie und in anderen Milieus deutlich machen, war De penitentia im späteren Mittelalter ein fundamental wichtiger Text, wenn es um theoretische wie praktische Fragen rund um die Buße ging. Zugleich zeigt Larson an vielen Beispielen, wie Gratian und seine Leser immer wieder die in der modernen Forschung allzu einfach gezogenen Grenzen zwischen „Kanonistik“ und „Theologie“ überschritten.

5Die reichen Ergebnisse des über 500 Seiten starken Werkes können mit diesen Bemerkungen nur angedeutet werden. All das ist aus Larsons Dissertation hervorgegangen (2006 an der CUA Washington eingereicht), doch das Niveau der Diskussion geht weit über das hinaus, was man auch von guten Dissertationen gewohnt ist. Schon der erste Teil des Buches müsste, wäre er separat erschienen, als eine der wichtigsten kirchenrechtshistorischen Publikationen der letzten Jahre gelten. Tatsächlich ist aus Larsons Dissertation inzwischen aber nicht nur die anzuzeigende Monographie, sondern noch eine zweite hervorgegangen, in der sie den hier untersuchten Text ediert und übersetzt.1 So groß der Reichtum der Ergebnisse ist, macht Larson auch deutlich, wie viele Aufgaben noch weiterer Forschung harren, insbesondere auch zur Genese des DecretumGratiani.

6Sowohl für die Gratian-Forschung als die kirchliche Rechtsgeschichte im Allgemeinen ist die Studie von großem Wert, zumal sie detaillierte Quellenarbeit mit grundlegenden analytischen Fragen verbindet: Mal sind Details bis zur Tintenfarbe relevant, mal geht es darum, was Scholastik sei. Nicht nur bringt Larson die Forschung materialiter vor, zusätzlich darf ihre Methodik als vorbildlich bezeichnet werden.

Rezension vom 25. Mai 2022
© 2022 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
25. Mai 2022

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2022-006

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Christof Rolker, Atria Ann Larson, Master of Penance: Gratian and the Development of Penitential Thought and Law in the Twelfth Century. (25. Mai 2022), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2022-05-rolker/