Zwischen 1922 und 1924 versuchte die österreichische Bundesregierung, das neu eröffnete Krematorium im »roten« Wien zu verbieten. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Wien weigerte sich jedoch, den Anweisungen des christlich-sozialen Bundesministers Folge zu leisten. Da die Zuständigkeitsregeln der republikanischen, neuen Verfassung (B-VG) damals noch nicht in Kraft traten, kam es zwischen der Bundesregierung und Wien (als Land) zu einem Rechtsstreit. Der Streit wurde schließlich vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) zugunsten von Wien entschieden. Die Bundesregierung versuchte jedoch mit zwei weiteren Anträgen (wegen eines angeblichen Kompetenzkonflikts zwischen der Bundesregierung und Wien sowie wegen der angeblichen Verfassungswidrigkeit der Wiener Landesverfassung) das Krematorium zu verhindern. Auch in diesen Fällen entschied aber der Verfassungsgerichtshof zugunsten von Wien, ohne jedoch die Hauptfrage zu beantworten, ob die Feuerbestattung in Österreich legal ist. Neben der konkreten Rechtslage stellte der Fall auch ein wichtiges Kapitel des damaligen »Kulturkampfes« dar, der allerdings verfassungsrechtlich ausgefochten wurde. In dem Beitrag werden sowohl die öffentlichen Debatten als auch die Rechtslage und die Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof dargestellt und anhand von Primärquellen analysiert. Der berühmte Rechtstheoretiker Hans Kelsen war in allen drei Verfahren als Referent am Verfassungsgerichtshof tätig. Daher wird auch die Frage erörtert, ob die Entscheidungen der »Reinen Rechtslehre« von Kelsen ent- oder widersprachen, und ob die »zurückhaltende« Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im Sinne der Kelsenschen Rechtslehre und des historischen Kontextes der damaligen Zeit als »aktivistisch« anzusehen ist.
Zeitschrift Aufsätze
Péter Techet
Kultur- und Rechtskampf um das Wiener Krematorium (1922–1924).
Inhalt
- I. Eröffnung des Wiener Krematoriums
- II. Verboten, was nicht erlaubt? Oder erlaubt, was nicht verboten?
- II. 1. Kompetenzen zwischen Bund und Land
- II. 2. Zulässigkeit der Feuerbestattung?
- III. Erste Runde vor dem VfGH: Prüfungsrecht und Kompetenzfrage
- III. 1. Rechtsgeschichte vor dem VfGH
- III. 2. Prüfungsrecht des mittelbaren Bundesvollzugorgans
- III. 3. Kompetenzfrage im Bestattungswesen
- III. 4. VfGH-Erkenntnis: Nichtbefolgung der Weisung als entschuldbarer Rechtsirrtum
- IV. Zweite Runde vor dem VfGH: Entscheidungs-, kein Kompetenzkonflikt
- IV. 1. Konflikt des Bundes mit Land oder Gemeinde Wien?
- IV. 2. Kompetenzkonflikt und Rechtskraft
- V. Dritte Runde vor dem VfGH: Gesetzeslücke, aber keine Verfassungswidrigkeit
- V. 1. Bundesverfassungswidrigkeit der Wiener Landesverfassung?
- V. 2. VfGH-Erkenntnis: Kein Kompetenzkonflikt
- V. 3. VfGH-Erkenntnis: Keine Verfassungswidrigkeit der Wiener Landesverfassung
- VI. Formale Argumente, politische Konsequenz: Anfänge des »judicial activism«?
- VI. 1. Verfassungsgerichtshof als Hüter der Kompetenzen und der gesetzmäßigen Verwaltung in einem Bundesstaat
- VI. 2. Verfassungsgerichtsbarkeit: Widerspruch zu oder Bestätigung der »Reinen Rechtslehre«?
- VI. 3. Aktivismus am VfGH in der Ersten Republik?
- Konklusion
Abstracts
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Aufsatz vom 24. Mai 2022
© 2022 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
24. Mai 2022
DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2022-005
- Zitiervorschlag Péter Techet, Kultur- und Rechtskampf um das Wiener Krematorium (1922–1924). (24. Mai 2022), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net2022-05-techet