Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Wolfgang Ernst

Klaus Kowalski, Das Vertragsverständnis des Hugo Grotius Köln : Böhlau Verlag, 2022, 456 S ., ISBN: 978-3-412-52492-0 .

1Das bedeutende Werk rekonstruiert die Vertragslehre – oder Vertragslehren – des Hugo Grotius. Verf. geht nicht von einer einheitlichen, über die Schaffenszeit Grotius’ gleichbleibenden Vertragslehre aus. Vielmehr stellt er die Möglichkeit in Rechnung, dass eine Entwicklung des Vertragsverständnisses festzustellen ist. Dies führt ihn dazu, die folgenden Publikationen bzw. Quellen getrennt zu untersuchen: Beginnend mit einem Fragment von Parallellon rerumpublicaron (1602) geht es zu De iure praedae commentarius (1606) und Theses lvi (wohl um dieselbe Zeit), sodann folgt ein Brief Grotius’ an seinen Bruder Willem vom 28.2.1616, und nach Inleidinge (1620) macht De iure belli ac pacis (1625) den Schluss. Dieser Durchgang wird vorbereitet durch Ausführungen zum Forschungsstand und zur eigenen Methodologie sowie – wichtiger – zu den Vertragsverständnissen, wie sie sich vom römischen Recht bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nachzeichnen lassen. Biographische Minimalia zu Grotius schliessen diese Einleitungen ab.

2Verf. sieht in Grotius’ Schriften drei unterschiedliche Legitimationsansätze für die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen, und zwar die fides, die Austauschgerechtigkeit sowie den Gedanken, dass dem Vertragspartner ein eigentumsähnliches Recht an zukünftigem Verhalten eingeräumt, oder auch übertragen, werde. In einer graduellen Entwicklung habe der letztgenannte Gesichtspunkt die beiden anderen verdrängt. Die Vorstellung eines fast eklektischen Begründungspluralismus bei Grotius überrascht. Man hat es mit einem Rechtsdenker zu tun, dem es auf gedankliche Geschlossenheit ankam. Verf. stellt fest, dass fides als allgemeiner Verpflichtungsgrund von Grotius selbst früh zurückgewiesen worden ist. Auch im Übrigen handelt es sich, wie Verf. wiederholt klarstellt, nicht um Kehrtwenden nach Art eines Damaskusereignisses, sondern um allmähliche Verschiebungen, wobei auf den Hauptgrund, der schwierige Einbezug der einseitigen Verbindlichkeit, sogleich einzugehen ist.

3Nur mit Zögern formuliert man Vorbehalte gegen eine so gründlich durchgeführte Arbeit, der auf Seiten des Rezensenten doch nur ein vergleichsweise allgemeines Verständnis der Ausführungen von Grotius gegenübersteht. Verf. macht eine wichtige Beobachtung die Methode des Grotius betreffend. Grotius deduziere seine Rechtsaussagen aus höheren Prinzipien, um sie dann, sobald sie formuliert sind, aus einem heterogenen Quellenbestand nochmals abzustützen. Verf. sieht hier zwei gegenläufige Beweisschienen, einmal naturrechtlich-systematisch (a priori), das andere Mal von der Art eines «Indizienbeweis» a posteriori: «Eine tragende Funktion in Grotius’ Naturrechtssystem kommt dies Argumenten a posteriori allerdings nicht zu» (S. 387). Ich sehe von der hier irreführenden Verwendung des Begriffspaars a priori/a posteriori ab. Der hier sog. Indizienbeweis ist, denkt man die Sichtweise des Verf. zu Ende, eigentlich überflüssig. Der Rezensent versteht den Befund anders: Es geht Grotius um eine Darstellung des geltenden Rechts, das mit den Rechtsquellen seiner Zeit gegeben ist, und dieses Recht wird mit Hilfe des ausgefeilten Systems, das naturrechtlich begründet sein will, nicht verändert – dazu fehlt dem Juristen die Zuständigkeit –, sondern geordnet und, wenn man so will, rational nachvollziehbar gemacht. Damit hat das, was Verf. etwas abwertend als Indizienbeweis bezeichnet, eine ganz andere, durchaus wesentliche, ja unverzichtbare Funktion, indem der Leser erfährt, dass die deduzierte Rechtsregel eine solche des geltenden Rechts ist. Die Rechtsregel gilt nicht schon, weil sie sich aus dem Naturrechtssystem ableiten lässt. Der Naturrechtsdenker ist kein Rechtssetzer, und er wollte es nicht sein. Bei Grotius und anderen ist das Naturrecht nicht eine Gegenrechtsordnung, die das geltenden Recht der Zeit konkurrenziert, sondern eine «natürliche» Ordnung, auf die das geltende Recht umgelegt wird. Die Inbezugsetzung des naturrechtlichen Systems zum geltenden Recht, und d.h. vor allem zum rezipierten römischen Recht, erscheint in der Sicht des Verf. zu leicht als störendes Beiwerk, wo man sie doch als Hauptziel der Darstellung ansehen möchte. Die Innominatkontrakte, die Grotius getreu mit dem Erfordernis der Vorleistung fortführt, können als Beispiel dienen.

4Verf. scheint etwas verwundert, dass Grotius’ Systembemühen wesentlich durch den Wunsch bestimmt ist, die verborum obligatio als einseitige Verbindlichkeit zu integrieren; die Austauschgerechtigkeit versagt ja für diese Obligation. Die stipulatio ist aber nun einmal ein aus dem Bestand römischer Verträge nicht wegzudenkendes Element und ein Naturrechtssystem, in dem sich das geltende Recht widerspiegelt, kann die stipulatio nicht einfach aussen vor lassen. Die Vorstellung, mit dem Vertrag erhalte der Versprechensempfänger eine eigentumsähnliche Rechtshoheit über das Handeln des Versprechenden, und dies im Wege eines «Übertragungsgeschäfts», ist, wie Verf. sehr schön zeigt, gerade entwickelt als Antwort auf die Herausforderung, ein allgemeingültiges, damit auch die stipulatio integrierendes Vertragskonzept anzubieten. Verf. zeigt weiterhin, wie Grotius die Unklagbarkeit der nuda pacta in seinem System rechtfertigt, wo doch an sich auch solche pacta zu einer Obligation führen müssten. Auch hierin zeigt sich m.E., dass es Grotius darum geht, das vorgefundene Recht in ein geschlossenes, naturrechtlich begründetes System zu überführen.

5Dem Verf. erscheint es bemerkenswert, dass Grotius in dem, was er als «Indizienbeweis» bezeichnet, den Blick auf einen grösseren Quellenbestand ausweitet und insbesondere diverse Autoren der Antike einbezieht. Grotius steht in der humanistischen Tradition und folgt insoweit nur dem Stil der Zeit. Der humanistische Einschlag von Grotius’ Schriften kommt beim Verf. vielleicht etwas zu kurz.

6Verf. setzt sich mit dem bereits überbordenden Schrifttum umfassend und ausführlich auseinander. Er hätte mit Gewinn vielleicht auch eine gleichsam parallel geführte Untersuchung für das Deliktsrecht bei Grotius verwenden können.1 Für das Vertragsrecht bei Grotius bietet das hier angezeigte Werk einen Bezugspunkt, an dem die weitere Forschung nicht wird vorbei gehen können.

Rezension vom 7. August 2023
© 2023 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
7. August 2023

DOI: https://doi.org/10.26032/fhi-2023-003

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Wolfgang Ernst, Klaus Kowalski, Das Vertragsverständnis des Hugo Grotius (7. August 2023), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2023-08-ernst/