Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Dario Binotto

Susanne Lepsius (Hg.), Juristische Glossierungstechniken als Mittel rechtswissenschaftlicher Rationalisierungen. Erfahrungen aus dem europäischen Mittelalter – vor und neben den großen ‹Glossae ordinariae› Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. Münchner Universitätsschriften. Juristische Fakultät Bd. 103, München: Erich Schmidt Verlag, 2022, ISBN 978-3-503-20934-7.

1Der zu besprechende Band präsentiert die Resultate einer Tagung, die im Oktober 2017 in München stattfand, und versammelt Beiträge in deutscher, italienischer und englischer Sprache. Die Ziele des Unterfangens formuliert die Herausgeberin, Susanne Lepsius, in der Einleitung (S. 1–11): «Unmittelbarer Anlass war das Bedürfnis, die eigenen Erfahrungen bei der Edition des ältesten Glossenapparats zu den Konstitutionen von Melfi … zu diskutieren» (S. 1), und dabei über die Glossae ordinariae des Corpus iuris civilis respektive des Corpus iuris canonici, die «in den Meistererzählungen der Rechtsgeschichte … gleichsam als Fixsterne rationaler Rechtswissenschaft» (S. 3) erschienen, hinauszudenken. Daher verfolgten Tagung und Tagungsband das Ziel «außerhalb von Bologna anzutreffende juristische Glossen in ihrem lokalen Rechtsumfeld [zu] kontextualisieren und Anregungen [zu] bieten, diese Phänomene mit früheren Formen von Glossenapparaten zum römischen bzw. kanonischen Recht, die ebenfalls nicht zu Standardglossen wurden, zu vergleichen» (wobei das kanonische Recht leider nicht in einem eigenen Beitrag mitberücksichtigt werden konnte, vgl. hierzu S. 5). Im Anschluss an diese Zielsetzung wird die Gliederung des Bandes erläutert: Eine erste Sektion widmet sich der legistischen Rechtswissenschaft in Bologna, eine zweite dem «neuen» damals geltenden Recht, eine dritte der sizilianischen Gesetzgebung im Besonderen, worauf schließlich ein vierter und letzter Teil zu «Forschungs- und Editionsfragen» folgt. Abgeschlossen wird die Einleitung durch Leitfragen, die für die Konferenz formuliert wurden und die zu einer tiefen Durchdringung juristischer Kommentare in kodikologischer, rechtsdogmatischer und editionskritischer Hinsicht anregen.

2 Der erste Beitrag des Bandes stammt von Sara Menzinger (‹Interazione tra testo e ‹citazione› nella dottrina giuridica civilistica: secoli XII e XIII›, S. 15–26; eine englische Übersetzung ist in leicht modifizierter Fassung an anderer Stelle verfügbar1) und widmet sich den Allegationen, also den im 12. Jahrhundert aufgekommenen, für die mittelalterliche juristische Kommentarliteratur typischen Querverweisen auf normative Texte. Dabei beschäftigt sich M. insbesondere mit der Frage, wie diese in modernen Editionen dargestellt werden sollten: Während Hermann Kantorowicz und vor allem Stephan Kuttner sich für eine Wiedergabe dieser Verweise im apparatus fontium aussprachen, vertritt M. die Ansicht, dass die Referenz (unter Angabe der heute geläufigen Kapitelangaben) in Klammern hinter der in der Hs. überlieferten Form angegeben werden sollte. Folgerichtig findet sich dies so auch in der Edition der von M. und Emanuele Conte edierten Summa triumlibrorum des Rolandus von Lucca (Rom, 2012). Den Paradigmenwechsel begründet M. dadurch, dass der Leser der Edition auf diese Weise den gleichen gedanklichen Prozess durchlaufe wie der mittelalterliche Jurist, der die Referenzstellen in der Regel auswendig kannte und ihren Wortlaut im Gedächtnis hatte. Für digitale Editionen schlägt sie daher vor, dass Allegationen mit der rekurrierten Passage verlinkt werden sollen, damit beides parallel gelesen werden könne.

3Luca Loschiavo (‹I glossatori di fronte alle Novelle di Giustiniano›, S. 27–46) widmet seinen Beitrag der Auseinandersetzung der bolognesischen Glossatoren mit den Justinianischen Novellen. Im 12. Jahrhundert kannte man diese aus zweierlei Überlieferungstraditionen, nämlich in Form der Epitome Iuliani (einer Sammlung von 122 Novellen in für den Schulunterricht vorgesehenen Paraphrasen, verfasst durch den Rechtslehrer Julian, 6. Jh.) und in Form des Authenticum (einer Sammlung von 134 Novellen, tlw. im Original lateinisch, meist aber als eine Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem Griechischen, sog. κατὰ πόδα). L.s Interesse gilt nun dem «Authenticum ‹bolognese›» (S. 32), d. h. jener Auswahl von Novellen, die die Glossatoren von Bologna den beiden älteren Sammlungen entnahmen und dessen endgültige Form erst mit der accursischen Glossa ordinaria kanonisiert worden sei. Seine Untersuchung beginnt er mit einer Gegenüberstellung zweier mit der Sigle des Irnerius versehener Glossen, die den Anschein erwecken können, dass Irnerius seine Skepsis gegenüber der auctoritas Justinians, die hinter dem Authenticum stehe, im Laufe seiner Lehrtätigkeit revidiert hatte. Sodann stellt L. dem Irnerius zugeschriebene Glossen zum Authenticum den authenticae (d. h. Einschüben in den Codex Justinianus) gegenüber. Anhand einer Synopse zeigt er die weitgehend wörtliche Entsprechung der Glosse zur Nov. 1.1 mit der authentica post C. 6.42.31 und zieht daraus Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Glossatoren. Insbesondere weist er darauf hin, dass die schwer verständliche Wort-für-Wort-Übersetzung der ausschlaggebende Grund für eine Glossierung (namentlich für die Hinzufügung von Rubriken aus den Epitome Iuliani) gewesen sein mag. Diese Tätigkeiten seien auch unter den Nachfolgern des Irnerius fortgesetzt worden. So sei das Corpus der Novellae ab der Mitte des 12. Jahrhunderts für den Unterricht erstellt, gegliedert, kommentiert – und schließlich in der Fassung des Accursius kanonisiert worden.

4Tammo Wallinga (‹Die Lectura Institutionum des Johannes Bassianus – ein Editionsprojekt›, S. 47–61) informiert in seinem Beitrag über den Stand der Editionsarbeiten der Johannes Bassianus zugeschriebenen Lectura Institutionum. Nach einer Einführung zu den Glossatoren von Bologna im Allgemeinen und zu Johannes Bassianus im Besonderen führt W. in den Forschungsstand der Lectura Institutionum ein, die als Mitschrift (reportatio) die Vorlesung des besagten Magisters teils paraphrasiere, teils auf den Wortlaut genau wiedergebe. Daraufhin beschreibt W. die unterschiedlichen Textzeugen (insgesamt vier Hss. und vier Fragmente) und teilt insbesondere den Neufund in Admont, Stiftsbibliothek, Ms. 88, fol. 62ra–95rb mit. Dabei handle es sich, was die Leserlichkeit und die Qualität des Textes anbelange, um die beste Handschrift. In die anschließenden «Kostprobe» der Edition konnte der erst kürzlich aufgefundene Textzeuge allerdings nicht mehr eingearbeitet werden – man darf also gespannt sein, wie sehr diese Entdeckung die Editionsweise und die Textkonstitution beeinflussen wird. Zuletzt wird die im abgedruckten Auszug über die Entstehung von Obligationen (Inst. 3.27) geäußerte Lehrmeinung besprochen, dass es fünf Entstehungsgründe für dieselben gebe. Da diese von späteren Glossatoren nicht Johannes Bassianus sondern dem früher wirkenden Hugo de Porta Ravennate zugeschrieben wurden, stellt W. die Frage in den Raum, ob vielleicht – etwa durch Glossen – Lehrmeinungen in den Kommentar aufgenommen worden seien, die nicht von Johannes Bassianus selbst stammten.

5Magnus Ryan (‹Lombardist Glosses on Feudal Custom: Text, Gloss and Usus Feudi›, S. 65–79) widmet sich der Glossierung der Lombarda, der am Ende des 11. Jahrhunderts entstandenen Sammlung langobardischen Rechts, und den Einflüssen der Kommentatoren derselben auf die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen Libri feudorum, jener Zusammenstellung verschiedenster Traktate zum lombardischen Lehensrecht, die später auch im Unterricht der Legisten kommentiert wurde. Gegenstand von R.s Untersuchung waren 18 Lombardahandschriften und die sich darin findenden Glossen mit Äußerungen zum Lehensrecht (usus feudi). Die Entstehungszeit dieser Glossen schätzt R. in etwa auf die Zeit um 1150. Inhaltlich behandeln sie ähnliche Probleme und Lösungen, wie sie fast zeitgleich in den ältesten Fassungen der Libri feudorum formuliert wurden. Anhand dieser Glossen sowie gestützt auf die Akten zweier Gerichtsprozesse von 1138 und 1147 zeigt er weiter, dass für die damaligen Juristen nicht nur die Distinktion von langobardischem Recht und lehensrechtlicher Gewohnheit existierte, sondern auch dass das Bedürfnis bestand, die Praxis des feudalrechtlichen Gewohnheitsrechts zu erlernen. Aus diesem Interesse heraus, so R., seien schließlich die Libri feudorum entstanden.

6Bernd Kannowski (‹Der Sachsenspiegel als Glosse? Über die Rechtsquellenlehre des Johann von Buch anhand erbrechtlicher Beispiele›, S. 81–99) versucht in seinem Beitrag neue Facetten der Glosse des Johann von Buch (zwischen 1325 und 1333) zum rund hundert Jahre älteren Sachsenspiegel herauszuarbeiten. Der Aufsatz dreht sich um eine kurze, wenn auch für das Verständnis der Buch’schen Glosse zentrale Passage (abgedruckt auf S. 96–98, Mittel- und Neuhochdeutsch): Doch wete, dat dat en boze glose is, die den text confunderet (Ssp. Ldr. I 18, Übersetzung nach K.: «Doch wisse, dass das eine böse Glosse ist, die den Text verwirrt.»). K. schildert die lange zurückreichende Forschungsgeschichte zur Deutung dieser Passage: Anfang des 20. Jhs. nahm man sie als Beleg für die These, dass die Buch’sche Glosse in Tat und Wahrheit aus mehreren Glossenschichten bestünde und von unterschiedlichen Autoren stamme. Dagegen deutete K. selbst sie in seiner Habilitationsschrift als rhetorisches Stilmittel. Gesine Güldemund schließlich kam zu dem Schluss, dass damit der kommentierte Text gemeint sei und dass sich Johann von Buch die fragliche Passage zum Erbrecht aufgrund des Inhalts und vor dem Hintergrund seiner vermeintlichen Entstehungsgeschichte (für ihn war der Sachsenspiegel ein Privileg Karls des Großen, das vor langer Zeit durch Eike von Repgow übersetzt worden war) lediglich als fremden Einschub erklären konnte. K. möchte diese These nicht völlig ablehnen, schließt seine Ausführungen aber damit, dass sie «unwahrscheinlich» sei, weil es sich hier um die einzige Stelle in der Buch’schen Glosse handele, in dem von einem späteren Einschub ausgegangen wird. Dem sei hinzuzufügt, dass die These eines vermeintlichen ‹Einschubs› und die Bezeichnung eines solchen als ‹Glosse› durchaus im Rahmen der lateinischen Semantik liegt (vgl. Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. IV.1, Sp. 744, ‹glossula›, Abs. 3) und dass das Phänomen derartiger Einschübe in den Texten des gelehrten Rechts allgemein bekannt war (vgl. die paleae des Decretum Gratiani oder die authenticae im Codex). Außerdem könnte das deutsche Verb confunderet in der hier diskutierten Glosse in Anlehnung an das lateinische ‹confundere› anstatt als ‹verwirren› auch als ‹hinzufügen› im Sinne von kontaminieren ins Neudeutsche übersetzt werden. Vor diesem Hintergrund scheint die güldemundsche Lesung durchaus naheliegend.

7Lorenzo Tanzini (‹Glosse statutarie nelle città comunali e nelle città meridionali: un confronto›, S. 101–120) vergleicht die Kommentierung des ius proprium der Städte im Königreich Sizilien mit jener der Kommunen in Nord- und Mittelitalien. Ein grundlegender Unterschied finde sich angesichts der unterschiedlichen Regierungsformen in der Gesetzgebung: Die Grundlage des jeweiligen städtischen Rechtes bildeten im Süden wie im Norden Kompilationen von consuetudines, zu denen allerdings in Norditalien ab dem 13. Jahrhundert eine eigenständige Setzung positiven Rechts, die städtischen Statuten, hinzutraten. In beiden Sphären lag der Schwerpunkt der Kommentierung auf den consuetudines und ging bemerkenswerterweise auch im Norden lange Zeit nicht auf die Statuten über. Um eine frühe Ausnahme handle es sich bei der Kommentierung der Statuten von Florenz, die bereits im 14. Jahrhundert einsetzte. Im 15. und vor allem 16. Jahrhundert schließlich folgten dann auch vermehrt Kommentare zu den Statuten anderer mittel- und norditalienischer Kommunen.

8Im Anschluss daran widmet sich Mario Ascheri (‹Lo statuto del Comune di Siena in età moderna. Il ms. XVI-A 219 del Circolo giuridico e la sua glossa impossibile›, S. 121–139) der Frage, weshalb die letzten Statuten Sienas, in Kraft getreten am 1. Januar 1545, im Unterschied zu jenen anderer italienischer Städte weder jemals in den Druck gelangten noch durch eine Glosse kommentiert wurden. Die Antwort findet er in den besonderen politischen Umständen der einstigen Stadtrepublik: Rund ein Jahrzehnt nach dem Erlass der Statuten wurde das Gebiet Sienas dem Herzogtum Florenz einverleibt, doch wurde den Sienesen damals zugestanden, dass ihre Statuten weiterhin Geltung behalten sollten. Infolgedessen hielt man bis in die Neuzeit hinein an denselben fest: Zwar wurden sie laufend modifiziert, als identitätsstiftendendes Element der Stadt jedoch nie völlig revidiert. Die Glossierung in den Handschriften bestehe dementsprechend vor allem aus Querverweisen auf einzelne Novellierungen. Alternativ seien Zusätze auch in den Haupttext aufgenommen worden, was anhand der Untersuchung einer Hs. des späten 18. Jhs. (Siena, Biblioteca del Circolo Giuridico dell’Università di Siena, Ms. XVI-A 219) exemplarisch dargelegt wird. In dieser fortwährenden Modifizierung dürfe schließlich wohl auch der Hauptgrund dafür liegen, weshalb es nie zu einer Drucklegung des Textes kam.

9Der Beitrag von Horst Enzensberger (‹Kommentare im Namen des Königs? – Gesetzespublikationen in Urkundenform unter König Wilhelm II. von Sizilien›, S. 143–164) ist der erste von drei Artikeln, die der Gesetzgebung im Königreich Sizilien gewidmet sind. Dabei Untersucht E. die in Urkunden greifbare Rechtssetzung durch die Könige von Sizilien, denn derartige Dokumente bildeten die Grundlage für Gesetzessammlungen wie den Liber Augustalis Friedrichs II. Erstmals lässt sich eine derartige Urkunde in der Regierungszeit Rogers II. im Jahr 1150 greifen. Vor allem aber geht es E. um die Regierungszeiten Wilhelms I. († 1166) und Wilhelms II. († 1189), denn die einzelnen Textzeugen des Liber Augustalis sind sich in der Zuschreibung der Gesetze an diese Herrscher teils uneins. Urkunden Wilhelms I., die später in die Gesetzessammlungen eingingen, lassen sich nicht finden, allerdings kann auf zahlreiche Regelungen verwiesen werden, die in der Sache bereits den späteren Konstitutionen entsprechen. Gesetzeserlasse Wilhelms II. hingegen sind teils in den Originalurkunden auf uns gekommen. E. untersucht detailliert Wirkungsdauer der Gesetzgebung von ihrer erstmaligen Nachweisbarkeit in Urkunden bis hin zur Gesetzessammlung Friedrichs II. Abgeschlossen wird der Artikel durch die Edition zweier Mandate Wilhelms II.

10Susanne Lepsius (‹Systematisieren und Glossieren. Bestimmungen zu Richtern und Gerichtsverfahren in den Konstitutionen von Melfi und ihre Bearbeitung im ältesten Glossenapparat zum Liber Augustalis›, S. 165–216) stellt erste Erkenntnisse aus den Editionsarbeiten zu den Glossen der Hs. Città del Vaticano, BAV, Vat. lat. 6770 zum Liber Augustalis vor (als Apparatus vetus bezeichnet), wobei vorliegend die Kommentierung über das Verfahrensrecht und über Bestimmungen zum Richteramt exemplarisch untersucht wurden. Insgesamt zeigen die von L. aufgeführten Befunde, dass Text und Glossierung von einer frühen Phase der Textkonsolidierung zeugen. Die untersuchte Handschrift ist, wie L. darlegt, sowohl hinsichtlich des Gesetzestextes wie auch des Apparats bemerkenswert, doch gestaltet sich eine Deutung der Befunde komplex, denn es scheint sich dabei um einen Textzeugen zu handeln, der aus mindestens zwei Vorlagen abgeschrieben wurde (S. 181), respektive dessen Glossen in der Vorlage in mehreren Schichten angelegt wurden (S. 182). Der Gesetzestext selbst enthält sowohl Textpassagen, die in anderen Textzeugen gänzlich fehlen (u. a. um die Abfassungszeit novellierte Bestimmungen), sowie auch tituli, die stark von jenen der restlichen Überlieferung abweichen (ausführlich wiedergegeben in der Appendix auf S. 199–216). Auch die Glossen weisen zahlreiche Besonderheiten auf: So verweisen etwa deren Allegationen auf andere tituli, als sie sich im textus dieser Handschrift finden, bezeichnen mehrere der jüngeren Gesetze als Novellen, werden durch anderswo nicht vorhandene Siglen einem Autoren zugewiesen (sie stammten meist von Andreas Bonellus de Barulo sowie von Guisandus de Ruvo) und finden sich in den übrigen Textzeugen oft in einer abweichenden Redaktion.

11Die spätere Glossierung des Liber Augustalis steht im Fokus des Beitrags von Beatrice Paciuta (‹Tra diritto e politica: Andrea da Isernia e la Lectura al Liber Augustalis›, S. 217–234). Dieser bietet eingangs eine Übersicht über die spätere Kommentierung des Gesetzeswerkes, welches in Süditalien noch bis 1819 geltendes Recht darstellte. Im Besonderen jedoch geht P. der Frage nach, wie die Kommentierung späterer Jahre novellierten und derogierten Gesetzen und sich wandelnden politischen Umständen Rechnung trägt. Untersucht wird dies insbesondere am Beispiel des Apparats des Andrea von Isernia († 1316): P. zeigt, wie dieser in seinen Glossen nicht nur den Wandel in der Gerichtspraxis erläuterte, sondern auch wie er sich insbesondere in seinem Prolog programmatisch der neuen angevinischen Herrschaft angepasst habe, namentlich in puncto der im Vergleich zu Friedrich II. weitaus papstfreundlicheren Politik.

12Ein für den Band wichtiger Beitrag wurde durch Gero Dolezalek beigesteuert (‹Die Literaturgattung ‚Apparatus glossarum‘ in der juristischen Literatur des Mittelalters›, S. 237–265), denn hier wird ein Überblick über alle Arten juristischer Glossierung im weitesten Sinne geboten, und zwar von der Frühzeit bis ca. zum 14. Jahrhundert: Der Fokus der Ausführungen liegt dabei auf der Glossierung und Kommentierung römischrechtlicher Texte, wobei D. auch die Entwicklungen in der Kanonistik stets mitberücksichtigt, ferner die Kommentare zu den Schriften der Prozessualisten sowie des weltlichen Rechts beachtet und gar das bisher kaum bearbeitete Feld der Kommentierung der Kommentare behandelt. D. schildert die allmähliche Verdichtung und Vereinheitlichung der Apparate von den ersten vereinzelten Glossen bis hin zu den standardisierten Apparaten der Zeit des Peciensystems, während er daneben auch die Entwicklung von Abbreviationen, Summen, Lemmakommentaren und vor allem auch deren Glossierung behandelt. Dabei werden von D. immer wieder neue Erkenntnisse aufgeführt, wie etwa Überlegungen zur Entstehung der Sigle des Irnerius (nämlich aus seinem in Urkunden verwendeten Subskriptionszeichen) oder zur Datierung und Lokalisierung von Handschriften anhand der Verweiszeichen respektive der Lemmatisierungstechnik. Der Beitrag ist auch in engl. Sprache verfügbar (in: Rivista internazionale di diritto comune 32 [2021], S. 9–54).

13Michele Spadaccini (‹L’edizione di glosse tra discipline umanistiche e tecnologie informatiche›, S. 267–286) führt in die Grundlagen der digitalen Edition des Liber Augustalis ein, die mithilfe von XML-TEI und dem Oxygen XML Editor umgesetzt wurde. Die Edition wird aus drei Textebenen bestehen, dem Gesetzestext, dem Glossenapparat sowie den im Glossenapparat verwendeten Quellen. Des Weiteren sollen – neben den üblichen textkritischen Hinweisen – insbesondere die Verweiszeichen zwischen Text und Glosse sowie die Autorensiglen besonders dargestellt werden. Das Vorhaben wird durch elf Abbildungen plastisch verdeutlicht.

14Abgeschlossen wird der Band durch die Ausführungen von Emanuele Conte (‹The centre and the margins of the jungle of glossed manuscripts›, S. 287–301). Hier werden nicht nur die vorangegangenen Aufsätze erneut aufgegriffen, miteinander verbunden und in einen größeren Kontext gesetzt, sondern auch neue Perspektiven gebildet.

15Willkommenes Hilfsmittel zur Erschließung des Inhalts bilden die Register zu Handschriften, Quellen, Personen, Orten und Sachen, sowie die englischsprachigen Abstracts, die sich jeweils nach italienischen und deutschen Beiträgen finden.

16Misst man den Tagungsband an den eingangs gesteckten Zielen, so dürfen diese als erreicht gelten. Der Herausgeberin ist es gelungen, eine ganze Reihe fundierter Beiträge hochkarätiger Gelehrter zur juristischen Glossierung zu versammeln, die außerhalb des an den Universitäten gelehrten Rechts stehen, wodurch diese erfolgreich in den Mittelpunkt gerückt werden konnten. Ferner ist es durch den thematischen Schwerpunkt der verschiedenen Beiträge – meist wird die italienische Halbinsel zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert behandelt – gelungen, das Editionsvorhaben um den Apparatus vetus des Liber Augustalis hervorragend zu kontextualisieren. Bei all diesen Vorzügen erscheint es etwas unglücklich, dass der Titel wie auch der Klappentext des Buches über dessen eigentlichen Inhalt und Ziele hinaus formuliert wurden (die Rede ist dort etwa vom «europäischen Mittelalter», was an das gesamte lateinische Europa von 500–1500 denken lässt, oder von den «Glossae ordinariae», was eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kommentaren zum Corpus iuris canonici impliziert). Dies dürfte bei manchen Leserinnen und Lesern falsche Erwartungen wecken. Insgesamt jedoch bleibt der Eindruck einer bereichernden Tour d’Horizon durch die laufende Forschung zu den juristischen Glossen des weltlichen Rechts im 12. und 13. Jahrhundert.

Rezension vom 15. Juli 2025
© 2025 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
15. Juli 2025

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Dario Binotto, Susanne Lepsius (Hg.), Juristische Glossierungstechniken als Mittel rechtswissenschaftlicher Rationalisierungen. Erfahrungen aus dem europäischen Mittelalter – vor und neben den großen ‹Glossae ordinariae› (15. Juli 2025), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2025-06-binotto/