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Zeitschrift Rezensionen

Rezensiert von: Giulio Francesco Biaggini*

Marietta Auer, Recht harmonisch. Musikalisches Ordnungsdenken in Recht und Staat seit der Antike. Berlin: Duncker & Humblot 2025 (=Lectiones Inaugurales 21), 219 p., ISBN 978-3-428-19076-8 (Print), ISBN 978-3-428-59076-6 (E-Book)

1.

1Marietta Auers jüngst erschienene Monographie – eine wesentlich erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung der Autorin – setzt sich zum Ziel, in drei «aufeinander aufbauende[n]» Teilen die «Ordnungsregister der Musik und des Rechts zusammenzudenken» (S. 24). In den drei Teilen ihres Buches untersucht die Autorin: 1) die Ordnungsstrukturen von Regel, Form und System in Recht und Musik; 2) die kategorischen Berührungspunkte von Recht und Musik wie etwa Interpretation und Proportion, wobei 3) letzteres im Sinne einer ideengeschichtlichen Skizze eines «harmonische[n] Weltgesetz[es] im Staat» (S. 99) schliesslich schwerpunktmässig anhand von Beispielen von Jean Bodin, Johannes Kepler und Athanasius Kircher exemplifiziert wird. Abschliessend weist die Autorin auf die bis in die Gegenwart bestehende «Utopie einer gerechten Gesellschaft auf der Grundlage zahlhafter Gesetze harmonischer Ordnung» (S. 176) hin.

2.

2Mit dem musikalischen Sinnbild der Ouvertüre führt die Autorin anhand der Erzählung des Traumes Scipios von Cicero in das «Verhältnis von kosmischer Harmonie, Staatskunst und Musik» (S.13) ein. Die Autorin zieht in Hinblick auf das «musikalisch-harmonische Motiv gottgefälliger Ordnung in Staat und Recht» (S. 22) eine Definition der Musik heran, welche die Tonkunst «auf pythagoreischer Grundlage» als «Zahlenverhältnisse» definiert (S. 20f.). So deutlich, wie Marietta Auer ihr Forschungsvorhaben umreisst, benennt sie auch, welche «Sichtweisen […] im Folgenden ausgespart bleiben»: diese betreffen «Law in Music» (S. 29) – also die Bezugnahmen auf Recht und Gerechtigkeit in musikalischen Werken – sowie «Musikerjuristen» (S. 30f.) und ihr Leben und Wirken. Ferner beabsichtigt die Autorin, es zu vermeiden, «in einem bestimmten Modus über Strukturanalogien zwischen Recht und Musik zu sprechen, der bei aller Bildgewaltigkeit letztlich nicht über das rein Metaphorische hinausgelangt» (S. 33).

3Im ersten Teil des Buches beschreibt die Autorin das Recht und die Musik aus der Perspektive ihrer jeweiligen Ordnungsstrukturen. Vor dem Hintergrund der modernen Rechtstheorie betrachtet Marietta Auer die Regelordnung des Rechts (S. 40ff.) als «Lied vom Gesetz» (S. 46). Rechtliche Struktur, Form und Formalismus (S. 48: «Recht […] qua Recht») werden mit einem «Ausflug in musikalische Parallelwelten» (S. 49) kontrastiert: «Musik zu verstehen bedeutet, ihre Form als Form zu verstehen» (S. 50). Mit dem Blick auf die Systematizität des Rechts in der Gegenwart konstatiert die Autorin, dass «kaum mehr ein Überblick, geschweige denn eine systematische Ordnung möglich ist» (S. 60). Wiederum hilft der Blick auf die Tonkunst: musikalische (Tonarten-)Systeme ordnen das formale Material der Musik und befinden sich damit auf einer «Abstraktionshöhe» (S. 61), welche gemäss der Autorin dem formalen Systemdenken des Rechts zuweilen fehle.

4Im zweiten Teil des Buches beleuchtet Marietta Auer eine Vielzahl «konkrete[r] Berührungspunkte zwischen Recht und Musik» (S. 65), die hier nur exemplarisch hervorgehoben werden können. Die Autorin verortet im Geltungsbereich von «Musik als Sprache» (S. 65) – die nicht im Sinne der «Sprache der Gefühle» (S. 66) verstanden wird – jenseits der Divergenzen in Semiotik und Semantik eine Parallele zum Recht: nämlich, dass beide Disziplinen «interpretationsfähig und interpretationsbedürftig» (S. 69) sind. Die Vergleiche der Funktion einer musikalischen und einer rechtlichen Interpretation führen zu zwei entscheidenden Einsichten: die «Texttreue» (S. 76) – ein klassisches Merkmal musikalischer Interpretation –, lässt sich laut der Autorin auf den Rechtsstaatsgedanken übertragen. Die daraus folgende «Anerkennung der Bindung an den Normtext als Text» sei «förderlicher als die alles überwölbende Teleologik der deutschen Methodendiskussion» (S.76). Ferner erschöpft sich die Interpretationsleistung nicht im Befolgen des Textes; es bleibt «im regelgebundenden und also intelligenten Spiel» eine Entfaltung von Freiheit «in der Bindung» an den (Noten-)Text (S. 77f.) – im Recht wie in der Musik. Sodann wird als «entscheidende Vergleichsebene» von Musik und Recht die Mathematik angeführt: In Rückgriff auf die antiken Konzepte der Musik als «zahlengebundene Ontologie» (S. 83) werden die mathematischen Proportionen der musikalischen Intervalle skizziert, um schliesslich «die Musiktheorie der Antike als Gerechtigkeitsmathematik des frühneuzeitlichen Staates» (S. 95) zu benennen.

5Im dritten Teil des Buches wird das «harmonische Weltgesetz» (S. 99) in den Staatstheorien von Bodin, Kepler und Kircher beleuchtet. Mit Bodins «musikalische[r] Skizze des harmonischen Rechtsstaats» (S. 111), welche in mathematischer Berechnung die aristotelische kommutative und distributive Gerechtigkeit um eine iusticeharmonique vervollständigen will, sei eine «Durchbrechung der aristotelischen Logik» und ihres «Dualismus der Gerechtigkeitsformen» (S. 128) erreicht. Dabei sind die Berechnungen Bodins «nicht wörtlich» (S. 116) aufzufassen, sondern vielmehr auf «einer zweiten Ebene hermeneutisch lesbar» (S. 120). Aus dieser zweiten Ebene wird Bodins Billigkeitsbegriff neu kontextualisiert. An der Schwelle zur Moderne sei bei den beiden anderen im dritten Teil der Monographie besprochenen Autoren – Kepler und Kircher – ein nunmehr gewandeltes Verhältnis zu Zahlen, Musik und Recht festzustellen. Marietta Auers «kabbalistisch[e] […] Lektüre» (S. 130) Bodins steht der bei Kepler verortete «modern[e] Szientismus» (S. 154) und eine antiegalitäre Staatsharmonie Kirchers ohne Rückkehr zu den «hermeneutischen Anschlussmöglichkeiten des alten Denkens» (S. 154) gegenüber.

6Die ‘Coda’ macht deutlich, dass die «hermeneutische Linie des Zahlengebrauchs» (S. 158) bis heute nachwirkt. Die Autorin führt dazu Robert Alexys Gewichtsformel an, die «modernes Naturrecht auf der Grundlage szientifisch-hermeneutischer Zahlenbilder» (S. 175) modelliere. Im Ausklang des Buches hält Marietta Auer apodiktisch fest: «Es gibt zwar bei Tag besehen kein harmonisches Gesetz», aber «bei Nacht, nebenbei, neben der rechtlichen Regel, Form und Systematik, machen wir uns selbst die harmonischen, zahlhaften, szientifischen, hermeneutischen, kabbalistischen Gesetze» (S. 177).

3.

7Mit ihrer Monographie hat die Autorin das Denken in und über Kategorien von Recht und Musik grundlegend geschärft. Die Musikforschung tut sich seit jeher schwer, ihren eigenen Gegenstand zu definieren; die Frage «Was ist Musik?» endet bei antiken wie modernen Autoren nicht selten in einer Aporie.2 Aus juristischer Anschauung wurde die Musik in ihren «vielen Erscheinungsformen» von Peter Häberle treffend dahin gehend erfasst, dass sie «viele Tätigkeiten und Vorgänge, von einzelnen Menschen und ihre Vergesellschaftungsformen mit prägen kann».3 Letztlich bleibt die Musik aber auch bei Häberle als «Kombination von Gegensätzlichem» begrifflich nicht fassbar.4 Aus einer Vielzahl neben- und übereinander lagernder Musikbegriffe legt Marietta Auer in ihrer Monographie nun überzeugend mit Rückgriff auf historische Definitionen den Fokus auf ein dezidiert pythagoräisches Verständnis der Musik als «harmonische[s] Zahlenverhältni[s]» (S. 20). Die auf diesem Musikverständnis basierenden Ausführungen der Autorin zu den harmonischen Staatstheorien verdeutlichen, dass im Spannungsfeld von Staat, Recht und Gesellschaft die Ordnungssysteme der Musik zu deren Schmelztiegel und Prüfstein zugleich werden. Dies nicht, weil die Sphärenharmonien von sich aus ‘klingen’ – oder vielmehr: existieren – würden, sondern weil sie ideengeschichtlich immer wieder zum Erklingen gebracht wurden und werden.5

8Die Ausführungen über die Beziehung von musikalischer und juristischer Interpretation erlaubt eine Unterscheidung des Denkens von Recht als Bezugspunkt in musikalischen Werken – also «Law in Music» (S. 29), welches die Autorin in ihrem Werk folgerichtig nicht behandeln will – und einer eigentlichen Überlagerung juristischer und musikalischer Interpretationsmethoden. Damit ist ein theoretisches Fundament dessen benannt, was etwa Marcel Senn bereits exemplifiziert hat: auch durch die emphatische Anwendung der Methoden juristischer Interpretation lassen sich in Musikwerken – in seinem Beispiel Wagners Nibelungenring – neue Erkenntnisse gewinnen.6

9Die Teilaspekte der Musik jenseits allem Messbaren – die das eigentlich ‘äquivoke’ der Musik (vgl. S. 24) prägen – werden in den Beispielen klingender Musik (darunter Mozarts Il sogno di Scipione und Beethovens Grosse Fuge) von Marietta Auer sorgfältig austariert und lassen die miteinander verwobenen Disziplinen des Rechts und der Musik als eigentlich unentwirrbar erscheinen. Womöglich handelt es sich dabei – so die Meinung des Rezensenten – um ein nachdrücklich kulturelles Phänomen, das den kontinentaleuropäischen Rechts- und Musikkreisen und ihrer gemeinsamen Entwicklung an den Universitäten verhaftet ist. Hinweise dazu lassen sich – was in dieser Rezension nur angedacht werden kann – namentlich in der Trecentomusik finden. Die Entwicklung dieser frühen Schicht notierter weltlicher Musik ist untrennbar mit den italienischen Universitäten des 14. Jahrhunderts verbunden.7 Noch bevor an diesen Universitäten ein Rechtsstudium aufgenommen werden konnte, musste im Rahmen der Grundlagenausbildung der artes liberales das Fach Musik – notabene ein Teil des Quadriviums, also der Zahlenfächer – studiert werden.8 Wer das rechtliche Ordnungssystem kennenlernte, war folglich bereits mit einem musikalischen Ordnungssystem vertraut. Die Nähe der beiden Disziplinen lässt sich anekdotisch anhand eines Quellenfunds verdeutlichen: Eine Bologneser Abschrift von Accursius’ Glossa ordinaria beinhaltet Miniaturen mit namentlich ausgewiesenen Trecento-Komponisten.9

10Mit dem allmählich schwindenden Einfluss der artes liberales im akademischen Curriculum seit dem Ende des Trecento – gewissermassen einem Ausgangspunkt und Symptom eines proto-humanistischen Weltbildes – wird das Ordnungsdenken in der Musik des florentinischen Organisten Francesco Landini einer stilisierten Belastungsprobe unterzogen. Wenige Jahrzehnte, nachdem in Siena Ambrogio Lorenzetti mit der bildlichen Darstellung des Tanzes die Musik als Allegorie der effetti delbuongoverno verewigt, bricht Landini beinahe propädeutisch mit dem bestehenden Ordnungsdenken.10 In seinem Vokalwerk «Sy dolce non sono» – einem Stück, das mit dem Sinnbild des Amphion in Theben von der (Herrschafts-)Macht der Musik handelt – werden die unterschiedlichen Gattungskonventionen der Zeit derart gegenläufig überlagert, dass Landini mit Musik qua Musik die Einheit mit der Vielheit verschränkt und somit zu einer ordnungsstrukturellen Erkenntnis gelangt, welcher sich der in der Monographie zitierte Cusanus (vgl. S. 125) einige Jahrzehnte später aus weit theoretischerem Blickfeld nähert.11 Das Ordnungsdenken in und über Kategorien von Musik und Recht – seien diese parallel, schneidend oder womöglich zuweilen windschief angelegt, um im geometrischen Sinnbild zu bleiben – scheint damit jenseits des Zahlenverständnisses der Musik als wandelbarer Ausdruck der Lebenswirklichkeit der unterschiedlichen Autoren und ihrer (musik-)kulturellen Kontexte verwurzelt.

4.

11Das vorliegende Buch über musikalisches Ordnungsdenken in Recht und Staat ist ein wichtiger Beitrag zum interdisziplinären Verständnis von Recht und Musik. Das Verdienst des Buches besteht dabei nicht nur in der emphatischen Zuwendung Marietta Auers zu «dem in seinem Potential noch lange nicht ausgeschöpften Forschungsfeld Law and Music» (S. 26f.); auch liegt es in der Breite und Tiefe der rechts-, musik- und ideengeschichtlichen Kontextualisierungen der besprochenen Theorien und Beispiele. Die von der Autorin angekündigte und vorgenommene «Vermessungsarbeit» (S. 28) für ein Forschungsfeld Law and Music sollte unsere rechtswissenschaftlichen und musikwissenschaftlichen Institute anregen, sich die sprichwörtlichen «tausend zudringliche[n] Fragen» über das Verhältnis von Recht und Musik zu stellen.12 Den mannigfaltigen Beziehungen der beiden verwobenen Disziplinen wurde lange im akademischen Curriculum wenig – zu wenig – Aufmerksamkeit geschenkt. Zu Unrecht, wie die vorliegende Monographie belegt.

Rezension vom 28. November 2025
© 2025 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
28. November 2025

  • Zitiervorschlag Rezensiert von: Giulio Francesco Biaggini, Marietta Auer, Recht harmonisch. Musikalisches Ordnungsdenken in Recht und Staat seit der Antike. Berlin: Duncker & Humblot 2025 (=Lectiones Inaugurales 21), 219 p., ISBN 978-3-428-19076-8 (Print), ISBN 978-3-428-59076-6 (E-Book) (28. November 2025), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net/2025-11-biaggini/