Zeitschrift Debatten Zu Carl Schmitts Geschichtsbild nach dem Zweiten Weltkrieg

Reinhard Mehring

Carl Schmitt und der Antisemitismus. Ein unbekannter Text

Der Antisemitismus ist ein Schlüssel zum Nationalsozialismus. Dass einige nationalsozialistische Intellektuelle ihn nicht nach biologistischem Lehrbuch vertraten, irritiert deshalb auch die Diskussionen. Die Heidegger-Kontroverse fand lange keine starken Belege für Antisemitismus. Erst in unlängst erschienenen Briefen an Ehefrau Elfride1 wird sie fündiger. Carl Schmitt dagegen, oft in einem Atemzug genannt, hatte sich wiederholt als Antisemit exponiert, vor allem durch die Organisation einer Tagung über „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“. Da diese Tagung aber Ende 1936 zeitlich eng mit einer nationalsozialistischen Kampagne gegen Schmitt und seiner weitgehenden Entmachtung als Funktionsträger zusammenfiel, wurde sie – schon in nationalsozialistischen Kreisen – oft als opportunistisches Lippenbekenntnis abgetan und nicht hinreichend beachtet, bis Schmitt 1991 durch die Veröffentlichung des „Glossariums“,2 tagebuchartiger Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1951, auch nach 1945 noch als glühender Antisemit dastand, der kein Wort des Bedauerns über Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung fand. Seitdem ist sein Antisemitismus ein zentrales Thema.3 War er katholisch-christlich oder rassistisch-biologistisch begründet?

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Raphael Gross4 betonte gegen Andreas Koenen5, dass eine „katholische“ Deutung zu kurz greift und Schmitt in einer längeren Tradition antisemitischer Debatten seit dem Vormärz stand. Dirk Blasius6 unterstrich diese Auffassung. Die Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen. Selbst der Tagungsband von 1936 bietet noch Überraschungen. Offenbar wurde er selten gründlich gelesen. Denn er enthält neben der Eröffnungs- und Schlussrede noch einen dritten, unbekannten Beitrag Schmitts: eine zweiseitige „Vorbemerkung“ zum Vortrag von Edgar Tatarin-Tarnheyden, die allerdings namentlich nicht gezeichnet ist. Schmitt eröffnete die Tagung mit der Auslegung von nationalsozialistischen „Leitsätzen“ und beschloss sie mit abenteuerlichen Ausführungen zum „jüdischen Geist“.7 Er leitete aber darüber hinaus noch den staatsrechtlichen Vortrag ein,8 der sein eigenes Fachgebiet betraf. Selbst in der jüngsten, umfangreichen Schmitt-Bibliographie von Alain de Bennoist9 ist diese Vorbemerkung nicht verzeichnet. Die Diskussion beschränkte sich zumeist auf die bekannten Texte Schmitts. Nur Hasso Hofmann10, seit seiner Pionierarbeit von 196411 einer der besten Kenner, unterzog alle veröffentlichten Tagungsbeiträge 1988, noch vor Veröffentlichung des „Glossariums“, einer näheren Analysen. Aber selbst ihm entging Schmitts Autorschaft an der Vorbemerkung. Er erwähnt sie zwar und spricht von einem „etwas schizophrenen, fast von Verfolgungswahn geprägten Bild“12, rechnet sie aber dem Rostocker Referenten Tatarin-Tarnheyden zu. Von dem stammt sie zweifellos nicht.

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Schmitt hatte kein engeres Verhältnis zu Tatarin-Tarnheyden. Es gab auch eine persönliche Verstimmung zwischen beiden. Am 27. Dezember 1934 beschwerte sich Tatarin-Tarnheyden über eine öffentliche akademische „Herabsetzung“13 auf einem Kongress und erwartete Kompensation. Schmitt antwortete sogleich und sprach von einem „Missverständnis“14, versicherte Tatarin-Tarnheyden, er habe „als Spezialkollege das größte Interesse, gerade Ihre [seine, RM] Auffassung zur Geltung kommen zu lassen“. Mag sein, dass der Kongressvortrag von 1936 diese Kompensation war. Beide blieben in Verbindung. Wiederholt lud Tatarin-Tarnheyden Schmitt noch zu Vorträgen nach Rostock ein.15 Beide verband das Interesse an einer „geistesgeschichtlichen“ Erörterung der Fragen.

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Auf der Tagung sprach Tatarin-Tarnheyden über den „Einfluß des Judentums in Staatsrecht und Staatslehre“. Schmitts „Vorbemerkung“ überschneidet sich inhaltlich zwar in manchem mit der Eröffnungs- und Schlussrede. Dennoch ist schon die Tatsache bemerkenswert, dass Schmitt sich auch in dieser Form zu Wort meldete und hinter den Vortrag stellte. Schon die wörtlichen Entsprechungen sind eindeutig. Schmitt spricht wieder von einer jüdischen „Phalanx“ und „Fronten“, vom „Einbruch“ und „Maskenwechsel“. Der Text hat drei Absätze. Der erste fordert dazu auf, die „systematische Unterhöhlung eines gesunden völkisch-deutsche Staatsdenkens“ im „Gesamtzusammenhang mit dem Einbruch des jüdischen Volkes“ zu sehen. Der zweite skizziert diesen „Einbruch“ in seinen geistesgeschichtlichen Konsequenzen seit der Emanzipation. Der dritte lenkt auf das „Beispiel“ des Staatsrechts und der Staatslehre zurück und plädiert für eine stark personalisierende Diskussion. Durch diese Vorbemerkung wird Schmitts Anlehnung an Richard Wagners Broschüre über „Das Judentum in der Musik“ deutlicher. Schmitt verlängert und verbreitert Wagners Thesen, wenn er meint: „Die Totalität des jüdischen Einbruchs erfasste sowohl das literarisch-journalistische Leben (Heine, Börne, Harden usw.), das musikalische Leben (Mendelssohn-Bartholdy, Meyerbeer), die wirtschaftliche Praxis (Rothschild, Bleichröder, Rathenau), die Wirtschaftstheorie (Ricardo, Marx) wie das Recht.“ Er nennt weitere Beispiele für Theologie („Johannes August Neander [David Mendel], Friedrich Adolf Philippi, Ferdinand Hitzig [Itzig]“) und Rechtswissenschaft („Stahl-Jolson, Laband, Kaufmann, Kelsen, Heller“). Er geht also von Wagners Referenzautoren aus und verlängert die Liste bis in die Gegenwart, spitzt seine antisemitische Identifikation auf seine „Politische Theologie“ zu. Fast verwundert es, dass er nicht auch Autoren der „neuen Musik“ nennt. Wie Wagner sieht Schmitt den Einfluss des „Judentums“ negativ. Beide vertreten die paradoxe Ansicht, dass das „Judentum“ zwar kulturell „unproduktiv“, dennoch aber geradezu omnipräsent und allmächtig sei. Wagner begründete diese Auffassung romantisch mit dem mangelnden Verhältnis zur Muttersprache, Schmitt als Jurist mit dem traditionellen Verhältnis zum Gesetz.16 Seine Vorbemerkung setzt einige neue Akzente über die Eröffnungs- und Schlussrede hinaus. Vor allem aber zeigt sie, wie entschlossen sich Schmitt hinter die Vorträge stellte und dass Wagners Grundtext des modernen Antisemitismus ihn anregte. Zwar hatte der Wagner-Liebhaber kein engeres Verhältnis zur „Weltanschauung“ Wagners und des Bayreuther Kreises. Seine konzeptionelle Anlehnung an Wagners musste damals aber auch als leise Distanzierung von einer „katholischen“ Deutung und Bekenntnis zu einem postchristlichen Antisemitismus verstanden werden.

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Fußnoten:

1 Gertrud Heidegger (Hg.), ‚Mein liebes Seelchen!’ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005

2 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsg. Eberhard von Medem, Berlin 1991

3 Dazu vgl. Verf., Carl Schmitts Dämonologie - nach dem Glossarium, in: Rechtstheorie 23 (1992), 258-271; ders., Geist gegen Gesetz. Carl Schmitts Destruktion des positiven Rechtsdenkens, in: Bernd Wacker (Hrsg.), Die eigentlich katholische Verschärfung... Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994, 229-245

4 Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt 2000, 2. Aufl. 2005

5 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt, Darmstadt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen“ des Dritten Reiches 1995

6 Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001

7 Carl Schmitt, Eröffnung und Schlusswort, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft Bd. 1: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, Berlin 1936, S. 14-17 und S. 28-34

8 Carl Schmitt (?), Vorbemerkung, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft Bd. 5: Edgar Tatarin-Tarnheyden, Der Einfluß des Judentums in Staatsrecht und Staatslehre, Berlin 1938, S. 3-4

9 Nicht verzeichnet noch in: Alain de Bennoist (Hg.), Carl Schmitt. Bibliographie seiner Schriften und Korrespondenzen, Berlin 2003

10 Hasso Hofmann, „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“, in: Geschichte und Kultur des Judentums, hrsg. Klaus Wittstadt u. Karlheinz Müller, Würzburg 1988, 223-240

11 Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964, 4. Aufl. Berlin 2002

12 Hasso Hofmann, „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“, in: Geschichte und Kultur des Judentums, hrsg. Klaus Wittstadt u. Karlheinz Müller, Würzburg 1988, 223-240, hier: 235

13 Brief Tatarin-Tarnheydens vom 27.12.1935 an Schmitt (Hauptstaatsarchiv NRW, Nachlass Carl Schmitts, RW 265-15945/1)

14 Brief Schmitts vom 7.1.1935 an Tatarin-Tarnheyden (RW 265-13557/1)

15 Briefe Tatarin-Tarnheydens vom 19.12.1943 und 25.11.1944 an Schmitt (RW 265-15947 und RW 265-15948)

16 Dass der Rekurs auf die religiöse, kulturelle Prägung durch die jüdische Tradition des Gesetzesdenkens damals geläufig war, zeigen schon die eingehenderen „Worte des Gauführers Rechtsanwalt Schroer“ über „Das Verhältnis des Juden zum Gesetz“, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft Bd. 1: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, Berlin 1936, S. 18-22

Beitrag vom 31. März 2006
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ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
31. März 2006