Zeitschrift Debatten "Ein Gespräch mit ..."

Mathias Schmoeckel
David von Mayenburg

Ein Gespräch mit Herrn Professor Dr. Günther Jakobs

Das Gespräch fand am 11.07.2008 im Arbeitszimmer von Mathias Schmoeckel im Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte statt. Am Gespräch nahm noch Dr. David von Mayenburg MA teil. Das Gespräch wurde durch Frau Sylvia Schmidt vom Band niedergeschrieben, der Text anschließend überarbeitet.


Schmoeckel: Lieber Herr Jakobs, vielen Dank dafür, dass Sie für ein Interview zur Verfügung stehen! Lassen Sie mich chronologisch beginnen: Warum haben Sie Rechtswissenschaft gewählt und aus welchen Gründen sind Sie Professor geworden?

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Das hatte unterschiedliche Gründe. Rechtswissenschaft habe ich, wie viele Juristen, per Ausschlussverfahren gewählt. Für mich war wegen des familiären Hintergrunds wichtig, dass es ein Fach war, das man nicht allzu lange studieren musste und das hinterher auch ein Einkommen garantierte. Von der Mathematik wurde mir von allen älteren Herren, die meinten, davon was zu wissen, abgeraten, denn dann bleibe man nur in einer Versicherung auf einem zweitrangigen Posten hängen. Sie rieten mir eher zu Betriebswirtschaft oder Jura. Ein weiteres Fach, das ich gerne studiert hätte, war Maschinenbau (die dafür erforderliche technische Lehre hatte ich bereits absolviert). Ich entschied mich für das wesentlich kürzere Jura-Studium.

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Ich bin bei diesem Studium geblieben, nicht zuletzt dank meiner ausgezeichneten Lehrer. Einige Namen: Hans C. Nipperdey, Bernhard Rehfeld, Richard Lange und Hermann Jahreiss in Köln. Zum dritten Semester wechselte ich nach Kiel: Dort war die eindrucksvollste Gestalt Mayer [Hellmuth Mayer, 1895-1980], aber auch bei dem Zivilprozessualisten Paulus [Gotthard Paulus, 1912-1977] habe ich so viel gelernt, dass es, was die ZPO angeht, noch im Referendariat ausreichte.

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Ich war nach Kiel gewechselt, weil ich in Köln ein wenig Philosophie gehört hatte, auch bei Lakebrink [Bernhard Lakebrink 1904-1991] eine Vorlesung über Hegels Logik. Diese Vorlesung brachte mich auf den Gedanken, mich mit der Hegelschen Rechtsphilosophie zu beschäftigen und ich war bei der Suche nach Texten dazu im Seminar auf den Namen Larenz, damals in Kiel, gestoßen. Als ich dann in Kiel angekommen war und in seine Vorlesung gehen wollte, hing am Dekanat ein kleiner Zettel, auf dem stand, Larenz sei nun in München; man könne ihn in Kiel nicht mehr hören. Das war zwar eine Enttäuschung, aber so hatte ich Zeit, das von mir bis dahin völlig vernachlässigte Strafrecht zu betreiben. Hellmuth Mayerlas den Besonderen Teil, den Allgemeinen Teil habe ich im Seminar gelernt. Dabei beeindruckte mich das Lehrbuch von Welzel [Hans Welzel 1904-1977], vor allem in seiner Art, seinen Lesern knapp, aber trotzdem mit sprachlicher Eleganz schwierigste Probleme zu erläutern. Sein ebenso ausgezeichnetes Buch zur Geschichte des Naturrechts1 besaß ich schon aus Kölner Tagen. Deshalb, also Welzels wegen, bin ich nach Bonn gewechselt. Nicht, dass ich Strafrechtler werden wollte, ich wollte Zivilrechtler werden! Aber auch Strafrecht musste sein und Rechtsphilosophie sollte sein; für beides wollte ich zu dieser meines Erachtens herausragenden Gestalt.

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Dieses Urteil eines Studenten erwies sich als richtig. Welzel ist eine herausragende Gestalt! In Bonn betrieb man aber nicht nur Strafrecht, sondern mehr noch Zivilrecht, dafür standen die großen Namen Flume, Beitzke, Ballerstedt, Bosch, und ebenso prominent im Öffentlichen Recht die Namen Scheuner und Friesenhahn. Ich ging dennoch in Welzels Seminar. Er empfing mich sehr freundlich und hat diese Haltung mir gegenüber immer beibehalten und sagte mir nach dem ersten Examen sofort die Möglichkeit einer Promotion zu. Ich bearbeitete ein recht kleines Thema, über das er zuvor einen Aufsatz geschrieben hatte, mit dem er offenbar nicht zufrieden war: Es handelt sich um das Verhältnis von Tötungsdelikten und Körperverletzungsdelikten. So bin ich sein Mitarbeiter geworden, korrigierte für ihn studentische Arbeiten und las seine Schriften zur Korrektur. Nach dem einigermaßen tauglichen zweiten Examen akzeptierte er mich ohne zu zögern als Habilitanden. Aber ich zögerte wegen meines Wunsches, Richter in Zivilsachen zu werden, und begab mich zum Vizepräsidenten des OLG Köln, der für Personalsachen zuständig war, und fragte nach meinen Chancen. Er erklärte, ich könne zwei Jahre lang einigermaßen gewiss sein, binnen drei Monaten eine Stelle zu bekommen. Das gab mir dann die Sicherheit, eine Habilitation zu beginnen, und die Sache ging mit einer nicht sehr umfangreichen Arbeit zur Fahrlässigkeit recht schnell über die Bühne der Fakultät.

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Schmoeckel: Die Zeit der 1960er Jahre ist der Beginn eigentlich an den Universitäten der beginnenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Welche Rolle spielte dies vor ’68?

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In Bonn keine nennenswerte Rolle, ganz im Gegenteil! Einige der Personen, die als durchaus bedeutende Persönlichkeiten in Bonn forschten und lehrten, hatten gute Gründe, an die frühere Zeit nicht zu rühren. Dazu gehörte auch Welzel, wenn auch, gemessen an anderen, nur nachrangig. In welchem Maße er Gründe hatte, haben seine Schüler und auch ich seinerzeit nicht gewusst und auch nicht sonderlich dringend wissen wollen. Stärker belastet war etwa Ulrich Scheuner, der dann auch in der ’68er Zeit scharf angegriffen wurde; weitere Personen könnten genannt werden. Dass damals ein Tabu vorlag, merkte man auch daran, dass in Seminaren bevorzugt historische oder formale Themen behandelt wurden. „Historisch“ heißt dabei, dass man sich Themen vornahm, die schon vor der nationalsozialistischen Zeit aktuell waren, oder eben formale, etwa normlogische Themen. Es sollten nur keine Fragestellungen sein, bei denen eine gewisse politische Stellungnahme erforderlich war. Selbst Strafzweckthemen waren einigermaßen verpönt. Das Formale gibt Welzels späterer Lehre eine gewisse Dürftigkeit, die seinen frühen Arbeiten mehr als fremd ist. Die frühen Schriften waren eine Folge von Geniestreichen, etwa die drei großen Aufsätze in der ZStW von 1931 bis 1941 über Handlung, Strafrechtssystem und Schuld. Die späteren Werke sind daran gemessen eine etwas verholzte Didaktik. Das ändert nichts an der Qualität seines Lehrbuchs2, dessen Anlage aber ja auch weit zurückreicht.

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Schmoeckel: Wie haben Sie denn die 68er Zeit in Bonn erlebt und wie hat sich die Universität verändert durch die 68er Revolution?

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Die ganze 68er Revolution ist mir in einem erschreckenden Maße dürftig vorgekommen. Ich habe mich immer gefragt, wie solche Niveaulosigkeiten in einer Gesellschaft möglich waren, die sich durch die Aufklärung durchgearbeitet hatte und in der dann formuliert worden war, was wir die philosophische Klassik in Deutschland nennen. Wie konnte eine Gesellschaft, die einerseits im 19. Jahrhundert den Rechtsstaat etablierte und die andererseits durch die selbst verschuldete Katastrophe des Nationalsozialismus hätte gewarnt sein müssen, auf diese billige Art der Marxinterpretation und der Freudinterpretation hereinfallen? Ich bin kein Gegner des Philosophen Marx! Wer meine Vorlesung gehört hat weiß, dass Marx und Ludwig Feuerbach an einer bestimmten Stelle eine große und durchaus nicht negative Rolle spielen. Aber diese flüchtige und verzerrende Art der ’68er, damit umzugehen, erschien mir damals und erscheint mir heute intellektuell dürftig zu sein. Wenn die Generation der Väter politisch krass versagt hat, so lässt sich das nicht in intellektuell bequemer Haltung aufarbeiten, schon gar nicht mit der Attitüde moralischer Überlegenheit.

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In Bonn war die Lage ein wenig anders, und zwar wegen eines gewissen rheinischen Einschlags. Hier agierte in vorderster Linie der Revoluzzer Hannes Heer (der Autor der Ausstellung zur Reichswehr). Ich kannte ihn recht gut; er hatte die Gabe, auch die ernsten Sachen - die er auch sehr ernst nahm – stets in einer heiteren und spöttischen Art und Weise vorzubringen. Heer war und ist ein geistvoller Kopf, er dichtete und schriftstellerte, aber er war nicht verkrampft, und das nahm dem revolutionären Getue etwas die Spannung.

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Schmoeckel: Was waren denn die rechtspolitischen Themen, die den angehenden Juristen in den 60er Jahren besonders bestimmt haben, besonders interessiert haben?

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Die zentrale Frage war, bis zu welchem Maße Demokratisierung möglich war, und was zu demokratisieren sinnvoll sei. Ich zweifelte damals daran, ob es ratsam sei, in eine Fakultätssitzung auch Studenten und Assistenten einzuladen. Mir war klar, dass die dort versammelten Professoren von Format – Flume, Welzel, Conrad, Ballerstedt, Scheuner und andere – so viel mehr wussten als ich und über eine so viel größere Lebenserfahrung verfügten, dass ich mich fragte, was ich in diesen Veranstaltungen verloren haben sollte. Für die Studierenden galt das Gleiche, und es war ja teilweise auch so, dass ihnen das Demonstrative wichtiger zu sein schien als ein sachlicher Beitrag. Dazu darf ich aus meinen Erlebnissen in Bochum berichten: Dort zog eines der studentischen Mitglieder der Fakultät regelmäßig, wenn es zur Fakultätssitzung erschien, sein Oberhemd aus; der Student wollte wie ein Proletarier aussehen; man war schließlich in Bochum.

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Schmoeckel: Welche Rolle spielte die Strafrechtsreform – etwa das Thema Resozialisierung oder ähnliches – in dieser Zeit?

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Die Strafrechtsreform spielte in unserer Diskussion schon allein deshalb eine Rolle, weil Welzel bei dem E 623 mitgewirkt hatte. Aber es waren sich eigentlich alle Mitarbeiter im rechtsphilosophischen und strafrechtlichen Bereich einig (obwohl wir nicht wagten, es Welzel offen zu sagen), dass das Ergebnis dürftig war. Man denke nur an die komplizierten Irrtumsregelungen! Was uns geradezu entsetzte, waren die Niederschriften der Kommission: Wann immer sich die Kommission traf, meldeten sich die ganz großen Namen: Gallas, Lange, Welzel, Mezger, und führten Bedenken gegenüber einer Zeile Text ins Feld oder beklagten die fehlende Berücksichtigung einer möglichen Qualifizierung etc. Dann überlegt man ad hoc, was man streichen oder einfügen könnte. Es wurde nicht von einer vorhandenen Theorie her gearbeitet, etwa von dem Verständnis her, was ein Vermögensdelikt oder ein Delikt gegen die Person ist. Nicht, aus solchen grundsätzlichen Gedanken wurde der BT erarbeitet, sondern eben weitgehend theorielos (selbstverständlich gibt es Ausnahmen).

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Schmoeckel: Inwieweit hat Sie das in Ihrer Habilitationsschrift und wenig später bei „Schuld und Prävention“ geprägt?

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In der Habilitationsschrift „Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt“ versuche ich den Finalismus mit der Fahrlässigkeit kompatibel zu machen. Der Finalismus ist, ganz äußerlich beschrieben, dadurch ausgezeichnet, dass der Vorsatz schon ein Unrechtselement ist; bei der Fahrlässigkeit, so meine These im Mittelteil der Arbeit, muss demgemäß die subjektive Erkennbarkeit auch Unrechtselement werden.

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Der erste Teil meiner Arbeit bringt die normlogischen Voraussetzungen, der dritte und letzte betrifft den Schuldbegriff. Dort formuliere ich schwach und ängstlich, was ich dann später in „Schuld und Prävention“ plakativer gesagt habe. – Meine Habilitationsschrift ist ein relativ schmales Buch, ich habe auch nicht besonders lange daran „gesessen“. Ich habe auf dieser Grundlage ohne jede Schwierigkeiten habilitiert, und zwar wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, weil man als Schüler von Welzel vom Respekt vor dem Lehrer profitierte.

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Schmoeckel: Das Thema Finalismus, das Sie eben auch angesprochen haben, war, als ich die Universität Bonn als Student kennen lernte, das eigentlich entscheidende, die allgemeine Diskussion beherrschende Thema. Es war geradezu mit religiösen Qualitäten ausgestattet, denn als Bonner Student bekannte man sich damals zum Finalismus.

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Welzel selbst sagte einmal – ich habe es mit eigenen Ohren gehört –, es gebe auf der Welt zwei große Gegensätze: Der eine werde durch den Eisernen Vorhang hervorgerufen und der andere durch die Wand zwischen Finalismus und Kausalismus. Sie sehen, auch der Begründer des Finalismus konnte den Streit um den Handlungsbegriff heiter sehen!

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Am Anfang der Entwicklung in den 30er Jahren war der Finalismus ein ungemein kluger Gedanke! Wenn man den Finalismus richtig würdigen will, darf man ihn nicht in der Gestalt und in dem Kontext lassen, die ihm in der Mitte der 50er Jahre oder am Anfang der 60er Jahre eigen waren. Da war er längst zu einer Didaktik, zur Lehre vom Deliktsaufbau, heruntergekommen. Allerdings, war der Kausalismus auch nicht mehr! Vielmehr muss man den Finalismus nehmen, wie Welzel ihn in seinen „Studien zum System des Strafrechts“ herausarbeitete. Dort sagt er, dass die menschliche Handlung kein Kausalverlauf, sondern – wörtlich – „Sinnausdruck“ sei. Bei Welzel kurz nach seiner Habilitation bezeichnete das höchstwahrscheinlich nicht den privaten Sinn, sondern den sozialen Sinn. In diesem Verständnis heißt „Handeln“ „einen sozialen Sinn verwirklichen“: Darin liegt das ganze moderne Strafrecht!

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Schmoeckel: Welche Personen, welche Geistesgrößen haben Sie in Ihrer philosophischen Ausrichtung als Bezugsgrößen am meisten beeindruckt? In der Lektüre Ihrer Werke sehe ich vor allen Dingen Kant, Hegel, Hobbes und auch Luhmann.

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Das sind gewiss Philosophen, die mich beeindruckt haben. Aber ebenso gewiss muss zudem noch Hans Kelsen genannt werden! Er wird von mir vielleicht nicht häufig genug zitiert, aber etwa in meiner Habilitation habe ich ihn gründlich berücksichtigt. Er erzieht auch diejenigen zum sauberen Denken, die ihm nicht überall folgen, insoweit vergleichbar mit Luhmann.

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Hobbes fasziniert mich wegen der grenzenlosen Freiheit, die er zu denken möglich macht. Er ist derjenige Philosoph, der alle aristotelischen und christlichen Vorgaben über Bord geworfen hat. Das ergibt eine Freiheit, die man nach ihm nicht mehr gewagt hat. Ich habe manchmal den Eindruck, dass dann, wenn Kant und Hegel von Vernunft sprechen, sie unter dem Namen „Vernunft“ ein christlich-aristotelisches Echo formulieren, um ja nicht die Hobbesschen Töne durchzulassen.

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Hegels Rechtsphilosophie bietet ein System, in dem man auch heute noch sehr gut rechtsphilosophisch arbeiten kann. Aber man darf sich nicht sklavisch daran halten. – Bei Luhmann ist der Zwang zur Sauberkeit des Denkens ungemein ernüchternd, insoweit, wie gesagt, vergleichbar mit Kelsen. Freilich habe ich, das merkt jeder meiner Leser, mit Luhmann auch meine Schwierigkeiten. Das gilt aber auch für viele Soziologen, und zwar meistens in demselben Punkt, nämlich der Behandlung der strukturellen Kopplungen bei Luhmann. Mit dem, was er dazu sagt, kommt man im Recht nicht aus.

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Schmoeckel: Die Sozialadäquanz, auf die Sie bei dem Finalismus abgestellt haben, auf der einen Seite und diese auf die Freiheit der Person abstellenden Lehrer wie Kant, auf die individuelle Entscheidungsfindung abstellenden Lehrer, die wir eben besprochen haben – gibt das nicht eine Friktion. Inwieweit passt das zusammen?

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Die Sozialadäquanz passt gut zu Hegel, allerdings nicht richtig zu Kant. Bei Kant kann und muss jedes Subjekt nicht nur die gesamte Sittlichkeit, sondern auch die Prinzipien des Rechts in seinem Kopf entstehen lassen. Das ist bei Hegel mit seiner Anerkennung der gewachsenen Lebensformen völlig anders. – Die Sozialadäquanz hat Welzel relativ früh auf den Begriff gebracht. Man hat ihm vorgehalten, dass es sich um einen nationalsozialistischen Gedanken handele. Ich halte das für völlig falsch. Diese Sozialadäquanz ist in nuce die Formulierung dessen, was wir heute „objektive Zurechnung“ nennen, genauer, die Lehre vom unerlaubten Verhalten. Wir nennen dieses Verhalten heute nicht in einem einzigen Wort, sondern wir entfalten es in verschiedene Institutionen: Überschreitung des erlaubten Risikos, Verletzung des Vertrauensgrundsatzes, Ausschluss des Handelns auf eigene Gefahr seitens des Opfers, Regressverbot usw.

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Schmoeckel: Welche Aktualität kommt denn eigentlich diesen sozialen Adäquanz-Gedanken heute zu? Insbesondere denke ich auch an Ihre Forschungen anlässlich der modernen Hirnforschung über die menschliche Willensfreiheit. Inwieweit greifen Gedankengebäude, die auf die Bezüge zur Gesellschaft abstellen, wenn der Mensch nur noch als Monade betrachtet wird?

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Die Moderne Hirnforschung formuliert ihre Gedanken in dem wissenschaftlichen Code wahr/unwahr. Die Möglichkeit dieser Formulierung geht jeder wissenschaftlichen Arbeit und auch der Hirnforschung voraus. Die Hirnforschung sollte sich um diese erkenntnistheoretischen Bedingungen ihrer Forschung kümmern; dann wäre sie mit einer Übertragung ihrer Erkenntnisse (die ich übrigens faszinierend finde) auf das Strafrecht vorsichtiger.

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Die Behandlung des normativen gesellschaftlichen Systems ist etwas anderes als eine Naturwissenschaft, und Menschen, wie sie die Hirnforscher, etwa Roth und Singer, untersuchen, kommen darin nicht vor, sondern Personen, Träger von Rechten und Pflichten. Der Mensch ist ein Phänomen, betrachtet unter Naturgesetzen, die Person in der Gesellschaft ein anderes: ein Adressat bestimmt unter Zurechnungsgesichtspunkten.

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Schmoeckel: Wie würden Sie denn Ihre Herangehensweise als Strafrechtswissenschaftler beschreiben? Sie werden ja insbesondere wahrgenommen als philosophisch arbeitender, systematisch argumentierender Strafrechtler.

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Insoweit stehe ich noch in der Bonner Schule, obwohl sie sich inhaltlich geändert hat. Von meinem Lehrer anerzogen betrachte ich das Strafrecht als ein „Stück“ der Gesellschaft. Aber die Gesellschaft muss man auch als Ganzes verstehen, wenn man ihre „Stücke“ begreifen will. Die Gesellschaft kann man einerseits als Soziologe, andererseits aber auch als Philosoph betrachten. Die philosophische Begründung gehört in Bonn immer zum wissenschaftlichen Arbeiten dazu.

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Wenn ich einmal so kühn sein darf, meinen eigenen Ansatz zu formulieren: Dieser Ansatz wird in dem von Ihnen schon genannten Heft „Schuld und Prävention“ zum ersten Mal ausformuliert (obwohl er in der Habilitationsschrift bereits in nuce vorhanden war), dass nämlich das Strafrecht als Institution die Aufgabe hat, die normative Struktur der Gesellschaft zu stabilisieren. Genau genommen leistet das Strafrecht etwas für die Geltung der Normen, dadurch für die Gesellschaft und wiederum dadurch für die Bürger. Das Strafrecht kann, grob gesprochen, keinen Toten lebendig machen und keinen zerhauenen Stuhl wieder zusammenleimen; aber es kann „sagen“: „Wir bleiben bei dieser Norm und zum Zeichen dessen werden wir den Täter bestrafen.“ Diese so genannte funktionale Sicht war nach meinem Dafürhalten eine Zeitlang die neue Bonner Schule, die ja auch mit meinem Namen, teils auch dem von Herrn Kindhäuser, aber auch mit den Namen meiner Schüler verknüpft ist.

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Schmoeckel: Welche Rolle kommt denn eigentlich einem systematischen Strafrecht heute zu? Wenn wir unterschiedliche Gesetzgeber haben, die in dieser Rechtsmaterie arbeiten, also vor allem neben dem nationalem noch den europäischen Gesetzgeber haben, können wir dann noch davon von einem einheitlichen System ausgehen, oder was folgt vielmehr daraus, das beide offenbar unterschiedlichen Prämissen folgen und von unterschiedlichen Begrifflichkeiten ausgehen? Kann ein systematisches Strafrecht in dieser Spannungslage vielleicht noch eine vermittelnde Rolle spielen?

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Seine Rolle wird immer kleiner! Was sich durchsetzt, wird pragmatisch orientiert sein, nicht auf einem so riesigen Sockel philosophischer Reflexionen beruhend, über den man ohnehin keine Einigkeit erzielt, sondern praxisorientiert, das heißt mehr oder weniger nach einem angelsächsischen Muster. Deswegen wird die Bedeutung der deutschen Strafrechtsdogmatik international, wie ich fürchte, zurückgehen.

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Schmoeckel: Damit leiten Sie selber über auf jenen unglaublichen Erfolg, den die deutsche Strafrechtsdogmatik international auch nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt hat, über. Dies gilt insbesondere für Asien und vor allem Südamerika, dort ist die Ausstrahlung Ihrer Schriften, wie ich selbst erfahren konnte, aber auch der einiger Kollegen ganz außerordentlich. Worauf beruht dieser Erfolg?

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An Unterschiedlichem: In Japan beginnt der Erfolg historisch mit der Aquisitionspolitik der Japaner im Rahmen der Meiji-Reform. Die in den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnende Reform stärkte die Zentralgewalt des Kaiserhauses, weil man den Rückstand der bis dahin zersplitterten Regierungsform bemerkte. Deswegen erhielt der Kaiser größere Macht und aquirierte modernere Systeme. In England kaufte man die Technik, und überlegte längere Zeit, ob man das Recht nach dem Vorbild Frankreichs mit seinen napoleonischen Reformen übernehmen oder insoweit doch lieber Preußen folgen sollte. Man entschied sich für letzteres und transferierte die neue Ordnung später – einigermaßen gewaltsam – auch nach Korea.

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Die Beziehungen zu Spanien und Südamerika entwickelten sich anders. Aufgrund der philosophischen Verbindungen gab es diese Beziehungen schon seit Jahrhunderten. Ein riesiger Impuls, der sich nochmals verstärkte und sowohl in Spanien als auch in Südamerika wirkte (in Südamerika gilt dies insbesondere für Jiménez de Azúa [Luis Jiménez de Azúa, 1889-1970]), war die „Entdeckung“ der Liszt-Schule. Durch sie konnte man rational und zweckorientiert die Strafe bestimmen, und etwa die Unverbesserlichen von den Verbesserungsbedürftigen und den Gelegenheitstäter trennen. Um 1900 ist also eine Art Welle von Berlin ausgelöst worden. Ich darf ein bisschen übertrieben formulieren: Von den bedeutenden spanischen Strafrechtlern sprechen 80 % deutsch und zwar passabel. Und von den bedeutenden südamerikanischen Kollegen spricht immer noch mehr als die Hälfte deutsch, und die meisten dieser Kolleginnen und Kollegen waren Humboldt-Stipendiaten oder DAAD-Stipendiaten in Deutschland, nicht wenige in Bonn, aber es wäre verfälschend, nicht auch München, Freiburg, Köln und weitere Universitätsstädte zu nennen.

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Schmoeckel: Das ist ja etwas, das bis zur Gegenwart anhält.

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Ja, das hält bis zur Gegenwart und hoffentlich noch einige Zeit an. Aber es ist schon in Japan ganz deutlich, allmählich auch in Südamerika, dass sich etwa die Kriminologie nur noch selten an Deutschland orientiert; hier dominiert die Beziehung zu den USA.

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Schmoeckel: Wenden wir uns noch einmal den verschiedenen Gesetzgebern und die durch sie komplexer werdende Welt des Strafrechts zu: Könnte daraus nicht ein Bedürfnis entstehen nach einer Systematisierung des Strafrechts und einem einheitlichen Erklärungsansatz?

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Doch, das könnte schon sein. Dann müsste ein solches Buch entstehen wie Dernburgs [Heinrich Dernburg *1829-1907] Pandekten, das die Vielzahl der Normensysteme auf einen Nenner bringt.

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Schmoeckel: Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrem Lebensweg! Sie erwähnten schon Bochum, es folgten Kiel, Regensburg und dann Bonn. Haben Sie von den einzelnen Orten etwas mitgenommen, z.B. besondere Themen, unterschiedliche Arten, Rechtswissenschaft zu betreiben?

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In Bochum habe ich eine gewisse Geduld mit Studenten gelernt, die erst am Anfang der akademischen Ausbildung stehen. Ich begann dort 1971 und damit kurz nach der ’68er Phase. Ich erzähle das Folgende nicht, um die Studierenden schlecht zu machen, ich hatte und habe vielmehr großes Verständnis für sie. Sie waren um 7.30/ 8.00 Uhr an der Uni per Mitfahrgelegenheit eingetroffen und standen ab dann in den Cafeterien, die es in Bochum reichlich gab, herum, aßen Kartoffelsalat mit Bockwurst und spielten Tischfußball. Wenn ich fragte, warum sie so früh Tischfußball spielten, antworteten sie, wer um 7.00 Uhr noch nicht die Wohnung verlassen habe, gelte als unverbesserlicher Faulpelz. Die Konsequenz des frühen Beginns war, dass um 16.00 Uhr das erreicht war, was die dortigen Studenten ohne zu lachen „Feierabend“ nannten. Deswegen mussten selbst Seminare spätestens um 14.00 Uhr beginnen; um 16.00 Uhr war eben „Schichtschluss“.

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In Kiel wurde ich noch einmal von den Unruhen der 68er Zeit erfasst. Ich las den „Besonderen Teil“ und die Vorlesung sollte von den Studenten „gesprengt“ werden: Es kamen also etwa 25 Studierende mit Trillerpfeifen und wollten die Veranstaltung beenden. Ich warf ihnen vor, dass das, was sie machten, im strafrechtlichen Sinne Gewalt sei. Sie entgegneten, einen völlig gewaltlosen Streik zu veranstalten. Daraufhin habe ich ihnen den strafrechtlichen Gewaltbegriff erklärt und verdeutlicht, wie dieser immer mehr dazu tendiert, jede Beeinträchtigung eines Rechts als Gewalt zu erfassen. Sie hörten fasziniert zu und die Normativierung des Gewaltbegriffs leuchtete Ihnen auch offenbar ein, jedenfalls wurden klug formulierte Fragen gestellt. Doch am Ende sagte der Anführer der Truppe: „Jetzt hat er uns reingelegt und doch ’ne Vorlesung gehalten.“

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Schmoeckel: Aus Regensburg wird ja eine Vielzahl oder eine Reihe von berühmten Geschichten erzählt, insbesondere in dem Zusammenwirken mit den anderen Strafrechtlern, die müssen eine sehr prägende Trias abgegeben haben für die Universität?4

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Ja, das war aber vor meiner Berufung so abgesprochen. Der dortige Kriminologe, Herr Rolinski, hielt sich – abgesehen von einer Anfängerübung – aus den dogmatischen Lehrveranstaltungen heraus. Herr Schroeder berichtete mir, schon als ich den Ruf bekam, von seinem Plan, AT und BT gemischt zu lesen. Wir versuchten es und hatten nie irgendwelche Schwierigkeiten; so haben wir uns 10 Jahre bestens verstanden.

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Schmoeckel: Wie empfanden Sie die akademische Atmosphäre an dieser jungen Universität?

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Wenn ich jetzt mit „vergleichbar mit Bochum“ antwortete, wäre das völlig falsch. Die Studierenden dachten nicht daran, um 8.00 Uhr schon Kartoffelsalat mit Bockwurst zu essen oder um 7.00 Uhr das Haus zu verlassen. Regensburg ist schließlich eine Stadt mit einer Bezirksregierung, und die Regensburger legen Wert drauf, eine Regierungsstadt zu sein. Für die Studierenden stellte das mit einer guten Note erzielte Examen das absolute Ziel dar, und die allermeisten waren jenseits dessen nicht weiter interessiert. Diese Beschränkung hat bei Klausurexamina bestimmte Konsequenzen: In Regensburg konnte man keine Seminare veranstalten; die Studierenden waren fleißig, lernten gut, hatten ein ordentliches Niveau, waren aber an dem, was über das für den späteren Beruf Benötigte hinausging, nicht sonderlich interessiert.

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Das änderte nichts daran, dass ich Regensburg ohne jeden Vorbehalt die Treue gehalten hätte – ich habe einen Ruf nach Heidelberg abgelehnt –, wenn Armin Kaufmann nicht gestorben wäre. Ich wäre in Regensburg geblieben, gut integriert, allenfalls ein bisschen traurig, weil ich wegen der dortigen knappen Besetzung im Strafrecht nie dazu kam und kommen würde, Rechtsphilosophie zu lesen. Vom Lehrkörper her war Regensburg eine ungemein attraktive Fakultät; im Alter waren die Kollegen nicht sehr unterschiedlich, und als ich berufen wurde, waren schon einige etablierte Persönlichkeiten tätig, etwa im Zivilrecht Medicus, später Picker, im Öffentlichen Recht Kimminich, im Arbeitsrecht Richardi, in der Rechtsgeschichte und im Familienrecht Schwab, im Strafrecht Schroeder – viele weitere wären zu nennen. Ich habe mich in Regensburg sehr wohl gefühlt.

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Schmoeckel: Die Rückkehr an die eigene Alma Mater, ist das eine Heimkehr oder hat es auch etwas Gespensterhaftes wenn man sieht, dass so vieles immer noch so ist, auch wenn man sich selber weiterentwickelt hat?

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Doch, es hat schon etwas Gespensterhaftes, dies insbesondere dann, wenn man sieht, wie das Juridicum runtergekommen ist. Ich hatte das Gebäude zuvor nur erlebt, als es soeben gebaut worden war. Da war es in gewisser Weise elegant und schön, sauber und ordentlich. Es gab nicht diesen Dreck, es war nicht so viel kaputt, durch die Fenster konnte man noch durchgucken, weil sie noch nicht weiß beschlagen waren wie jetzt. Die Veränderungen enttäuschten mich sehr. Andererseits war es natürlich für mich erlösend, Rechtsphilosophie lehren zu können und das auch noch mit Hörern, die mitmachten, ohne zu denken: „Brauche ich das fürs Examen?“

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Schmoeckel: Was würden Sie als Ihre Hauptwerke bezeichnen? Sie haben sehr viel publiziert und einiges ist auch nur in Spanien erschienen?

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Mein Hauptwerk in quantitativer Hinsicht ist überhaupt nur in spanischer Sprache erschienen, die „Objektive Zurechnung“. Es ist ein Bändchen, dessen Auflagen wohl mittlerweile auf die 30.000 Exemplare zugehen. Von den deutschen Werken möchte ich an erster Stelle nennen „Schuld und Prävention“ (1976). Die kleine Abhandlung klärt den funktionalen Schuldbegriff. Danach ist wohl mein Lehrbuch anzuführen, auch wenn ich manche Rechtsprobleme heute anders „anpacke“. Weiterhin nenne ich mein kleines rechtsphilosophisches Bändchen „Norm, Person, Gesellschaft“; es erscheint gerade in 3. Auflage. Dann gibt es noch mein „Urkundsbuch“: Es reüssiert nicht so richtig, aber das, mit Verlaub, schiebe ich auf die Ignoranz meiner Kollegen, nicht auf den Inhalt dieses Buches. Nach meinem Dafürhalten wird es irgendwann ein Renner werden. – Das sind wohl die Bücher, die ich für die charakteristischsten halte. Viele meinen, charakteristischer für mich seien meine Aufsätze über das Feindstrafrecht.

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Schmoeckel: Sie wollten zunächst eigentlich nicht davon sprechen.

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Doch, von mir aus gerne.

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Schmoeckel: Wie sind Sie auf dieses Thema des Feindstrafrechts gekommen?

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Das Max-Planck-Institut in Freiburg, damals war Herr Eser einer der Direktoren, veranstaltete in Berlin einen Kongress über die Strafrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert. Ein Hauptreferat hielt Herr Hassemer und ich wurde für eines der Co-Referate eingeteilt; dafür hatte ich 10 Minuten Zeit. Ich habe bemerkenswert viele schlechte Eigenschaften, aber an Zeitvorgaben pflege ich mich zu halten. Deswegen habe ich auch in nur 10 Minuten diagnostiziert, immer mehr entwickele sich ein Strafrecht, das nicht auf eine vergangene Tat bezogen sei, sondern auf eine zukünftige.

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Dazu ein Beispiel! Als Rechtshistoriker kennen Sie, Herr Schmoeckel, die Affaire um Bismarck und Duchesne: Der belgische Kesselschmied Duchesne hatte sich 1874 gegenüber dem Jesuitenprovinzial von Brüssel und dem Erzbischof von Paris erboten, für 40.000 Franc Bismarck zu ermorden. In Preußen wollte man dagegen strafrechtlich vorgehen, aber man konnte bei der bestehenden Gesetzeslage vor der Begehung der Tat nichts tun. Deswegen schuf Preußen die Strafbarkeit der Verbrechensverabredung5, und wie vieles alles, was man in Preußen machte, führte man das einigermaßen korrekt aus: Für die Verabredung allerschwerster Verbrechen wurde Gefängnis – nicht Zuchthaus – bis zu 5 Jahren angedroht; für weniger schwere, wie etwa Straßenraub, Gefängnis bis zu drei Jahren. Dagegen lässt sich kaum etwas einwenden; denn Pläne wie diejenigen von Duchesne stören die öffentliche Sicherheit. Warum soll man darauf nicht mit einer Gefängnisstrafe von, sagen wir, drei bis vier Jahren reagieren? In der Nazizeit wurden diese Störungen der Sicherheit in Bestrafungen von Vorbereitungen umgewandelt, indem die Strafe an die Versuchsstrafe des geplanten Delikts gebunden wurde. Wenn ein Ehepaar im Schlafzimmer verabredet, demnächst den Erbonkel ermorden zu wollen, kann das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden. Die geplante Tötung Bismarcks dagegen sollte höchstens eine 5jährige Gefängnisstrafe einbringen. Aus dieser Differenz habe ich gefolgert, dass es sich hier um „Feindstrafrecht“ handele, und dies mit weiteren Beispielen belegt, etwa mit der Strafbarkeit der kriminellen Vereinigung, der terroristischen Vereinigung, mit der Sicherungsverwahrung, und ich habe einige prozessuale Institutionen genannt, - damit waren die 10 Minuten vorbei.

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Mein Fehler war wohl, das gebe ich zu, dass ich das alles in einem sehr fröhlichen Ton, ohne pflichtgemäße Bekümmernis, vorgetragen habe. Mir war es auch gelungen, zwei- oder dreimal das gesamte Auditorium zum Lachen zu bringen.

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Zunächst geschah nahezu nichts; es blieb bei einer verspäteten (nach den Diskussionen im Schlusswort formulierten) Bemerkung von Eser. Später wurde beim Begriff „Feind“ sofort Carl Schmidt assoziiert, also ein Nazi, und daraus wurde gefolgert, dass auch Jakobs ein Nazi sein müsse. Eine andere Gruppe stellte auf die Menschenwürde ab: Man darf niemanden zum Feind machen, das ist rechtsstaatswidrig. Wenn ich zurückfragte, wie der in Sicherungsverwahrung Befindliche zu nennen sei, dann kam keine Antwort. Es hat dann tatsächlich ein Anwalt und Professor in Frankfurt fertig gebracht zu schreiben, man brauche kein „Feindstrafrecht“, sondern ein „Freundstrafrecht“. – Erst nach 5 Jahren weitgehend niveauloser Schimpfereien kamen Anfänge einer ordentlichen Diskussion auf.

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von Mayenburg: Liegt das vielleicht auch daran, dass es schwierig ist heutzutage, in die Gesellschaft hinein komplexere Sachverhalte zu vermitteln. Als ich den Prantl-Artikel6 in der Süddeutschen gelesen habe, dachte ich …

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Prantl hatte einen Fehler gut zu machen: Er war bei der Veranstaltung dabei und hatte zunächst, wie alle anderen, nichts Auffälliges gemerkt. Da kann man sich als braver Liberaler schon schämen und meinen, man müsse seinen Fehler durch ein paar verbale Ausfälle kompensieren.

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von Mayenburg: Hat der Herr Prantl mit Ihnen vor dem Artikel irgendwie Kontakt aufgenommen?

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Nein, das brauchte er auch nicht; er kann selbst denken und ich schätze ihn durchaus; denn er ist meist ein Mann mit meines Erachtens vernünftigen Ansichten. Aber zum Feindstrafrecht ist er nun einmal ausgeflippt. Es sei verziehen!

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Schmoeckel: Inwieweit begreifen Sie dieses Feindstrafrecht als deskriptive Beschreibung eines Zustands, der sich nicht nur in Südamerika ergibt, aber dort vielleicht sogar noch stärker -, ebenso in den USA, aber auch hier in Deutschland – etwa wenn man an den Abschuss von Flugzeugen aus präventiver Gründen denkt -, …

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…das wäre kein Feindstrafrecht, aber eine Depersonalisierung der Passagiere…

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Schmoeckel: … oder doch als notwendige Kategorie? Meinen Sie deskriptiv oder normativ?

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Mit aller Deutlichkeit: deskriptiv. Zwar habe ich mehrfach gesagt, und ich werde das auch weiter sagen, ich könne mir heute schwer vorstellen, wie ein Staat ganz ohne Feindstrafrecht auskommen soll. Nicht zufällig gibt es eine europäische Vorgabe, dass die Bestrafung terroristischer Vereinigungen des In- und Auslandes in jedem europäischen Land gewährleistet sein muss. Aber diese Äußerung ist nicht legitimatorischer Natur, sondern nur eine – vielleicht falsch prophezeiende – Meinung darüber, welche Maßnahmen gegen die Gefährdung des Staates erforderlich sein werden.

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Anders als nicht wissenschaftlich arbeitende Juristen es sich in ihren innerrechtlichen Omnipotenzphantasien ausmalen, bin ich nicht der Meinung, alle Konflikte ließen sich rechtlich lösen. Der Abschuss von Flugzeugen, eventuell Rettungsfolter – das sind Probleme, die man rechtlich nicht lösen kann, sondern nur in den Griff bekommt, wenn man einige Personen entpersonalisiert. Ich behaupte hiermit nicht, dass man das tun soll, sondern nur: Wenn man solche Konflikte steuern und nicht nur ihren Ausgang abwarten will, kommt man ohne Entpersonalisierungen nicht aus. Es gibt ja mittlerweile eine Weiterführung der Diskussion durch Herrn Pawlik, der sagt, man solle die Konfliktlösung ehrlich betreiben, aus dem Strafrecht herausnehmen und polizeirechtlich regeln; das wäre gewiss eine sauberere Lösung, was die „Sparten“ des Rechts angeht.

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von Mayenburg: Das ist eigentlich ein Kompromiss aus dem Schulenstreit…

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Ja! Aber der Gedanke ist noch älter. Auch Feuerbach hat so etwas wie die Behandlung Gefährlicher wegen ihrer kommenden Taten gekannt und die erforderlichen Maßnahmen auf den Begriff der Notwehr zurückgeführt. Es gibt eine tüchtige Arbeit von Desseker, der die Geschichte dieser Gedanken zusammengestellt hat. Im Schulenstreit (genauer, auf der einen Seite der Streitenden) ist die Idee, kognitiv zu reagieren, entwickelt worden, insbesondere in der Gestalt der Maßregeln der Besserung und Sicherung, auch wenn diese erst zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit institutionalisiert wurden.

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Schmoeckel: Und was ist mit den Garantien, die dem Menschen im Strafrecht gemacht werden? Inwieweit ist es denn richtig, den Terroristen diese Garantie nicht zukommen zu lassen?

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Sie sollen – abgesehen von den immensen Vorverlagerungen – alle Garantien haben! Beim Feindstrafrecht haben die Täter diese Garantien ohnehin; aber auch Pawlik will diese Garantien auf das Polizeirecht übertragen.

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Schmoeckel: Aber diese Umformung eines Teils des öffentlichen Strafens in ein Polizeirecht bedeutet doch auch, dass sich dieser Staat dem Weltbild seiner Gegner angleicht, indem er den Rechtsstaat insoweit aufhebt?

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Das kommt darauf an, wem die De- oder Entpersonalisierungen zuzurechnen sind. Ich darf beispielhaft sprechen: Abwehr in Notwehr behandelt den Angreifer nach den Regeln der Natur (so formuliert es Feuerbach); aber diese Depersonalisierung ist dem Angreifer zuzurechnen, nicht dem Abwehrenden.

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Schmoeckel: Inwieweit hätte die deutsche Strafrechtswissenschaft dieses Thema in den letzten Jahren stärker aufgreifen, die Diskussion vielleicht auch in wissenschaftlichere Formen kleiden sollen, um dieses in den Medien doch sehr präsente Thema einer stärkeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung zuzuführen?

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Das wird noch kommen. Herr Schäuble wird schon dafür sorgen, dass das Thema auf der Herdflamme bleibt. Die Wissenschaft wird sich darauf einstellen und irgendwann feststellen, allein mit dem Ruf „Menschenwürde“ sei es nicht getan.

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Schmoeckel: Wie würden Sie denn den Zusammenhang der deutschen Strafrechtslehre über die Fakultäten hinaus beschreiben?

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Das ist eine sehr schwere Frage. Um 1900 scheint alles klar zu sein, wie schon um 1800. Aber das Mediokre haben wir vergessen; das gab’s mutmaßlich damals ebenso wie heute.

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Wir haben heute nur wenige Schulen. Eine dieser Schulen hat sich um Herrn Roxin gebildet; ich möchte sie wegen ihrer großen Leistungen auf dem Gebiet der Topik die „Schule der Topiker“ nennen. Sie produziert keine sonderlich langen Ableitungsketten, bringt die Probleme jedoch immer mit äußerst vernünftigen, akzeptablen Argumenten zu einem konsensfähigen Ende. Der Einfallsreichtum bei Ad-hoc-Argumenten ist unerreicht und die internationale Verbreitung nicht zufällig riesig!

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Dann gibt es eine zweite Schule, unter Kennern die „Wolff-Schule“ genannt. „Wolff“ ist nicht Christian, sondern Ernst Amadeus [1928-2008, Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie in Heidelberg und Frankfurt/M.]. Ernst Amadeus Wolff war ein Gallas-Schüler in Frankfurt. Er und seine Schüler – das sind Köhler [Michael Köhler, *1945] in Hamburg, Zaczyk in Bonn, Klesczewski [Prof. Dr. Diethelm K., * 1960, Ordinarius in Leipzig], und es wären noch paar andere zu nennen, etwa Kahlo, – sind der Meinung, das philosophische Denken über Pflicht, Personalität und Subjektivität sei etwa um 1800 zu einem (oder: seinem) endgültigen Ergebnis gekommen. Die in der Schule gebildeten Systeme sind demgemäß von großer Geschlossenheit.

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Eine dritte Schule war (und ist) der Funktionalismus, die „Neue Bonner Schule“, bei der ich mitgewirkt habe; Frisch [Wolfgang Frisch, * 1943] in Freiburg steht ihr manchmal nahe, ebenso Kindhäuser. Diese neue Schule bleibt klein, weil zwei ihrer habilitierten Mitglieder in die Praxis abgewandert sind; sie sind hervorragende Anwälte geworden, und man kann ab und zu in der Zeitung lesen, welche Prominenz sie gerade verteidigen.

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Was meine Kollegen sich ansonsten heute vornehmen, hätte ich nie zum Inhalt meines Lebens machen wollen: Es gibt kaum noch einen Kollegen, der nicht zwei, drei Paragraphen des StGB in irgendeinem der etwa 10 vorhandenen Kommentare bearbeitet. Ich hätte nie im Leben ein Interesse gehabt, ein paar Paragraphen in einem Kommentar zu bearbeiten; denn bei einem so beschränkten Stoff fehlt der Zusammenhang mit dem Ganzen. Allenfalls „vor § 13 StGB“, wo eine Einleitung in das gesamte dogmatische System zu leisten ist, hätte mich interessiert, aber auch das nicht, wenn das Nachfolgende aus schlecht koordiniertem Text bestanden hätte.

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Schmoeckel: Ähnliche Entwicklungen sehen wir ja auch im Zivilrecht, etwa einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Dogmatik. Denken Sie etwa an die Materialisierungstheorie von Canaris und der damit verbundenen Angleichung an das öffentliche Recht, oder an die zunehmende Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als entscheidendem Schlussmechanismus zur Gewinnung von juristischen Ergebnissen, sodass selbst im Bereich des Öffentlichen Rechtes die Dogmatik zurücktritt. Tritt also die Bedeutung der Wissenschaft insgesamt ein wenig zurück?

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Ja, das will die Politik auch so. Wenn die Politik Rechtswissenschaft (mit einer Betonung auf der Wissenschaft) wollte, so müsste sie anderes als ein paar Max-Planck-Institute hervorbringen. So wie die Politik mit den Fakultäten umgeht, kann sie nicht ernsthaft erwarten, dass diese den ganzen Tag Wissenschaft produzieren. Bei einer Wissenschaft muss man die Leute anders behandeln, man muss Geduld haben mit jemandem, der 5 Jahre nichts schreibt, aber denkt. – Aber nicht Wissenschaft wird heute politisch gewünscht, sondern wirtschaftliche Effektivität. Das gilt es zu akzeptieren.

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Schmoeckel: Wie sehen Sie den Zusammenhang von Wissenschaft und Lehre? Im Humboldtschen Ideal gehört es ja zusammen.

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Bei mir auch! Deswegen kann ich die Mitglieder einiger wissenschaftlicher Einrichtungen, die teils nicht und teils nur sehr reduziert lehren, nicht verstehen. Die Lehre zwingt zu einfacher Formulierung; sie zwingt also zur Korrektur allzu komplizierten Denkens. Offen gestanden ist oft eines meiner Gedankengebäude zusammengebrochen, wenn ich es in der Vorlesung darstellen wollte. Zudem zwingt die Lehre zu einem Überblick über das Ganze. Lehrt man, dann wird man nicht nur zu einem Fachidioten für Vermögensdelikte, für den indirekten Tatbestandsirrtum oder für ähnlichen Kleinkram, sondern beschäftigt sich mit dem ganzen Allgemeinen und dem ganzen Besonderen Teil, nebst den Grundlagen.

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Schmoeckel: Gestatten Sie als abschließende Frage: Was würden Sie einem jungen Studenten, insbesondere für Strafrecht - aber nicht nur - in die Hand geben als Lektüre, die das Studium beeinflussen und erleichtern soll?

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Das kommt darauf an. Ich müsste erst mit der Person mindestens eine halbe Stunde in Ruhe darüber sprechen, was sie auf der Schule gemacht hat, was die werden will, und danach kann ich bei einem glücklichen Verlauf des Gesprächs einiges empfehlen: einem philosophischen Kopf vielleicht eine Vorlesungsnachschrift von Hegels Rechtsphilosophie (Es gibt gut zu verstehende Vorlesungsnachschriften! Bei Hegel selbst denkt mancher Leser: „Was meint der Mann überhaupt?“ Manche Mitschriften sind weniger komplex).

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Dieser Weg wäre aber für jemanden, der ein international tätiger Rechtsanwalt werden will, völlig falsch. Dieser Person würde ich ein paar einschlägige Urteile zur Lektüre geben.

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Wer die jeweiligen Grenzen von Recht, Moral und Politik erkunden möchte, den würde ich auf Entscheidungen des Verfassungsgerichts verweisen, etwa auf die jüngst ergangene Entscheidung über die Unmöglichkeit, einen Vater zu zwingen, Kontakte zu seinem Kind aufzunehmen7.

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Es kommt also ganz drauf an, was zu den jungen Adepten passen würde. Sollen sie kommen! Ich werde eine halbe Stunde Zeit für sie haben und sie gehen mit einer Lektürenotiz wieder heraus.

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Schmoeckel: Vielen Dank, Herr Jakobs, für dieses so ausgiebige wie freimütige Gespräch!

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Ich danke auch!

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Fußnoten:

1 Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, seinerzeit 2. Auflage, 1955, später 4. Auflage, 1962.

2 Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage, 1969.

3 Damit ist der von der Großen Strafrechtskommission erarbeitete Gesetzesentwurf von 1962 gemeint.

4 In München erzählte man sich in den 1990ern folgenden Witz: Die drei Strafrechtslehrer Regensburgs streiten sich, wer der größte unter ihnen sei. Kollege A behauptete es von sich, Kollege B erwiderte, Gott habe ihm mitgeteilt, dass er der Größte sei. Darauf fragte Jakobs: „Was habe ich gesagt?“

5 § 49 a RStGB, heute § 30 II StGB - „Duchesne-Paragraph“.

6 Unter dem Titel „Diabolische Potenz – ein neues fatales Denken: Das Feindstrafrecht von Jakobs“ in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. März 2005.

7 1 BvR 1620/04 vom 1. 4. 2008

Beitrag vom 24. Oktober 2008
© 2008 fhi
ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
24. Oktober 2008