Zeitschrift Debatten Richterkulturen

Peter Oestmann

Zum Richterleitbild im 19. Jahrhundert: Das Beispiel des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands

In einer Debatte über Richterkulturen darf eines der angesehensten deutschen Gerichte des 19. Jahrhunderts nicht fehlen. Vor der Eröffnung des Leipziger Reichsgerichts bzw. des Bundesoberhandelsgerichts 1870/79 war das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands der vielleicht wichtigste Gerichtshof in Zivil- und Handelssachen. Wenn Albrecht Cordes in seinem Eröffnungsaufsatz der aktuellen Diskussion die Brücke von den Richterpersönlichkeiten hin zu den Gerichtsurteilen schlägt1, mag es für alle historischen Epochen plausibel sein, dass man die Rechtsprechung besser versteht, wenn man die Personen kennt, die bestimmte Entscheidungen gefällt haben. In der älteren Zeit scheint das im Detail nicht einfach festzustellen zu sein. Was man über die Lebenswege der altbabylonischen Richter wirklich noch an Feinheiten ermitteln kann, ist oftmals nur wenig2. Über die spätmittelalterlichen Dinggenossen in Ingelheim mag man etwas mehr wissen, einzelne Lebensläufe jenseits bloßer Personennamen und echte Charakterbilder wird man aber weder aus den Oberhofurteilen noch aus den Haderbüchern herauslesen können3. In der frühen Neuzeit ändert sich das Bild, jedenfalls in der Wetzlarer Epoche des Reichskammergerichts ab dem späten 17. Jahrhundert. Die Assessoren des Kammergerichts sind allesamt namentlich bekannt, die feinstmaschige Erarbeitung von Lebensläufen ist möglich, wenn auch zugleich eine Lebensaufgabe4. Dennoch dürfte es hier aus anderen Gründen Schwierigkeiten geben, den Einfluss der Persönlichkeit auf die Rechtsprechung nachzuzeichnen, weil bekanntlich die meisten kammergerichtlichen Verfahren ohne Urteil versandeten. Das Oberappellationsgericht Lübeck ist demgegenüber ein Glücksfall in doppelter Hinsicht. Zum einen war die Zahl der Richter überschaubar klein. Es gab nur einen Präsidenten und sechs Räte5. Zum anderen wurden fast 90 % aller anfallenden Streitsachen durch Urteil entschieden6. Das macht die Annäherung leicht und auch die von Albrecht Cordes gewünschte Zuspitzung nicht zu bloßer Spekulation.

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Dass gerade das 19. Jahrhundert ein gewichtiges Wort in der Richterdebatte mitzureden hat, macht schon der erste Blick in einen der Schlüsseltexte klar. Unter der Überschrift „Was wir thun sollen wo keine Gesetzbücher sind“ betonte Savigny 1814, ein „löblicher Zustand“ des bürgerlichen Rechts sei von drei Stücken abhängig, nämlich von einer zureichenden Rechtsquelle, „dann einem zuverlässigen Personal, endlich einer zweckmäßigen Form des Prozesses“7. Zuverlässiges Personal in diesem Sinne waren die wissenschaftlich ausgebildeten Berufsrichter, wie sie in Lübeck ab 1820 für mehr als ein halbes Jahrhundert die Rechtspraxis prägten.

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Vorweg ist eine kleine terminologische Bemerkung angebracht. Um nicht in den Verdacht zu geraten, die hier diskutierten „Richterkulturen“ seien unmittelbarer Ausfluss einer kulturalistischen Wende in den Geschichtswissenschaften8, ist es unverfänglicher, von Richterleitbildern zu sprechen. Hans Hattenhauer hat dazu eine Skizze für das 19. und 20. Jahrhundert geliefert, freilich ohne Tiefgang für die Zeit vor 19009. Welches Richterleitbild zeigt sich nun beim Blick nach Lübeck?

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Der erste Gesichtspunkt klingt vergleichsweise unwichtig, ist aber dennoch bemerkenswert: Das Oberappellationsgericht besaß von Anfang an eine Sonderstellung unter den drittinstanzlichen deutschen Gerichten des 19. Jahrhunderts. Die Deutsche Bundesakte von 1815 sah einen dreistufigen Gerichtsaufbau in Staaten mit mehr als 300.000 Einwohnern vor. Kleinere Bundesstaaten sollten sich zur Bildung von Oberappellationsgerichten zusammenschließen, wenn dadurch der Gerichtssprengel mindestens 300.000 Menschen umschloss. Doch für die vier freien Städte galt eine Ausnahme. Sie durften gemeinsam ein Oberappellationsgericht errichten, auch wenn sie die kritische Bevölkerungszahl nicht erreichten10. In der Bundesakte steht diese Bestimmung unmittelbar vor dem folgenden heute viel bekannteren Artikel, der die Garantie zur Gewährung landständischer Verfassungen betraf. Die Gewichtung im 19. Jahrhundert war jedenfalls in der maßgeblichen normativen Quelle genau umgekehrt. Eng mit der Sonderstellung verbunden war der Sitz des 1820 eröffneten Gerichts. Es handelte sich um die kleinste der vier freien Städte, dafür aber diejenige mit der größten Rechtstradition11.

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Das hervorstechendste Merkmal des Oberappellationsgerichts Lübeck war die Verbindung von Wissenschaft und Praxis. Auch vor 1800 gab es häufig Professoren, die nach ihrer Tätigkeit an einer Universität in den Richterdienst übertraten, man denke nur an Benedikt Carpzov, David Mevius oder Erich Mauritius. Aber es gab doch immer Kompromisse. Ein rechtsgelehrter Vizepräsident stand üblicherweise einem adligen Gerichtspräsidenten zur Seite, dessen juristische Qualifikation durchaus bescheiden sein konnte. Die streng praktische Ausrichtung des Usus modernus führte zudem dazu, dass auch die frühneuzeitlichen Universitätsjuristen eher selten mit großem systematischen oder theoriebildenden Anspruch tätig waren. Das sollte in Lübeck nach 1820 anders werden. Es war sicherlich ein Paukenschlag, als 1819 die Anfrage an Savigny erging, als erster Präsident des neuen Gerichtshofs von Berlin nach Lübeck zu wechseln12. Savigny lehnte bekanntlich ab, aber das tut hier nichts zur Sache. Der Berufungsversuch zeigt dennoch das Selbstbewusstsein der vier Städte, einen überregional bekannten erstrangigen Wissenschaftler für den Wechsel an ein Obergericht zu gewinnen. Dies vor Augen sollte man nicht vergessen, dass der schließlich berufene Georg Arnold Heise von Savigny empfohlen worden war. Heises Bedeutung wird heute vielleicht unterschätzt. Bedenkt man jedoch, dass die Gliederung des BGB in fünf Bücher auf Heises Pandektengrundriss zurückgeht, wird schlagartig seine Bedeutung für die zivilrechtliche Systembildung klar13. Als Professor in Heidelberg und Göttingen vermochte er es jedenfalls, hunderte von Studenten für sich zu begeistern. Als nach Heises Tod 1851 ein neuer Präsident gesucht wurde, fiel die Wahl auf Carl Georg von Wächter, der gerade in dieser Zeit als einer der größten deutschen Juristen gehandelt wurde14. Nach nur einem Jahr zog es Wächter nach Leipzig, und zum Nachfolger ernannte man Johann Friedrich Martin Kierulff, zuvor Professor in Kiel und Rostock, der bis zur Auflösung des Oberappellationsgerichts dem Kollegium vorstand15. Es ging also um namhafte Professoren an der Spitze des Gerichts, auch wenn sie wie Heise und Kierulff unmittelbar zuvor bereits in der Praxis tätig gewesen waren. Ein Jahr nach der Auflösung des Gerichts meinte 1880 kein geringerer als Bernhard Windscheid, in der Zeit um 1850 habe es in Deutschland für wissenschaftlich bestrebte Juristen zwei höchste Ehren gegeben, nämlich entweder Nachfolger Savignys in Berlin oder Nachfolger Heises in Lübeck zu werden16. Der Lübecker Präsidentensessel erschien gleichwertig mit dem berühmtesten deutschen juristischen Lehrstuhl. Dazu passt es, wenn Rudolf von Jhering in einem Nachruf für den Oberappellationsgerichtsrat Agathon Wunderlich vom Lübecker Gericht als Deutschlands gelehrtem Gerichtshof sprach17. Für die einzelnen Oberappellationsgerichtsräte könnte man die Prüfung ihrer Wissenschaftlichkeit ebenfalls durchführen. Dies würde aber den bisherigen Eindruck lediglich verfestigen.

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Eng verbunden mit der streng wissenschaftlichen Ausrichtung war der beeindruckende Fleiß der Gerichtsmitglieder. In den Gerichtsakten sind die Relationen der jeweils zuständigen Räte enthalten, feinsäuberlich versehen mit den Daten der Aktenausgabe und Rückgabe. Deswegen lässt sich ermitteln, dass die Durcharbeit und Votierung selbst umfangreicher Streitigkeiten regelmäßig nur wenige Wochen in Anspruch nahm. Übertrumpft wurde diese bemerkenswerte Leistung lediglich durch den Gerichtspräsidenten Heise selbst. Zusätzlich zu den ohnehin zuständigen Räten nahm er zahlreiche Akten selbst mit nach Hause und fertigte dazu ebenfalls Relationen an. Dazu gibt es noch keine verlässlichen Erhebungen, aber offenbar bearbeitete Heise als Präsident drei- bis fünfmal so viele Akten wie seine Kollegen. Das ist ein grundsätzlich anderes Amtsverständnis als in der Zeit vor 1800, als sich bei fortdauernder deutschrechtlicher Trennung von Richter und Urteiler der jeweilige Gerichtspräsident in erster Linie als Repräsentant des Gerichtsherrn, nicht aber als urteilender Jurist verstand.

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In diesem Lichte gewinnen die mehrfach überlieferten Klagen über mangelnde wissenschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten anderes Gewicht. Carl Georg von Wächter schrieb Anfang 1852 von Lübeck aus an einen Freund, die Gründlichkeit des Oberappellationsgerichts Lübeck gehe ihm „etwas zu weit“, und er habe zu viel zu tun18. Ersichtlich fühlte er sich nicht wohl und verließ nach nur einem Jahr Lübeck, um eine neue Professur in Leipzig anzutreten. Trotzdem war er in seiner kurzen Amtszeit pflichtbewusst genug, die Korrelationen nicht an andere Räte abzugeben, sondern sie wie Heise selbst zu verfassen. Mangelnde wissenschaftliche Entfaltungsfreiheit in Lübeck war auch ein Punkt, über den Heise mit seinen Kollegen mehrfach sprach. Wegen Arbeitsüberlastung weigerte er sich, halbfertige Sachen zu veröffentlichen oder größere Bücher in Angriff zu nehmen. So erschien seine Handelsrechtsvorlesung erst mit mehreren Jahrzehnten Verspätung postum im Druck. Doch diese Sichtweise, auch wenn sie in Selbstzeugnissen überliefert ist, geht fehl. Zum einen gab es durchaus Gerichtsmitglieder, die in Lübeck eigenständige Werke von bleibendem Wert vorgelegt haben. Man denke etwa an die quellenkritische Edition des mittelalterlichen lübischen Rechts durch Johann Friedrich Hach 183919 oder an die zahlreichen Abhandlungen von Carl Wilhelm Pauli20.

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Noch wichtiger ist freilich das Niveau der Entscheidungen selbst. Jhering betonte, die Urteile des Lübecker Oberappellationsgerichts seien „Meisterstücke, gleichmäßig nach Form und Inhalt, Leistungen die auf wenigen Seiten ganze dickleibige juristische Monographien aufwogen“21. Die Verbindung von Wissenschaft und Praxis zeigte sich in Lübeck also nicht, jedenfalls nicht vorrangig, durch wissenschaftliche Veröffentlichungen neben der richterlichen Tätigkeit, sondern gerade in dieser richterlichen Tätigkeit selbst. Es ist kaum ein Zufall, dass der bezeichnende Literaturtyp der „Nebenstunden“ in Lübeck nicht mehr gepflegt wurde. Juristen des 18. Jahrhundert haben ihre vertiefte Analyse der eigenen Rechtsprechung in ihrer Freizeit, also in den Nebenstunden neben ihrem Dienst, vorgenommen. In Lübeck war diese Trennung aufgelöst. Kommentierte Entscheidungen waren keine Nebenstunden mehr, sondern Abhandlungen22. Was das für die Urteile selbst bedeutet, soll sogleich gezeigt werden.

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Zuvor ist ein weiterer Hinweis vonnöten. Das wissenschaftliche Niveau des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte konnte sich entfalten und überregionale Beachtung finden, obwohl das Gericht zugleich in ganz traditionelle Formen eingebunden war. Das Verfahren in Zivilsachen blieb bis 1879 rein schriftlich. Es gab weder mündliche Verhandlungen noch feierliche Audienzen. Ein schöner ovaler Tisch, also ein vergleichsweise schlichtes Arbeitsgerät, war die zentrale Ausstattung des Gerichtsgebäudes im ehemaligen Kompaniehaus der patrizischen Zirkelgesellschaft. Als in Strafsachen der Öffentlichkeitsgrundsatz eingeführt wurde, musste sogar das Gerichtsgebäude 1864 umgebaut werden, weil es zuvor gar nicht die räumlichen Voraussetzungen dafür gab, dass Besucher Gerichtsverhandlungen beiwohnen konnten23. Rückwärtsgewandt erscheint auch das formale Festhalten an der gesetzlichen Beweistheorie. Es gab am Oberappellationsgericht Lübeck weiterhin Suppletionseide, Eideszuschiebung und Reinigungseide, ganz wie hunderte von Jahren zuvor auch schon. Sogar von Beweisurteilen der städtischen Gerichte konnte man an das Oberappellationsgericht appellieren mit dem Nachteil, dass derselbe Prozess wegen winzigster Beweisfragen im Laufe der Jahre mehrfach den Instanzenzug auf- und abwanderte. Kurios mutet auch die fortbestehende Aktenversendung an, die sogar in der Bundesakte von 1815 ausdrücklich vorgeschrieben war24. All das war das Gegenteil von Modernität. Dennoch scheint der traditionelle Rahmen die inhaltlich-juristische Tätigkeit der Juristen kaum begrenzt zu haben. Innerhalb der Beweisurteile ging es regelmäßig um materiellrechtliche Fragen, die dogmatisch über ein bloßes Einzelfallproblem weit hinausgingen.

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Das leitet zum nächsten Gesichtspunkt über. Das Oberappellationsgericht war bestrebt, in seinen Entscheidungsbegründungen möglichst allgemeine, übergreifende Rechtsgrundsätze aufzustellen, unter die es dann selbst subsumierte. Es ging ersichtlich nicht um Kasuistik. Der wissenschaftliche Anspruch der Gerichtsmitglieder bewährte sich an solchen Weichenstellungen, wenn es darum ging, scheinbare Details des Seehandels oder des Kaufmannsrechts auf übergreifende Rechtssätze zurückzuführen25. Das führte in den Grundfragen zu einem hohen Maß an Rechtssicherheit, die dringend geboten war, weil es zu den wesentlichen Rechtsfragen ja kaum zeitgenössische Gesetze gab. Das Gericht berief sich zwar mehrfach auf ältere Quellen vom Corpus Juris Civilis über das kanonische Recht bis zu den Stadtrechten der freien Städte, lehnte sich aber auch an moderne ausländische Literatur an und bezog oftmals die „Natur der Sache“ ein, eine Rechtsfigur, die vor allem Georg Arnold Heise stark gemacht hatte26. Dennoch war das keine partikularrechtliche Beengtheit. Anders wäre auch kaum verständlich, dass die Entscheidungen des Gerichts von den Zeitgenossen so positiv aufgenommen wurden, denn die häufigen seerechtlichen Fälle konnten in ihren Details ja nur für ganz wenige norddeutsche Gerichte überhaupt einschlägig sein. Die großen Linien dagegen waren unabhängig von den Feinheiten des Sachverhalts. Insoweit standen die Gerichtsmitglieder tatsächlich über den Dingen. Zugespitzt könnte man sagen: Die Obersätze für ihre Subsumtionen schufen sie sich selbst. Besonders augenfällig ist das in den handelsrechtlichen Entscheidungen. Gerade die frühen Urteile des Lübecker Gerichts ergingen zu einem Zeitpunkt, als die großen deutschen Lehrbücher von Thöl und Goldschmidt noch gar nicht geschrieben waren. Vielmehr war es umgekehrt. Thöl reiste nach Lübeck, las dort die Entscheidungen und verfasste auf dieser Grundlage sein Lehrbuch. Dort findet sich der schöne Satz, aus den Akten wehe einem ein Geist entgegen „kräftig und frisch, wie reine Seeluft“27.

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Erfolgreich in der Außenwahrnehmung war die Verbindung von wissenschaftlich geschultem Personal und abstrakt-generellen Weichenstellungen in den Entscheidungsgründen durch die vielfältigen Möglichkeiten der Urteilsveröffentlichungen. Solche Publikationen gab es in Form der sog. Entscheidungsliteratur in Deutschland seit dem späten 16. Jahrhundert28. Die Veröffentlichung von Entscheidungsgründen durch die Gerichtsmitglieder war auch eine in Lübeck gepflegte Tradition. Zugleich zeigt sich eine Neuerung gegenüber dem Ancien Régime. Immer häufiger gab es Entscheidungspublikationen, die nicht mehr eine Privatperson als Verfasser oder als Herausgeber nannten, sondern vom Gericht amtlich ediert wurden. Das Reichskammergericht hatte 1800 damit begonnen29, doch waren die bloßen Tenorierungen ohne Hinweis auf Sachverhalte und Entscheidungsgründe wenig hilfreich für die Rechtsfortbildung. In Lübeck, aber auch vor anderen Obergerichten des 19. Jahrhunderts, wurde es zunehmend üblich, Gerichtsurteile amtlich mit Tatbestand und Entscheidungsgründen mehr oder weniger umfassend zu publizieren30. Ebenso standen fortan juristische Zeitschriften für die Mitteilung von Gerichtsentscheidungen zur Verfügung, allen voran das zentrale Seufferts Archiv31. Und genau hier verschwanden die Richterpersönlichkeiten wieder ganz hinter ihren Entscheidungen. Wer für ein bestimmtes Urteil verantwortlich zeichnete, war nach außen nicht erkennbar. Nur der Blick in die Akten enthüllt die Geschäftsverteilung. Das ist vielleicht der entscheidende Unterschied zwischen einem Wissenschaftler und einem Praktiker im Sinne des 19. Jahrhunderts. Der Wissenschaftler stand mit seinem Namen für eine bestimmte Lehrmeinung ein. Der Richter verkörperte eine Institution und verschwand hinter ihr, auch wenn es sich um einen namhaften Gelehrten handelte. Insoweit war er wirklich „bouche de la loi“, ganz so wie im 18. Jahrhundert der bayerische Gesetzgeber Kreittmayr, der seine eigenen Kodifikationen kommentierte, zunächst 1752 das Strafrecht anonym, dann 1754 das Prozessrecht mit seinen Initialen und erst ab 1757 schließlich das Zivilrecht unter seinem vollen Namen32.

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Ein letzter Gesichtspunkt mag auf Zufällen der Aktenüberlieferung beruhen, denn die Prozessakten des Oberappellationsgerichts Lübeck enthalten üblicherweise keine Acta priora. Es sind also nur Quellen der dritten Instanz erhalten. In diesen fällt aber ein ganz deutlicher Unterschied zu den weitschweifigen Schriftsätzen aus Reichskammergerichtsprozessen des Alten Reiches ins Auge. Insgesamt verliefen die Auseinandersetzung sachlicher und weniger emotional. Die hohe Professionalität der Richter und ihre wissenschaftliche Ernsthaftigkeit kann durchaus das anwaltliche Argumentationsverhalten geprägt haben. Mit lediglich gefühligen Hinweisen auf die schwierige Situation bestimmter Mandanten konnte man vor dem Oberappellationsgericht möglicherweise nicht punkten. Der Anwalt einiger Lübecker Kaufleute, die Schmuggelgut nach Russland geliefert hatten, obwohl dort der Import solcher Waren verboten war, hatte kein Problem, das Verhalten seiner Mandanten zu rechtfertigen. Wenn der Prediger der Moral etwas daran auszusetzen habe, meinte er, „so ruft der Jurist ihm zu: daß im Staate erlaubt sey, was nicht im Staate verboten worden“ sei33. Die Trennung von Recht und Moral kann durchaus die Konsequenz eines Richterleitbildes sein, das auf wissenschaftliche Stoffdurchdringung, abstrakt-generelle Lösungen und hohe Rechtssicherheit setzt und sich nicht in bloßen Billigkeitserwägungen ergeht. Der Verzicht auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz war dafür sicherlich hilfreich, denn es gab immer Entscheidungen ohne Ansehen der Person im ganz wörtlichen Sinne.

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Möglicherweise war das Oberappellationsgericht der vier freien Städte nicht so einzigartig, wie es in diesem Beitrag den Anschein hat. Es gab andere deutsche Oberappellationsgerichte, die vielleicht ähnlich besetzt waren und deren Entscheidungen ebenfalls wissenschaftliches Niveau erreichten34. Die Zeitgenossen verwiesen aber immer auf Lübeck. Vielleicht hat kein anderes deutsches Gericht diese einzigartige Qualität erreicht – weder vorher noch später, ähnlich wie die Paulskirchenversammlung mit ihrem einzigartig gebliebenen Anteil an Professoren der Rechtswissenschaft35. Die untrennbare Einheit von Wissenschaft und Praxis, also das Richterleitbild vom wissenschaftlichen Praktiker, steht für ein Ideal von Rechtswissenschaft fernab bloßer Handwerklichkeit. Wenn Savigny auf der Suche nach zuverlässigem Personal war, um auch ohne Kodifikation Rechtssicherheit und systematisch-dogmatische Stimmigkeit vor Gericht zu erreichen, so wurde er vielleicht nicht an der Spree fündig, wohl aber an der Trave.

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Fußnoten:

1 Albrecht Cordes, Die Lübecker Ratsherren als Richter, in: forum historiae iuris vom 19. August 2010 (http://www.forhistiur.de/zitat/1008cordes.htm), Rn. 1.

2 Guido Pfeifer, Judizielle Autorität im Gegenlicht: Richter in altbabylonischer Zeit, in: forum historiae iuris vom 19. August 2010 (http://www.forhistiur.de/zitat/1008pfeifer.htm), Rn. 4-5.

3 Alexander Krey, Nichtgelehrte Konfliktlösungsstrategien im späten Mittelalter, in: forum historiae iuris vom 31. August 2010 (http://forhistiur.de/zitat/1008krey.htm).

4 Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil II: Biographien (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26/II/1-2), Köln, Weimar, Wien 2003.

5 Gerichtsordnung des OAG Lübeck § 2, leicht zugänglich bei Katalin Polgar, Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands (1820-1879) und seine Richterpersönlichkeiten (Rechtshistorische Reihe 330), Frankfurt am Main 2007, S. 271.

6 Ermittelt anhand der jeweils 300 frühesten Zivilprozesse aus den vier Städten nach Auskunft des Repertoriums: Gesamtinventar der Akten des Oberappellationsgerichts der vier Freien Städte Deutschlands, 6 Bände, Köln, Weimar, Wien 1994/96.

7 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Hidetake Akamatsu/Joachim Rückert (Hrsg.), Friedrich Carl von Savigny, Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“ (Ius Commune, Sonderheft 135/Savignyana 5), Frankfurt am Main 2000, S. 215-300 (273).

8 Zum Verhältnis von Kulturgeschichte und Rechtsgeschichte Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: ZRG Germ. Abt. 127 (2010), S. 1-32.

9 Hans Hattenhauer, Wandlungen des Richterleitbildes im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 1989, S. 9-33.

10 Deutsche Bundesakte 1815 Art. XII, bei Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. Tübingen 1913, Nr. 218 S. 543.

11 Kleiner Überblick über das lübische Recht bei Wilhelm Ebel, Lübisches Recht, 1. Band, Lübeck 1971; ders., Jurisprudencia Lubecensis. Bibliographie des lübischen Rechts (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 5), Lübeck 1980.

12 Brief Savignys vom 17. Juli 1819, bei Adolf Stoll, Friedrich Karl von Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Sammlung seiner Briefe, Bd. 2, Berlin 1929, Nr. 352 S. 259-260.

13 Knapper Hinweis auch in studentischen Lehrbüchern, etwa bei Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, 10. Aufl. Heidelberg 2005, 153.

14 Polgar, Oberappellationsgericht (wie Anm. 5), S. 179.

15 Polgar, Oberappellationsgericht (wie Anm. 5), S. 190-191; ergänzend zu seinem zivilrechtlichen Werk Jörn Eckert, Johann Friedrich Martin Kierulff (1806-1894). Vom Universitätsprofessor zum Präsidenten des Oberapellationsgerichts zu Lübeck, in: ders./Pia Letto-Vanamo/Kjell Å. Modéer (Hrsg.), Juristen im Ostseeraum. Dritter Rechtshistorikertag im Ostseeraum 20.-22. Mai 2004, Frankfurt am Main 2007, S. 31-43.

16 Bernhard Windscheid, Carl Georg von Waechter, Leipzig 1880, S. 14-15.

17 Rudolf von Jhering, Agathon Wunderlich. Ein Nachruf, in: [Jherings] Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 17 (1879), S. 145-157 (156).

18 Zitat bei Polgar, Oberappellationsgericht (wie Anm. 5), S. 187.

19 Johann Friedrich Hach (Hrsg.), Das Alte Lübische Recht, Lübeck 1839.

20 Nachgewiesen bei Ebel, Jurisprudencia (wie Anm. 11), Nr. 0920-0929.

21 Jhering, Wunderlich (wie Anm. 17), S. 156.

22 Georg Arnold Heise/Friedrich Cropp, Juristische Abhandlungen mit Entscheidungen des Oberappellationsgericht der vier freien Städte, Hamburg 1827/30; stärker rechtshistorisch: Carl Wilhelm Pauli, Abhandlungen aus dem Lübischen Rechte. Größtentheils nach ungedruckten Quellen, Lübeck 1837/65.

23 Polgar, Oberappellationsgericht (wie Anm. 5), S. 86.

24 Deutsche Bundesakte 1815 Art. XII, bei Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 10), S. 543.

25 Beispiel bei Peter Oestmann, The Unification of Law via the Institution of Jurisdiction in the 19th Century: Commercial Law before the High Court of Appeal of the Four Free Cities of Germany, in: Juridica International (Tartu) 16 (2009), S. 224-230.

26 John Karl-Heinz Montag, Die Lehrdarstellung des Handelsrechts von Georg Friedrich von Martens bis Meno Pöhls. Die Wissenschaft vom Handelsrecht im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe 48), Frankfurt am Main 1986.

27 Heinrich Thöl, Das Handelsrecht, Bd. 1, 1. Aufl. Göttingen 1841, Vorrede.

28 Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands (Ius Commune. Sonderheft 3), Frankfurt am Main 1974.

29 Gehrke, Entscheidungsliteratur (wie Anm. 28), S. 83 Nr. 10; dort unter Nr. 9 auch zu einer älteren Sammlung aus Celle.

30 Überblick über die diversen Lübecker Sammlungen bei Klaus-J. Lorenzen Schmidt (Bearb.), Gesamtinventar (wie Anm. 6), 1. Band, S. 19-20.

31 Chronologisch-alphabetisches Verzeichniß der bei dem Oberappellations-Gericht zu Lübeck verhandelten in Band I-XV von "J. A. Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten" mitgetheilten Rechtssachen, Stuttgart ca. 1863.

32 Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. Heidelberg 208, S. 247.

33 Archiv der Hansestadt Lübeck OAG L I 22a Nr. 1: Einführung und Rechtfertigung der Appellation, S. 59.

34 Schlaglicht auf Hessen bei Frank Theisen, Zwischen Machtspruch und Unabhängigkeit. Kurhessische Rechtsprechung von 1821-1848 (Dissertationen zur Rechtsgeschichte 7), Köln, Weimar, Wien 1997.

35 Zur Zusammensetzung der Paulskirchenversammlung Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 6. Aufl. München 2009, S. 238.

Beitrag vom 10. Mai 2011
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ISSN: 1860-5605
Erstveröffentlichung
10. Mai 2011

  • Zitiervorschlag Peter Oestmann, Zum Richterleitbild im 19. Jahrhundert: Das Beispiel des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands (10. Mai 2011), in forum historiae iuris, https://forhistiur.net2011-05-oestmann