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Rechtsgeschichte als juristische Kultur- und Ideengeschichte – Marcel Senns rechtshistorisches Vermächtnis

30. Juli 2025

Der folgende Nachruf zu Ehren von Prof. Dr. Marcel Senn wurde von Prof. Dr. Lukas Gschwend* verfasst und am 16. Juni 2025 vorgetragen im Rahmen der an der Universität Zürich gehaltenen Veranstaltung "Zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie: Ein Symposium in Erinnerung an Prof. Dr. Marcel Senn".

Prof. Dr. Marcel Senn (26.3.1954–13.6.2024) hat die juristischen Grundlagenfächer, insbesondere die Rechtsgeschichte und die Rechtsphilosophie, an der Universität Zürich seit 1995 in Forschung und Lehre bis zu seinem jähen Hinschied vor einem Jahr geprägt.

Mit der juristischen Zeitgeschichte integrierte er bald nach Antritt seiner Lehrtätigkeit ein damals pionierhaftes, von ihm massgeblich mitentwickeltes rechtshistorisches Spezialgebiet ins Zürcher rechtswissenschaftliche Curriculum, was auch zu einer entsprechenden Erweiterung der Lehrstuhlwidmung führte.[1] Bereits zwei Jahre nach Amtsantritt lancierte Marcel Senn 1997 sein eigenes Lehrbuch, was manche begrüssten, andere irritierte, hatten doch die Zürcher Rechtshistoriker mit Blick auf die bestehende hochkarätige Literatur in den vergangenen Jahrzehnten keinen Bedarf für ein eigenes Lehrbuch erkannt.[2] Damit wurde rasch klar, dass Marcel Senn keineswegs geruhte, in den Fussspuren seiner Lehrer zu wandeln, sondern sein Fach neu entwickeln wollte. Auch machte er so den Anspruch geltend, gewissermassen einen Kanon der Rechtsgeschichte für die Lehre an seiner Universität zu definieren.

Die klassische, stark an traditionellen Rechtsquellen ausgerichtete institutionsgeschichtliche Perspektive, wie sie Karl Siegfried Bader, Peter Liver, Louis Carlen oder Ferdinand Elsener verfolgt hatten, interessierte ihn eher beiläufig. Für die vorstaatliche und antike Rechtsgeschichte konnte er sich nur mit Blick auf ausgewählte Fragen erwärmen. Ähnliches galt für das Kirchenrecht. Das Recht des ländlichen Raums und die rechtliche Volkskunde fanden höchstens in allgemeinen Entwicklungslinien seine Neigung. Der Strafrechtsgeschichte galt wohl sein theoretisches Interesse, doch widerstrebten ihm die greifbaren Details. Seine rechtshistorische Kulturgeschichte sollte keine Geschichte der Gerichtsbarkeit im Geiste von tausend Jahren Grausamkeit sein, wie Wolfgang Schild eines seiner Werke nannte.[3] Die innovative Interpretation der Rechtsgeschichte durch Pio Caroni erschien ihm zu privatrechtslastig, doch interessierte ihn dessen sozialgeschichtlicher Fokus. Mit Karl-Heinz Burmeisters ausgeprägt regional-rechtshistorisch deskriptiven Arbeiten konnte er wenig anfangen, obschon er dessen enorme Fachkunde im Bereich des juristischen Humanismus bewunderte und in ihm auch einen bedeutenden Kulturhistoriker erkannte.

Kulturwissenschaftliche Rechtsgeschichte - 

Juristische Ideengeschichte und Wissenschaftsgeschichte

Die Zürcher Rechtshistoriker Clausdieter Schott (1936–2023) und Claudio Soliva (1929–2017) hatten die Rechtsgeschichte sowohl thematisch als auch methodologisch geöffnet, ohne sich aber von der genannten Tradition zu lösen. Marcel Senn, der im rechtshistorischen Forschungsuniversum von Clausdieter Schott sowohl seine wissenschaftlichen Wurzeln als auch Inspiration und bis zur Berufung Förderung erfahren hatte, stiess die Türe noch weiter auf und interpretierte die Rechtsgeschichte vorrangig als Kultur-, Wissenschafts- und Ideengeschichte. Das war für sich genommen nicht neu. Dass das Recht sich ohne historisch-kulturellen Hintergrund nicht verstehen lässt, erläuterte schon Johann Gottfried Herder. Auch die Etikette war nicht innovativ, erschien doch 1976 die Festschrift für Adalbert Erler unter dem Titel «Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte».[4] Neuartig an Marcel Senns Lehrbuch «Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss» von 1997 war die stark strukturierte, fachübergreifend beleuchtete und doch auf wichtige Merkpunkte reduzierte Art der Darstellung der Entwicklung des Rechts und des Staates als Zivilisations- und Kulturphänomen im Sinne einer historisch-theoretischen Wissenschaftsdisziplin. Später verstand er die Rechtsgeschichte immer mehr als juristische Wissenschaftsgeschichte.[5] Auch war das Buch nicht nur eine rechtshistorische Darstellung, sondern ein modernes, didaktisch orientiertes Lehrbuch mit Bildern, Schemen, Registern, Chronologie und Biographien. Bereits die Dissertation «Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel. Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte» von 1982 zeichnete sich aus durch kategoriale Strukturen, ausgeprägten Ordnungssinn und klares problembezogenes Identifizieren, Zuordnen, Abgrenzen, bisweilen auch Konstruieren, der roten Fäden.[6] In diesem abgeklärten und selbstbewussten Einordnen von Phänomenologischem und systematischem Gliedern und Verknüpfen der Gedanken als Bestandteil und Voraussetzung wissenschaftlichen Beherrschens sah Marcel Senn seine akademische Aufgabe – nicht im Sammeln, Bestaunen und Beschreiben.

Das Verstehen der Entwicklung von Recht und Rechtswissenschaft war für ihn ein forschendes Durchdringen wesentlicher Literatur- und Quelleninformationen, das sehr bald in einen zielgerichteten, gestaltenden Gliederungs-, Strukturierungs- und Ordnungsprozess überging. Dieser Prozess war nicht durch systematisches Abgreifen weitläufiger Quellenfundi oder gar rechtsdogmatische Analyse bestimmt, sondern durch ein gezieltes Suchen und Präparieren der roten Entwicklungsfäden, wie sie in der Ideen- und Zivilisations-, bzw. Kulturgeschichte der jeweiligen Epoche fachübergreifend aufscheinen. Marcel Senn diente dem Fach nicht in der archivalischen Bedeutung für die Rechtswissenschaft, vielmehr nutzte und entwickelte er die Rechtsgeschichte im Sinne ihrer Reflexionsfunktion.[7] Dabei folgte er stets juristisch geprägten Arbeitsmethoden und Erkenntniszielen, die ihm nicht nur theoretisch, sondern auch aus der Gerichtspraxis vertraut waren. Er erschloss die historischen Sachverhalte gewissermassen im Vorwissen oder jedenfalls in einer Vorausahnung um deren Relevanz für seine Schlussfolgerungen. Er suchte in überschaubarem, aussagekräftigem Material nach Gesetzmässigkeiten, Entwicklungsprinzipien, Deutungen und Missdeutungen, welche unter Berücksichtigung spezifischer geistes- und kulturgeschichtlicher Merkmale, insbesondere Menschenbild, Wertekanon und sozialen Strukturkriterien der jeweiligen Epoche begründet werden konnten. Ihm ging es nicht nur um die Frage, wie das Recht historisch entstanden war, sondern hauptsächlich darum, mit welchem Selbstverständnis und Zweck Gesellschaften ihre Gesetze hervorbringen, wie juristische Normen legitimiert werden und welchen Einfluss ideologische, religiöse oder ökonomische Faktoren auf die Entwicklung des Rechts haben. So blieb er auch nie im ergebnisoffenen Erschliessen und Darstellen seines Stoffes stecken, verlor nie die Forschungsfrage aus den Augen, sondern erkühnte sich bald zu meist sehr gut begründeten Interpretationen, welche konkrete Erkenntnisse und Verknüpfungen erlaubten. Diese sollten dem Hauptzweck einer kulturhistorischen Rechtsgeschichte für Juristinnen und Juristen dienen: Der Befähigung zur selbständigen und kritischen Auseinandersetzung mit Grundfragen des Rechts.

Geltendes Recht sei immer das Ergebnis seiner geschichtlichen Bedingungen und Deutungen.[8] Wer diese nicht kennt und die Wirkungsmechanismen auf das historische Recht kaum begreift, wird auch das geltende Recht in seiner Bedeutung, Entstehungsdynamik und Widersprüchlichkeit nicht verstehen. «Wer geschichtlich denkt, will verstehen, und wer versteht, ist immer noch frei, das Verstandene selbständig zu beurteilen.»[9] Im Gegensatz zur dogmatischen Ausbildung, wo die Frage nach der Akzeptanz von Norm und Dogmatik nachrangig erfolgt, soll die historische Befassung mit dem Recht gerade dazu ermächtigen, Normen und Dogmen, menschliche Regelwerke unter Berücksichtigung ihrer Entstehung kritisch in Frage zu stellen. So wird eine persönliche Wertung möglich, wie sie der positivistischen Dogmatik weitgehend fremd ist. Im Gegensatz zu ideologischen müssen sich historisch begründete Wertungen aber an geschichtswissenschaftlichen Kriterien messen lassen und insbesondere die Dynamik innerer und äusserer Veränderung berücksichtigen. Dagegen sei es nicht die Aufgabe der Rechtsgeschichte, das gegenwärtig geltende Recht zu legitimieren.[10] Die historisch-kritische Untersuchung des Rechts schaffe die «Qualität einer autonomen Orientierungsnorm», die der Rechtswissenschaft eine gewisse intellektuelle Unabhängigkeit und Abgrenzungsfähigkeit «gegenüber mentalen, ideellen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Rahmenbedingungen» erlaube und das Recht vor Instrumentalisierung schütze.[11]

Eindrücklich ist die Ablehnung des Relativismus aus der historischen Einsicht der Relativität der Gegebenheiten. Rechtsideen stehen in Beziehung zu Raum und Zeit, sind daher nicht alle von gleichem Wert. Historisch fundierte Erkenntnis schützt vor Indifferenz, denn unterschiedliche Werte verändern über das Recht die Gegebenheiten in unterschiedlicher Weise und die Geschichte hilft zu erkennen, welche Entscheidungen zu welchen Dynamiken und Konsequenzen führen können.[12]

Mit diesem Ansatz gelang es Marcel Senn, vielen interessierten Studierenden, aber auch manchen Kolleginnen und Kollegen der research community, neue und aufschlussreiche rechtshistorische Einsichten zu vermitteln. Damit inspirierte er auch viele Doktorandinnen und Doktoranden. Diese kulturhistorische Dimension wurde in Rezensionen lobend hervorgehoben, da sie der deutschen bzw. mitteleuropäischen Rechtsgeschichte und aufgrund der verschiedenen Übersetzungen des Lehrbuchs in andere Sprachen auch in einem weiteren Raum neue Impulse verlieh.[13] In seinem neuesten Beitrag zu Perspektiven rechtsgeschichtlicher Forschung am Beginn des 21. Jahrhunderts in der Festgabe aus Anlass des Schweizerischen Juristentags 2025 in Zürich hebt auch Andreas Thier die Bedeutung und Chancen des Verhältnisses von Recht und Kultur für die aktuelle rechtshistorische Forschung hervor.[14]

Marcel Senn konnte beträchtlichen Mut zur Lücke beweisen und verfügte über die Gabe zur klärenden Reduktion von Komplexität, wie dies wohl für das Verfassen grosser Lehrbücher der Geschichte immer erforderlich ist. Ich erinnere mich gut, wie Marcel jedenfalls in den frühen Jahren sehr offen mit Kritik umging und diese elegant als Anregung zur Weiterentwicklung seiner Arbeit aufnahm, die er als work in progress verstand. Daher liess er bereits 1999 eine zweite überarbeitete Auflage seines Lehrbuchs folgen. Kritik ärgerte ihn dann, wenn sie ihm als mangelhaft begründete Missbilligung erschien oder wenn sie auf Missverständnisse zurückzuführen war, für die er sich verantwortlich fühlte.

Ihn bewegten – etwas akzentuiert formuliert – beispielsweise bei der historischen Reflexion des Vertrags weniger die Formen der Vertragsschliessung, dessen Zustandekommen und die Wege der Anfechtung desselben im Sinne germanistischer, romanistischer und kanonistischer Dogmatik und Gepflogenheit als vielmehr die zu erklärende Tatsache, dass Menschen, die Verträge abschliessen, sich miteinander vertragen wollen. Weshalb, wie und wozu geschieht das? Welche kulturellen Einsichten und sittlichen Anschauungen sind dazu erforderlich? Welche Beweggründe lassen sich historisch-anthropologisch bzw. sozioökonomisch, politisch, ethisch finden und wie hat die zeitgenössische Wissenschaft diese interpretiert?

Die zivilisationsgeschichtliche Dimension und die für das Zusammenleben notwendige rechtliche Bindungskraft des pacta sunt servanda als Überwindung machtpolitischer Willkür trafen den Kern seines Interesses. Im Recht sah Marcel Senn eine zentrale kulturelle Errungenschaft, die Juristinnen und Juristen theoretisch, genealogisch, soziophänomenologisch sowie funktional verstehen mussten, wollten sie einen rechtswissenschaftlichen Anspruch erheben und für das Recht wirksam einstehen können. Der in der Zivilisationsgeschichte permanenten Herausforderung des Rechts durch die Macht und der Einsicht in die kulturnotwendige Dominanz des ersteren über die letztere galten sowohl sein forschungsspezifisches Erkenntnisinteresse als auch die Lernziele seines Unterrichts.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war ihm viel stärker bewusst, dass eine Rechtsgeschichte als dogmen- und institutionsgeschichtliche Rückschau auf das Recht der Vergangenheit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr per se Pflichtfachcharakter im juristischen Curriculum beanspruchen konnte. Damals gerieten die Grundlagenfächer durch Sparbemühungen und die Verstärkung praxisrelevanter Gebiete unter Druck. Mit Francis Fukuyamas «The End of History and the Last Man» von 1992 wurde der Stellenwert auch der Rechtsgeschichte in der juristischen Ausbildung nicht eben gestärkt. Es reichte längst nicht mehr aus, die Bedeutung der rechtshistorischen Fächer in der Juristenausbildung aus der Tradition heraus zu verteidigen – es brauchte neue Argumente. Diese lieferte Marcel Senn durch seine kulturhistorische Perspektive, welche verdeutlichen sollte, dass das Recht ohne fachübergreifende kulturwissenschaftliche Grundlagen weder wissenschaftlich vermittelt noch ausreichend verstanden werden kann. Selbstverständlich wusste er, dass fleissige und intelligente Juristinnen und Juristen auch ganz ohne historische Kenntnisse durchaus fähig waren, anspruchsvolle Rechtsfälle dogmatisch richtig zu lösen. Dem universitären Anspruch entsprechend sollten sie aber auch verstehen, weshalb sie welches Recht wie anwenden und woher die Legitimation solchen Tuns stammt und ob und auf welchen Ebenen dieses Recht auch richtig ist. Marcel Senn kam nicht mehr dazu, sich mit den Auswirkungen künstlicher Intelligenz (KI) auf die Rechtswissenschaft zu befassen. Aus der Erkenntnis, dass heute bereits auch anspruchsvolle Rechtsfälle mittels KI dogmatisch oft zufriedenstellend bis sehr gut gelöst werden können, würde er die Bedeutung des genannten universitären Anspruchs und das Gewicht der juristischen Grundlagenausbildung wohl mehrfach unterstreichen.

2012 ging er in einem Beitrag in Rechtskultur mit Blick auf die Praxisrelevanz der rechtshistorischen Ausbildung noch weiter: «Mit Bezug auf die Rechtsgeschichte lässt sich meines Erachtens sehr schön zeigen, dass dieses Fach für das gesamte Rechtsverständnis unabdingbar ist, und dass die Rechtsgeschichte, wenn sie richtig betrieben wird, von grösstem Nutzen für die Juristinnen und Juristen ist, die später in der Praxis tätig sind. Die Rechtsgeschichte vermittelt zwar auch ein Verständnis betreffend die Entwicklung des Rechts. Doch ist diese Geschichte, wie alle Geschichte und jeder Sachverhalt, immer ein Konstrukt, das mit Vorsicht und kritischer Distanz zu beobachten ist; und gerade dies ist in der Rechtsgeschichte zu lernen bzw. daran sind die angehenden Juristinnen und Juristen durch eine möglichst intensive Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte zu unterrichten und in der selbständigen und praktischen Interpretation mit Texten zu beüben.»[15]

Marcel Senn kritisierte die seit den 1970er Jahren im Fachbereich aufkommende «Theoriesucht», wodurch die Rechtsgeschichte weder methodologisch noch in ihrer Ausbildungsfunktion gestärkt, sondern vielmehr und erst noch bewusst Desorientierung betrieben werde.[16] Theorien seien «nicht als abstraktes Ausdifferenzierungsvokabular, sondern selbst als historisches Derivat eines bestimmten Zeitgeistes wahrzunehmen und zu reflektieren.»[17]Die historischen Quellen würden zur Untermauerung einer Theorie instrumentalisiert. Diesem Missbrauch der Rechtsgeschichte als Steinbruch zur «Applikation einer jeweils gerade im Trend liegenden Wissenschaftstheorie oder gesellschaftspolitischen Konfession» sei ein entwicklungsoffenes kulturgeschichtliches Verständnis entgegenzusetzen.[18]

Im Nachgang zum SVRSP-Kongress «Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft» von 2007 brachte Marcel Senn in einem Interview der UZH News einige wesentliche Überlegungen zur kulturhistorischen Begründung des Rechts auf den Punkt: Er versteht unter Kultur «die bewusste Pflege dessen, was die Identität des Menschen ausmacht. Dies umfasst neben Aspekten wie etwa der Sprache und der Geschichte auch soziale Normen. Diese Normen sind eng verbunden mit dem Recht».[19] Senn sieht inhaltliche Parallelen zwischen kulturwissenschaftlichen Fächern, zu denen er insbesondere die Geschichte und die Anthropologie zählt, und der Rechtswissenschaft. Beide beschäftigen sich mit kulturellen Aspekten der menschlichen Identität, wobei die Rechtswissenschaft den Fokus auf die rechtlichen Normen legt. Der kulturwissenschaftliche Zugang zum Recht erfolgt über die rechtshistorische und -philosophische Grundfrage:«Warum ist das Recht, wie es ist? Wie ist es entstanden? Welches Ziel hat es?» Die Rechtswissenschaft müsse historisch-kritisch denken und ihre eigenen Theorieansätze immer wieder hinterfragen. Nur so könne eine kritische Distanz zum eigenen Fach entstehen.[20]

Aus dem Bewusstsein der Autonomie menschlicher Denkfähigkeit heraus sei ein kulturwissenschaftliches Verständnis zu entwickeln, das den Dekonstruktivismus des 20. Jahrhunderts überwinde und die Postmoderne durch inspirierenden, aber differenzierenden Blick auf die Prämoderne bereichere.[21] Kulturelle Bildung vermittle den Juristinnen und Juristen «ein legitimes Selbstwertgefühl, wenn das Rechtsstudium nicht nur die Fach-, sondern auch die Allgemein- und Charakterbildung» fordere. Dadurch werde die Verwissenschaftlichung des Rechts «zu einer wirksamen, weil nachhaltig kulturellen Leistung, die von Mensch zu Mensch» reiche. Nicht nur die äussere Bildung soll Juristinnen und Juristen von Laien unterscheiden, sondern vielmehr «ihre spezifische Verantwortlichkeit in und für die Gesellschaft.»[22] Darin sieht er den Kern des juristischen Ethos.

Die kulturwissenschaftliche Bindung und damit die Definition und wissenschaftliche Legitimation des Rechts als sinnstiftende Ordnung verfüge über eine sehr lange Tradition. Im Mittelalter sei die Rechtswissenschaft der Theologie verbunden gewesen, in der frühen Neuzeit habe sie sich am Menschenbild und der Ethik der Antike orientiert. Mit der Aufklärung begann die Rechtswissenschaft sich stärker an den Fragestellungen und methodischen Standards der Naturwissenschaften auszurichten und Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich dann das positivistische Rechtsverständnis durchgesetzt. «Im Vordergrund stand damit ein begrifflich orientiertes Recht, das als ein in sich geschlossenes System verstanden wurde. Die herkömmlichen ethischen Aspekte hatten darin keinen Platz mehr.» Die positivistische Ausrichtung begünstigte aber auch pseudowissenschaftliche Diskurse wie etwa den Sozialdarwinismus und die Rassentheorien. Dadurch sei der Mensch auch aus Sicht der Jurisprudenz auf ein genetisch determiniertes Wesen reduziert worden. So konnte sich etwa die Kriminalanthropologie, wie sie auch in Zürich um 1900 gelehrt wurde, rechtswissenschaftlich etablieren. So verkürzte sich in Ermangelung kulturwissenschaftlicher Reflexion das Interesse des Strafrechts von den Grundfragen um Verbrechen, Schuld und Strafe auf die Frage nach der zweckmässigen Behandlung «geborener Verbrecher». Marcel Senn erkennt analoge gegenwärtige Vereinnahmungen der Rechtswissenschaft durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse etwa der Entschlüsselung des genetischen Erbgutes oder durch die Systemtheorie, welche mit ihrem Denken in Systemen den Blick auf den einzelnen Menschen und seine individuelle kulturelle und ethische Bindung trübe. Das Recht sei aber vom Menschen für den Menschen gemacht. «Es ist kein System, das aus sich selbst heraus entsteht, sondern es wird vom Menschen konstruiert und ist somit Teil seiner Kultur.»[23]

Im Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte erläutert Marcel Senn den Begriff der Kulturgeschichte und zeigt deren neuere Entwicklung aus der Sozialgeschichte bis zu Bourdieus Kultursoziologie, über den französischen Poststrukturalismus von Foucault und Derrida hin zur modernen Mentalitätsgeschichte und dem Cultural Turn. Historische Wirklichkeit solle durch die kulturwissenschaftliche Perspektive in ihrer Komplexität umfassender und differenzierter rekonstruiert und aus anderen Fachperspektiven bewusster wahrgenommen werden. Kulturgeschichte werde durch dieses Bewusstmachen und Hinterfragen der vermeintlich selbstverständlichen Gegebenheiten menschlicher Existenz zu einem notwendigen Bestandteil der Rechtsgeschichte. Eine kulturhistorisch verankerte Rechtsgeschichte helfe schlummernde Nationalismen und Vorurteile, positivistische Urkundengläubigkeit und didaktisch bedingte Begriffsklauberei zu überwinden und die «Geschichtsdarstellung dadurch zu einem kulturellen Gegenstand des intellektuellen Dialogs sowie des methodologisch reflektierten fachwissenschaftlichen Diskurses zu etablieren.»[24]

Ausgewählte Forschungsgebiete und Anregungen

Durchstöbert man seine themenspezifischen rechtshistorischen Publikationen, fällt auf, dass sich nach 2007 der bis anhin kultur- und ideengeschichtliche Schwerpunkt seiner Arbeit allmählich hin zu einer wissenschaftshistorisch untermauerten Rechtsphilosophie und -theorie verschiebt. Diese Hinwendung ist einerseits auf die Emeritierung von Prof. Walter Ott zurückzuführen, welche es mit sich brachte, dass Marcel Senn zum Fachverantwortlichen für Rechtsphilosophie wurde. Andererseits lag ihm diese spätestens seit der langjährigen Befassung mit Spinoza besonders am Herzen. Marcel Senn war mindestens so sehr Rechtsphilosoph wie Rechtshistoriker.[25]

Marcel Senn gehört weltweit zu den bestens ausgewiesenen Kennern von Spinozas Werk und hat mit diversen Studien massgeblich zur Spinoza-Rezeption in der Rechtswissenschaft beigetragen.[26] Seine breite und tiefe Kenntnis der Naturrechtsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts ist ebenfalls bemerkenswert, auch wenn es jenseits von Spinoza dazu nur wenige Detailstudien gibt, so finden sich in Marcel Senns Privatbibliothek diverse Werke insbesondere von Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Johann Jakob Schmauss und Christian Thomasius mit Bearbeitungsspuren.[27]

Im Publikationsverzeichnis stossen wir abseits der Lehrbuchliteratur auch auf einzelne rechtshistorische Beiträge zum Mittelalter. Marcel Senn war vom Mittelalter und der Gotik als Kulturepoche fasziniert. Er interessierte sich besonders für die Stadt im Mittelalter als Rechtsträgerin, aber auch als sozioökonomische Einheit. Sie eignete sich als Modell zur Anwendung seines kulturhistorischen Ansatzes. Unvergessen bleibt sein Stadtführer durch das mittelalterliche Zürich von 2007.[28] Sein Interesse galt aber auch dem Reformationszeitalter, das er als Epoche kulturhistorischer Reformen schlechthin interpretierte.[29]

Ein zentrales, innovatives und wirkungsmächtiges Thema seiner rechtshistorischen Forschung beschlägt die Rechtswissenschaft unter Einfluss des Sozialdarwinismus und Rassismus im 19. und 20. Jahrhundert, das Gegenstand vielbeachteter Aufsätze in der ZRG wurde.[30] Der Weg zur Naturalisierung des Rechts führt demnach wissenschaftsgeschichtlich von Montesquieu, Comte, Gobineau und Lamarck über Darwin, Wagner und Chamberlain, rechtswissenschaftshistorisch insbesondere über Jhering, Bluntschli und von Mohl. Bereits anfangs der 1990er Jahre interessierten ihn die nationalen und rassentheoretischen Narrative. Er präparierte sexistische und antisemitische Vorurteile und deren Wege in die damalige Rechtswissenschaft. Einer seiner wichtigsten Forschungsbeiträge in diesem Kontext fokussiert die kritische Analyse der Schriften von Johann Caspar Bluntschli. Bereits seine Antrittsvorlesung als Privatdozent 1992 handelte von rassistischen und antisemitischen Elementen in dessen Rechtsdenken.[31] Es ist mehr als eine Ironie des Schicksals, dass auch sein letzter, anfangs dieses Jahres in der ZBJV erschienene Beitrag Bluntschlis Schattenseiten, insbesondere die Diskriminierung von Frauen, Juden und nicht arischen Rassen und die zögerliche Aufarbeitung dieser Themen in der jüngsten Rechtsgeschichte beleuchtet.[32] Beide Aufsätze entlarven die äusserlich modern anmutenden rechtsstaatlichen Vorstellungen des späten Bluntschli im Gefüge unverhohlenen Sexismus und Antisemitismus, wie sie sich keineswegs als typisch oder gar bezeichnend für die damalige Rechtswissenschaft relativieren lassen. Senn zeigte, dass die Gleichstellung der Juden damals zwar formal in den Gesetzen vollzogen wurde, gleichzeitig aber ein materiell segregierender und gewollt disqualifizierender Rassenbegriff fortwirkte, der im 20. Jahrhundert zugespitzt und von der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft aufgegriffen wurde. Es gelang ihm, deutlich zu machen, dass jene Entwicklung, welche gerade auch durch ein Totalversagen des Rechts und der Juristen in letzter Konsequenz den Holocaust ermöglichte, ihre treibenden Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert hatte. So konnte er eindrücklich aufzeigen, dass Rechtsentwicklungen nicht nur aus dem zeitgenössischen Kontext zu erklären sind, sondern stets auch die Vorgeschichte zu berücksichtigen ist. Wer das Recht nur in seiner gegenwärtigen oder epochalen Ausgestaltung zu begreifen versucht, wird auch bei fachübergreifender Kontextualisierung dessen Werden und damit auch dessen Wesen schwerlich verstehen können. 

Ähnlich kritisch beurteilte Senn Bluntschlis Rolle bei der Betrachtung der Frau, der ein aus ihrem Wesen notwendigerweise nachgeordneter Platz in den patriarchalen Familienstrukturen zugewiesen wurde. In naturalistischer Weise wird die Frau bei Bluntschli hauptsächlich auf emotionale Fähigkeiten reduziert, woraus soziale, wirtschaftliche und juristische Ungleichheit gegenüber den Männern resultieren musste. Marcel Senn fragte nach den strukturellen Ursachen, nach den ideologischen Wurzeln und nach den Wirkungen solch problematischer Denkmuster bis in die Gegenwart.[33] Er wandte sich kritisch gegen das tradierte, männlich geprägte Narrativ der Rechtsgeschichte. An verschiedener Stelle fordert er, die Rolle der Frauen im Recht als ein Schwerpunkt in die allgemeine Rechtsgeschichte zu integrieren und deren Bedeutung nicht nur auf Ehe- und Familienrecht oder das Wahlrecht einzugrenzen.[34] Er verknüpfte die Kritik am selektiven Geschichtsverständnis auch mit Denkern der Frühen Neuzeit und der Aufklärung wie Bodin, Hobbes oder Rousseau, aber auch Kant, die in unterschiedlichen Epochen den Frauen eine klar untergeordnete gesellschaftliche Stellung zuwiesen. Marcel Senn hielt es mit zunehmendem Alter für zwingend erforderlich, dass die Wissenschaft hier nicht schweigt oder relativiert, sondern zeitloses Unrecht erkennt, benennt und in seinen Ursachen und Wirkungen kritisch beleuchtet.[35]

Im Gegensatz zu manchen aktuellen Tendenzen in der Aufarbeitungsgeschichtsschreibung war ihm aber stets daran gelegen, dass nicht aus einer rückblickenden Besserwisser-Perspektive gleichsam mit hindsight bias heraus geurteilt wird. Auch war ihm an sauberer Differenzierung verschiedener Strömungen gelegen. Den nationalen Kulturbegriff der historischen Rechtsschule hat er beispielsweise sehr deutlich von nationalistischen Volkskörpertheorien differenziert. Seine Pionierarbeit im Bereich der Diskriminierungsrechtsgeschichte zeigte nicht nur die Ursachen von Rechtsungleichheit auf, sondern beleuchtete auch die Mehrschichtigkeit der Entwicklung in ihren Schwächen, welche zu bekämpfen er als Aufgabe gebildeter und verantwortungsbewusster Juristinnen und Juristen erkannte. Wenig abgewinnen konnte er dagegen den jüngsten Formen ideologischer und plakativer Diskriminierungsbekämpfung, etwa dem wokeism. Historisches Unrecht soll ausgeglichen werden. So setzte er sich für die Restitutionsforschung ein. Es sollte aber nicht unkenntlich gemacht werden. Verhüllungen, Übermalungen, tabuisierendes Verschweigen, Entfernungen von historischen Zeitzeugnissen aller Art waren ihm ein Graus, den er als Geschichtsklitterung geisselte. Vielmehr sollten aus heutiger Sicht fragwürdige historische Relikte mit kritischen Erklärungen versehen werden und dadurch der Aufklärung dienen. Denn aus historisch fundierter Erkenntnis müssen für die Zukunft Lehren gezogen werden, insbesondere im Sinne präventiven Erkennens und verantwortungsvollen Vermeidens von für Recht und Gesellschaft gefährlichen Entwicklungen.

In der von ihm begründeten Darstellung der Juristischen Zeitgeschichte werden viele Themen auch mit künftigem Forschungspotenzial angeschnitten, manche von geradezu erschreckender Aktualität.[36] Ich denke an das zunehmend wieder zur Disposition stehende Verhältnis von Recht, Macht und Gewalt in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Auch die völkerrechtliche Dimension dieser Thematik lässt sich angesichts der aktuellen internationalen politischen Entwicklungen wesentlich aus rechtshistorischer Perspektive erklären und beurteilen. Waren Friedenssicherung und Menschenrechte in den Nachkriegsjahren die internationalrechtlichen Zukunftsthemen schlechthin, bewegen wir uns heute darin deutlich sicherer in einem zeitgeschichtlichen Begründungskontext. Eine kritische Weiterentwicklung von Maines These «From Status to Contract» aus einer elitehistorischen Betrachtung birgt noch immer Potenzial. Anthropologische rechtshistorische Ansätze sind längst nicht fertig entwickelt. Diese lassen sich einsichtsreich mit Studien zur Rechtsgeschichte der Rassenlehren, des Rassismus, des Kolonialismus und Postkolonialismus sowie der Geschlechter- und Diversitäts- bzw. Minderheitengeschichte verbinden – und dies in solider Weise, die auf ideologische Selbstvergewisserung und Kritik als Selbstzweck verzichten kann. Dies gilt auch für die historische Aufarbeitung von Diskriminierung, Entrechtung, Ausbeutung und Missbrauch, welcher rechts- und justizhistorische Analysen zu solideren Fundamenten verhelfen können. Ich sehe in einer rechtswissenschaftlich verankerten differenzierten Beurteilung einen wissenschaftlichen Mehrwert für die gesellschaftspolitische Aufarbeitung der genannten zeitgeschichtlichen Missstände. Deren wissenschaftliche Untersuchung bedarf zwingend der Integration der zeitgenössischen Rechtsverhältnisse. Nur so kann festgestellt werden, ob ein allfälliger Unwert historischen Verhaltens etwa von Akteuren in damaligen Institutionen auch als historisches Unrecht zu bewerten ist, was bei emotionalen Themen mit überlebenden Betroffenen, ideologischen und liability-getriebenen Einflüssen zu einer rechtswissenschaftlich verankerten Einordnung verhilft. Diese kann sowohl als Grundlage für weiterführende Forschung, als auch als Entscheidungsbasis einer selbstkritischen politischen Aufarbeitung dienen. Sehr viel Potenzial bergen sodann die Schnittflächen von Rechtsgeschichte und Wirtschaft, Rechtsgeschichte und Unternehmensgeschichte sowie Rechtsgeschichte und Technik. Gerade mit Bezug auf die Schweizer Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besteht hier noch viel Forschungsbedarf. Last not least möchte ich auf das gigantische Forschungspotenzial der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen hinweisen.[37] Marcel Senn hat das Grossprojekt während 15 Jahren als Stiftungsrat mit grossem Engagement unterstützt.


Abschliessende Würdigung

Marcel Senn war ein enorm engagierter Lehrer, der unzähligen Studierenden die Rechtsgeschichte als essentielles juristisches Grundlagenfach vermittelte und ihnen dadurch erst ermöglichte, das Recht in seiner gewachsenen Kernsubstanz zu verstehen. Er war aber auch ein sehr innovativer und produktiver Forscher mit einem exzellenten wissenschaftlichen Leistungsausweis. Marcel Senn hat Rechtsgeschichte nie als l’art pour l’art betrieben. Fast alle seine rechtshistorischen Publikationen sind von aktueller rechtswissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer oder fachübergreifender Relevanz.

Marcel Senn bleibt uns aber nicht nur als Lehrer, Förderer und Forscher in Erinnerung, sondern auch als geradliniger, liebenswürdiger und herzlicher Mensch. Letztere Eigenschaften in Verbindung mit langjähriger Berufserfahrung in Organisationen ausserhalb der Universität, verhalfen ihm zu beachtlichen Führungseigenschaften. Von 2006 bis 2010 amtete er als Prodekan Lehre und anschliessend als Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. In beiden Funktionen meisterte er grosse Herausforderungen. Sein kollegialer, effizienter und zielgerichteter Führungsstil wurde allgemein sehr geschätzt.[38] Bei allem Verständnis für die Bedeutung wirkungsorientierter Organisation verfügte er stets über volle Integrität und Verantwortungsbewusstsein für das Wesen der Universität, weshalb er auch den «Zürcher Appell» für den Schutz der wissenschaftlichen Unabhängigkeit mit initiierte.

Was war Marcel Senns Erfolgsrezept auf eine Kurzformel gebracht: Alles was er anpackte, tat er zielgerichtet. Er arbeitete immer fokussiert, leidenschaftlich und aufrichtig, stets darauf bedacht, Probleme zu klären und Lösungen bzw. konkrete Antworten auf Forschungsfragen zu liefern. Leistung war für ihn immer Arbeit pro Zeiteinheit, aber auch Erzeugung von Erkenntnis, neuen Einsichten und Impact. Er wollte die ihm zur Verfügung stehende Zeit nutzen, um etwas zu bewegen, Dinge zu verändern. Dieser Wille war die treibende Kraft seines Lebenswerks. Marcel Senn hat uns reich beschenkt und viel Kostbares hinterlassen. Dafür wollen wir ihm herzlich danken. Sein Werk wird auch in Zukunft all jenen wertvolle Dienste erweisen, die erkennen, dass sich Recht, Ethik, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft nur fachübergreifend und historisch-dynamisch verstehen und in umfassender Verantwortung nachhaltig fruchtbar machen lassen.

Lukas Gschwend, St. Gallen



 * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht an der Universität St. Gallen (HSG). Kontakt: lukas.gschwend@unisg.ch

[1] Vgl. Marcel Senn, Recht – Gestern und Heute: Zentrale Themen einer Juristischen Zeitgeschichte. Zürich/Basel/Genf: Schulthess 2002. Ferner: Was ist juristische Zeitgeschichte? Dialog über juristische Zeitgeschichte, zusammen mit Thomas Vormbaum, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 6 (2004/2005), hrsg. v. Thomas Vormbaum, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2005, S. 219–232.

[2] Marcel Senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss: mit Bildern, Schemen, Register, Chronologie und Biographien, Zürich: Schulthess Polygraphischer Verlag und Wien: Verlag Österreich 1997.

[3] Vgl. Wolfgang Schild, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit: vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung. 1000 Jahre Grausamkeit: Hintergründe, Urteile, Aberglaube, Hexen, Folter, Tod, Hamburg: Nikol, 2002.

[4] Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte: Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, unter Mitwirkung von Adolf Fink, hrsg. von Hans-Jürgen Becker, Gerhard Dilcher et al., Aalen: Scientia Verlag 1976.

[5] Vgl. u.a. Marcel Senn, Wissenschaftsgeschichte als Mittlerin zwischen Öffentlichkeit und Recht, in: Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (Rg) 19 (2011), S. 300–308.

[6] Marcel Senn, Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel. Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte. Zürich/Basel/Genf: Schulthess 1982, (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 6).

[7] Zur Unterscheidung vgl. Marcel Senn, Kulturgeschichte und Rechtsstudium, in: Alois Niederstätter/Bernd Marquardt, Das Recht im kulturgeschichtlichen Wandel. FS für Karl Heinz Burmeister zur Emeritierung, Konstanz: UVG Verlagsgesellschaft mbH 2002, S. 341–353, 342.

[8] Vgl. dazu Marcel Senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss, 4. A. Zürich: Schulthess 2007, S. 1.

[9] Vgl. ebd., S. 1.

[10] Vgl. ebd., S. 2.

[11] Vgl. ebd., S. 2.

[12] Vgl. ebd., S. 3.

[13] Vgl. u.a. Hiram Kümper, Rezension zu: Marcel Senn: Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss. Mit Bildern, Karten, Schemen, Registern, Biographien und Chronologie. 4., neu bearb. u. erw. Aufl. Zürich, Schulthess, 2007, https://www.infoclio.ch/de/rez?rid=17680. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 3, 2008, S. 373f.

[14] Vgl. Andreas Thier, Perspektiven rechtsgeschichtlicher Forschung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Recht – Jurisprudenz – Wissenschaft. Festgabe aus Anlass des Schweizerischen Juristentags 2025 in Zürich, hrsg. v. Tilmann Altwicker/Ulrike Babusiaux/Helmut Heiss/Yoan Hermstrüwer/Andreas Thier, Zürich: Schulthess 2025, S. 389–415, 404f.

[15] Marcel Senn, Wozu sind Juristen auszubilden? – Über den Sinn eines juristischen Studiums nach der Bologna-Reform, in: Rechtskultur. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 1 (2012) Heft 1, S. 109–119, 118.

[16] Vgl. Marcel Senn, Kulturgeschichte und Rechtsstudium, S. 343.

[17] ebd.

[18] Vgl. ebd., S. 344.

[19] Vgl. Adrian Ritter, Recht und Kultur. Interview mit Prof. Dr. Marcel Senn, in: UZH News vom 06.07.2007, Das Recht und die Kultur | UZH News | UZH (besucht am 5. Juni 2025)

[20] Vgl. ebd.

[21] Vgl. Marcel Senn, Kulturgeschichte und Rechtsstudium (Fn. 7), S. 347f.

[22] Vgl. ebd., S. 351.

[23] Vgl. ebd.

[24] Vgl. Marcel Senn, Kulturgeschichte, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 2. A., Bd. 3, Berlin 2016, S. 309–311.

[25] Insbesondere sein monumentales Lehrbuch einer globalen Rechts- und Sozialphilosophie zeugt von dieser Entwicklung. Vgl. Marcel Senn, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie. Historische Fundamente der europäischen, nordamerikanischen, indischen sowie chinesischen Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, St. Gallen/Zürich: DIKE 2017.

[26] Anstelle diverser Beiträge sei hier auf seine Habilitationsschrift hingewiesen: Marcel Senn, Spinoza und die deutsche Rechtswissenschaft. Eine historische Studie zum Rezeptionsdefizit des Spinozismus in der Rechtswissenschaft des deutschsprachigen Kulturraumes, Zürich/Basel/Genf: Schulthess 1991 (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, 22).

[27] Vgl. etwa Marcel Senn, Pietas und Vernunftrecht. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des 17. und 18. Jahrhunderts sowie unserer Gegenwart, in: Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Jens Eisfeld, Martin Otto, Louis Pahlow, Michael Zwanzger, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, S. 81–100 sowie Marcel Senn, War Thomasius Spinozist? – Zur Spinozismus-Rezeption an den brandenburg-preussischen Universitäten (zusammen mit Susanne Raas), in: Christian Thomasius (1655–1728), Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hrsg. v. Heiner Lück, Hildesheim/Zürich/New York: 2006, S. 50–73. Ferner Marcel Senn, Die Veränderung des Menschenbildes vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Grundlagenforschung und deren Auswirkungen auf die Rechtstheorie der frühen Neuzeit, in: Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages, hrsg. v. Rolf Lieberwirth, Heiner Lück, Baden-Baden: Nomos 2008, S. 400–421.

[28] Vgl. Marcel Senn, Das mittelalterliche Zürich. Ein Stadtrundgang (in Zusammenarbeit mit ELSA [European Law Students Association] Zürich; Redaktion Barbara Fritschi), Zürich: Dike 2007 und ders., Eine Zeitreise durchs mittelalterliche Zürich, in: Grenzüberschreitungen und neue Horizonte: Beiträge zur Rechts- und Regionalgeschichte der Schweiz und des Bodensees, hrsg. v. Lukas Gschwend, Zürich/St. Gallen: Dike 2007, S. 331–342 (= Europäische Rechts- und Regionalgeschichte, 1). Ferner: Ökonomik im Mittelalter: Eine Zeitreise mit modernen mikroökonomischen Theorien, hrsg. v. Bruno Staffelbach, Marcel Senn, Zürich: Chronos 2002.

[29] Vgl. dazu die Sammelschrift Recht und Rechtswissenschaft zur Zeit der Reformationen und der Renaissance, hrsg. v. Heiner Lück, Timo Fenner, Anne-Marie Heil, Rainer Rausch und Marcel Senn, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021.

[30] Vgl. dazu Marcel Senn, Die Verrechtlichung der Volksgesundheit im Zeichen der Hygiene- und Rassenlehren, in: ZRG.GA 116 (1999), S. 407–435.

[31] Vgl. Marcel Senn, Rassistische und antisemitische Elemente im Rechtsdenken von Johann Caspar Bluntschli, in: ZRG.GA 110 (1993), S. 372–405.

[32] Vgl. Marcel Senn, Der Umgang der neueren Rechtsgeschichte mit J.C. Bluntschlis Schattenseiten: Diskriminierung von Frauen, Juden und nicht arischen Rassen, in: ZBJV 3/2025, S. 121–142.

[33] Vgl. Marcel Senn, Kurze Dankesrede und kritische Selbstbetrachtung, in: Zur kritischen Funktion von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, Symposium zu Ehren von Marcel Senn, hrsg. v. Ulrike Babusiaux, Zürich/Basel/Genf: Schulthess 2020 (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 72), S. 5–15, 8f.

[34] Vgl. ebd., S. 6-8.

[35] Vgl. ebd., S. 8f.

[36] Vgl. hier die einzelnen Kapitel von Marcel Senn/Lukas Gschwend, Rechtsgeschichte II – Juristische Zeitgeschichte, Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 3. neubearbeitete Aufl. 2010. 

[37] https://www.ssrq-sds-fds.ch/online

[38] Vgl. dazu Brigitte Tag, Einführung zu Werk und Person, in: Zur kritischen Funktion von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie (Fn. 33), S. 1–4.